Den Aufsatz kommentieren "Ermächtigungsgesetze mit Zeitzünder"Gegenwartsbezüge der Notstandgesetzgebungvon Marcus Hawel (sopos) "Es ist, als wenn wir die Diktatur gar nicht brauchen, weil sich der Parlamentarismus schon selber so aushöhlen läßt, daß es aufs Gleiche hinausläuft." - Michael Jäger im "Freitag" vom 9. Mai 2008 Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre bestimmte den öffentlichen Diskurs die Behauptung, Deutschland könne nunmehr auf eine 50jährige demokratische "Erfolgsgeschichte" zurückblicken und sei endgültig ein normaler westlicher Nationalstaat geworden. Der "Westen" fungierte als Chiffre für Freiheit, Demokratie, Republikanismus, Liberalität, Zivilität, Rechtsstaatlichkeit und freie Marktwirtschaft. Phillip Gassert spricht diesbezüglich von einer "sinnstiftenden Meistererzählung"[1]. Das Gerede von erfolgreich praktizierter Demokratie, sollte einen mißtrauisch machen. Vor 40 Jahren wurden am 30. Mai 1968 im Bundestag die Notstandsgesetze verabschiedet. Am 24. Juni traten sie in Kraft. Hans-Jürgen Krahl, einer der wortgewaltigsten Sprecher des SDS und der vermutlich begabteste Doktorand von Theodor W. Adorno, hatte allerdings nicht die weitsichtigste Einschätzung der Lage, als er drei Tage vor der Verabschiedung der Notstandsgesetze auf einer Protestkundgebung des hessischen DGB auf dem Römerberg in Frankfurt erklärte, die Demokratie in Deutschland sei an ihr Ende gekommen: "Trotz der massenhaften Proteste aus den Reihen der Arbeiter, Studenten und Schüler, trotz der massiven Demonstrationen der APO (...) sind dieser Staat und seine Bundestagsabgeordneten entschlossen, unsere letzten demokratischen Rechtsansprüche in diesem Land auszulöschen. Gegen alle diejenigen (...), die es künftig wagen werden, ihre Interessen selbst zu vertreten, werden Zwang und Terror das legale Gesetz des Handelns der Staatsgewalt bestimmen."[2] Wenn man Krahls Aussage für wahr nimmt, hätte man sogleich Artikel 20, Absatz 4 des Grundgesetzes in Anschlag bringen und gewaltsamen Widerstand leisten können. Absatz 4 wurde als Zugeständnis gegenüber der APO im Zuge des ausgehandelten Kompromisses der Notstandsgesetzgebung dem Artikel 20 hinzugefügt. Dort wird jedem Deutschen als ultima ratio ein Widerstandsrecht eingeräumt, das in dem Augenblick zum Tragen kommen kann, wenn in Deutschland die freiheitliche Grundordnung, also Rechtsstaat und soziale Demokratie in ihren Grundfesten beseitigt werden. Aber Krahls Einschätzung war überzogen, gleichsam jenes "Quentchen Wahn" beigemengt, welches Adorno allgemein in den Studentenprotesten der späten 60er Jahre zu erkennen glaubte, ohne zugleich die "Meriten der Studentenbewegung" in Abrede zu stellen, die darin bestanden, "den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen"[3] zu haben. Mit dem Inkrafttreten der Notstandsgesetze war nicht etwa gewaltsamer oder gar terroristischer Widerstand als Kampf gegen den autoritären oder gar faschistischen Staat legitimiert, wie man vielleicht irreführend aus Krahls überzogener Analyse hätte schlußfolgern können. Im Sinne des ins Grundgesetz Artikel 20, Absatz 4 aufgenommenen Widerstandsrechts war nunmehr aber eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber den Repräsentanten des Staates und seinen herrschenden Eliten erforderlich, zeigt doch eine Analyse der Entwicklung von Gesellschaftssystemen, wie man beim 1985 verstorbenen Marburger Politik- und Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth nachlesen kann, "daß es viel wahrscheinlicher ist, daß die Demokratie nicht von ›unten‹, sondern von ›oben‹, durch die Organisation des Staates selbst, gefährdet oder aufgelöst wird".[4] Auch Adorno hatte diese wahrscheinlichere Option im Blick, als er in seinem Essay "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?" das "Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie" als gefährlicher für die Demokratie hinstellte als das Aufkommen einer neofaschistischen Bewegung.[5] Oskar Negt, der damals Assistent von Jürgen Habermas war, befindet sich ebenfalls auf dieser analytischen Linie. In seiner Rede vom 13. April 1968 auf dem Römerberg sagte er: "Wer die Sicherung der Freiheit dem Staat, seinen Beauftragten, den Großinstitutionen und machtvollen Organisationen überläßt, ist das Opfer einer fatalen Illusion: Er glaubt an die Lebensfähigkeit einer Demokratie ohne Demokraten."[6] - Unter den deutschen, restaurierten Nachkriegsverhältnissen hatte man sich darauf beschränkt, im Rahmen eines bis ins Detail gehenden Formalismus die Institutionen des politischen Systems den bestehenden kulturellen Bedingungen im Land anzupassen, also demokratische Institutionen zu schaffen, die so gefestigt sein sollten, daß sie auch ohne Demokraten funktionieren. In diesem Sinne ließe sich wie Karl Loewenstein von einem "demoautoritären" Staat sprechen. Nach den gescheiterten RevolutionenWenn man bis zu den späten 60er Jahre überhaupt schon von einer "erfolgreich praktizierten Demokratie" sprechen konnte, dann lediglich seitens der (außerparlamentarischen) Opposition aus Gewerkschaften, Studenten und linkssozialistischen Intellektuellen vor allem aus der 58er Generation, zu deren prominentesten Vertretern neben Abendroth und Jürgen Seifert auch Peter von Oertzen, Klaus Meschkat und Oskar Negt zählen. Diese Opposition war die "Triebkraft der Demokratie"[7]. Erst von der APO der 60er Jahre ging ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel aus, den man als soziokulturelle Neugründung der Bundesrepublik verstehen und mit Habermas als "Fundamentalliberalisierung" bezeichnen kann: Ab hier paßten sich in der Bundesrepublik die kulturellen Bedingungen an die als "westlich" apostrophierten Demokratieprinzipien an. Die demokratischen Institutionen füllten sich im Zuge des "Marsches durch die Institutionen" mit Demokraten. Die Schulpädagogik wurde reformiert, die Gerichtssprechung liberalisierte sich, und in der Politik kündigte Willy Brandt an, "mehr Demokratie" zu wagen. Diese Form der zivilpolitischen Normalisierung bezeichnet der Historiker Anselm Doering-Manteuffel als nachhaltigen Effekt der "Westernisierung" der 1950er und 60er Jahre,[8] und verkennt damit gleichzeitig die Eigenleistung der linken außerparlamentarischen Opposition. Die linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer hatte eine entscheidende Brückenfunktion für die Proteste der späten 60er Jahre. Davon wird in der Öffentlichkeit so gut wie gar nicht gesprochen. Der Politikwissenschaftler Gregor Kritidis hat diese eklatante Wissenslücke in wissenschaftlich fundierter Form geschlossen. Seine jüngst im Offizin Verlag (Hannover) erschienene Studie "Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer" ist ein Standardwerk, das in keiner linken Privatbibliothek fehlen darf, dessen Besitzer sich für die Frühgeschichte der Bundesrepublik interessiert. Resümierend stellt Kritidis fest, daß in der Nachkriegszeit von der Adenauer-Ära bis zu den späten 60er Jahren die Konsequenzen, die aus dem Scheitern der Weimarer Republik und dem Übergang erst in die bürokratische, dann in die faschistische Diktatur gezogen wurden, im Kontext des Kalten Krieges mit deutlichen Mängeln behaftet waren und die linkssozialistische Opposition der 50er Jahre sich wegen des antikommunistischen Klimas gegen den restaurativen Geist nicht durchsetzen konnte: "Zwar gelang es, die soziale und politische Polarisierung durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu überwinden und die wirtschaftliche Entwicklung durch keynesianisch inspirierte Maßnahmen zu stabilisieren. Die demokratische Partizipation wurde jedoch unter antikommunistischen Vorzeichen auf eine abstrakte Staatsbürgerlichkeit beschränkt."[9] Abstrakte Staatsbürgerlichkeit bedeutet Isolierung und Fernhalten des Bürgers vom staatlichen Gesamtzusammenhang. So ist im wesentlichen der Obrigkeitsstaat charakterisiert: gleichsam als Absence der gegenseitigen Durchdringung von Staat, Gesellschaft und Individuum. Wo aber diese gegenseitige Durchdringung existiert, ist sie Ergebnis einer erfolgreich verlaufenen bürgerlichen Revolution. Die Untertanen haben aus der Gesellschaft heraus den Staat erobert und damit das konfrontative Verhältnis zwischen Staat und Individuum beendet. Während dieses Aktes der politischen Befreiung verwandelten sich der Untertan in einen Staatsbürger und der Feudalstaat in einen bürgerlichen Staat. In Deutschland lief das zum einen verspätet und zum anderen fehlgeleitet, jedenfalls nicht erfolgreich, ab. Der Obrigkeitsstaat setzte sich fest, mündete nach gescheiterten Revolutionen von 1848/49 bzw. 1918/19 und erster Republik in den Faschismus und wurde nach 1945 restauriert, was die Bedingungen für die linkssozialistische Opposition, gegen die restaurativen Weichenstellungen - gegen die Wiederbewaffnung, NATO-Beitritt und gegen die seit 1958 geplante Notstandsgesetzgebung - erfolgreich vorzugehen, nahezu unmöglich machte: "das politisch durchgesetzte autoritär-obrigkeitsstaatliche Klima sorgte [in der Bevölkerung, M. H.] für eine passive Akzeptanz zu den grundlegenden Weichenstellungen der Nachkriegszeit".[10] Einige "Giftzähne" gezogenAuch der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung, der in den späten 60er Jahre in den massenhaften Protesten der APO kulminierte, muß als eine Niederlage bewertet werden, wenngleich, wie der Notstandsexperte Jürgen Seifert in seiner Rede am 28. Mai 1968 in Darmstadt sagte, die Opposition "in dem jahrelangen Kampf gegen die Vorhaben der Bundesregierung Erfolge erzielt [hat]. Wir haben Entschärfungen durchsetzen können, aber wir sollten nichts beschönigen. Es ist eine Niederlage."[11] Wesentliche "Giftzähne" waren den Entwürfen zur Notstandsgesetzgebung von der Opposition gezogen worden. Die Einschränkung der Grundrechte kann nur in klar abgesteckten Grenzen erfolgen. Die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts bleibt auch im Ausnahmezustand unangetastet. Der Notstand bleibt unter parlamentarischer Kontrolle. Auch wenn es sich um ein verkleinertes "Notparlament" handelt, ist der Ausnahmezustand nicht die "Stunde der Exekutive", wie es in den ersten Gesetzesentwürfen vorgesehen war. Am wichtigsten aber ist die Aufrechterhaltung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts. Der von Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) 1960 vorgelegte erste Entwurf sah vor, daß die Koalitionsfreiheit im Falle eines Notstands "über das sonst vorgesehene Maß" hinaus eingeschränkt werden können soll. Als Beispiel für eine konkrete Notstandssituation bezog sich der Minister auf eine Rede des IG-Metall-Chefs Otto Brenner, der gesagt hatte: "Wir werden nicht vor der Anwendung des politischen Streiks zurückschrecken, wenn es gilt, die Demokratie zu verteidigen."[12] Wenn die Verteidigung der Demokratie mit Hilfe der Koalitionsfreiheit als Notstandsfall angesehen wird, zeigt das die historische Parallele zum Scheitern der Weimarer Republik. Damals wurde mit Hilfe des Artikels 48 der Weimarer Verfassung die Machtübertragung an Adolf Hitler auf den Weg gebracht, indem vor allem die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterbewegung zerschlagen wurde, die den Übergang in die faschistische Diktatur hätte verhindern können.[13] Auch der Nachfolger von Gerhard Schröder im Amt des Innenministers, Hermann Höcherl (CDU), brachte klar zum Ausdruck, daß die Notstandsgesetzgebung gegen die Kampfkraft der Gewerkschaften gerichtet ist und in Zeiten ökonomischer Krisen als ein Machtinstrument zur Disziplinierung der Arbeiterklasse genutzt werden solle: "Soweit sich die Gewerkschaften im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen und gesetzlichen Rechte halten, ist gar nichts geplant. Es ist aber leider so (...), daß es Vorfälle gibt, bei denen die Disziplin nicht so gehandhabt werden kann, wie die Gewerkschaften dies zweifellos selber wollen. Wir sind ja mit der Haltung der Gewerkschaften sehr zufrieden. Aber wir sind in einer wirtschaftlichen Blüte, seit Jahren, und wenn nun andere Umstände kommen und die Menschen anders reagieren? Das kann ich nicht als unmöglich auslassen."[14] Insofern ist es schon auch ein Teilerfolg der APO gewesen, wenn mit den am 24. Juni 1968 in Kraft tretenden Notstandsgesetzen in Artikel 9, Absatz 3 folgender Satz eingefügt wurde: "Maßnahmen nach den Artikeln 12 a, 35 Absatz 2 und 3, Artikel 87 a Absatz 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden."[15] Klassenkampf um VerfassungDer Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung war in den Worten des Politikprofessors Joachim Perels eine "nachholende Aneignung des Grundgesetzes": "Die Verknüpfung der Konstituierung des Grundgesetzes mit Elementen des unmittelbaren Volkswillens, die 1949 noch fehlte und durch die aktive Beteiligung der Bevölkerung an den ersten allgemeinen Wahlen des westdeutschen Teilstaates nur implizit ersetzt wurde, bildete sich im gewissen Sinne in der praktischen Kritik an den Notstandsplänen der von der CDU/CSU geführten Bundesregierung heraus: in der Verteidigung der diktaturfeindlichen Prinzipien der Verfassung."[16] Insofern war der Kampf um die Notstandsgesetzgebung auch ein Lehrstück für den "Kampf um Verfassungspositionen".[17] Seiferts Einschätzung hinsichtlich der Gefahr, die sich aus der Verabschiedung des Kompromisses ergab, unterschied sich wesentlich von der Hans-Jürgen Krahls. Während dieser von der Manifestation des autoritären Staates ausging, sprach Seifert von "Ermächtigungsgesetzen mit Zeitzünder": "Das Gefährliche der Notstandsgesetze ist, daß diese Gesetze nicht übermorgen unmittelbar und für jedermann sichtbar, die politische Wirklichkeit der Bundesrepublik verändern."[18] Zunächst aber trifft aus der Retrospektive von 40 Jahren nach Verabschiedung der Notstandsgesetze zu, daß sich die Bundesrepublik nicht in einen autoritären Staat verwandelte, sondern politisch und kulturell liberalisierte: "Erst durch die großen gesellschaftspolitischen Konflikte der 60er Jahre entledigte sich die Bundesrepublik ihrer starken obrigkeitsstaatlichen Überhänge und wurde zu einer Demokratie von Demokraten."[19] Die politisch-kulturelle Neugründung der Bundesrepublik hatte aber keineswegs auch die Aufhebung der zentralen gesellschaftspolitischen Konflikte zur Folge gehabt, wie Kritidis anmerkt. Diese zentralen "gesellschaftspolitischen Konflikte" geben dem "Kampf um Verfassungspositionen" eine permanent notwendige Virulenz. Seifert schreibt 1974: "Der Kampf um Rechtspositionen wird heute entscheidend geprägt durch veränderte Verwertungsbedingungen des Kapitals in allen westlichen Industrieländern. Wachstums- und Profitraten sinken. Der Konkurrenzkampf nationaler und internationaler Kapitalfraktionen wird stärker. Es gibt Strukturkrisen in bestimmten Industriezweigen und eine zunehmende Verlagerung von Produktion in bisher unterentwickelt gehaltene Länder. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit, zunehmende Rationalisierung und intensivere Ausnutzung der Arbeitskraft jedes einzelnen."[20] Diese damals von Seifert konstatierten neuen Entwicklungen veranlaßten ihn, den Kampf um Verfassungspositionen für die Zukunft als einen defensiven Kampf auszurichten. "Ob und in welcher Weise es möglich sein wird, diesen Defensivkampf offensiv zu wenden, ist in jedem Einzelfall zu prüfen. Es wird bei diesem Kampf jedoch mehr denn je darauf ankommen, die Faktoren beim Namen zu nennen, die der Kapitalismus für diesen Verfassungskampf setzt."[21] Weil der Kapitalismus notwendig ein prozessierender Widerspruch ist, bleibt Klassenkampf eine unabänderliche Realität. Dieser Klassenkampf findet seinen Ausdruck auf der verrechtlichten Ebene. Das ungepflegte, bloß vertraglich festgehaltene Recht hat eine Halbwertszeit und wird nicht selten in dem Augenblick gebrochen, wenn es auf das Recht ankommt. Eine Verfassung muß wie eine Stadtmauer verteidigt werden, heißt es schon bei Heraklit. Verfassungen sind gemäß Abendroth ein Kampfboden auf dem sich die verbrieften Freiheiten besser gegen Angriffe der herrschenden Eliten verteidigen und erweitern lassen. Da diese Angriffe gegen die Freiheiten in dem Augenblick nicht aufhören, in dem sie verfassungsrechtlich verankert sind, müssen sie in jedem Augenblick, gleichsam unablässig, verteidigt werden. Die Verfassung stellt insofern eine Demarkationslinie im Klassenkampf dar. Diese Linie ist mehr oder weniger permanent politisch umkämpft; wird sie verschoben, vollzieht sich das nicht selten durch eine Regelverletzung, die eine neue Regel zustande bringt. Von der Regelverletzung geht die normative Kraft des Faktischen aus, die eine Veränderung der Verfassungswirklichkeit, d. h., der Auslegung des verrechtlichen Rechts zur Folge hat, wenn keine Gegenwehr erfolgt. Insofern sind die in der Verfassung verankerten Notstandsgesetze wie eine Zeitbombe, die im Falle einer gesellschaftlichen Großkrise verheerenden Schaden an der Demokratie anrichten können, da sie dem Staat und der herrschenden Klasse in einer Situation Machtmittel in die Hand geben, in der die Kontrolle des Staates durch die gesellschaftlichen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates wichtiger wird als in sogenannten Friedenszeiten, um die "drohende Verselbständigung der staatlichen und bürokratischen Machtapparate und deren Instrumentalisierung für die Interessen der herrschenden Klassen auf Kosten der Bürgerrechte in Grenzen [zu halten]."[22] Umwandlung in autoritären StaatDie durch 1968 angestoßene Fundamentalliberalisierung der Bundesrepublik unterliegt seit 1989/90 einer rückläufigen Tendenz, die seit einigen Jahren nunmehr ganz offen sichtbar ist. Zum einen hat es damit zu tun, daß die 68er altersbedingt überall in Rente gehen.[23] Aber verärgert hatte Negt 1995 auch festgestellt, daß sich auffallend viele aus dieser Generation von jenen Positionen distanzierten, für die sie sich einst hatten schlagen lassen. Negt nennt diese Form von Opportunismus die "Geisteskrankheit der Intellektuellen", der für ihn den Rang eines kulturellen Skandals einnimmt, weil das Konvertitentum im vorauseilenden Gehorsam oder gar willentlich entstehe. Er schreibt: "Wo diese ihren Eigensinn, die bohrende und widerständige Kraft ihrer Entwurfsphantasien einbüßen, werden sie zu abrufbaren Legitimationsproduzenten mit beschleunigten Häutungen, und am Ende bleibt nur die Haut übrig, die man selbst zu Markte tragen muß."[24] Wenn von Rückläufigkeit die Rede ist, dann meint das den Exodus der Demokraten aus den Institutionen. Aber auch allgemein in der Bevölkerung schwindet das rechtsstaatliche Bewußtsein, wie sich als zusammenfassender Befund aus einer empirischen Studie von Klaus Ahlheim und Bardo Heger entnehmen läßt,[25] gleichsam als Nebenwirkung zur Anhebung des Nationalstolzes der Deutschen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erscheint momentan als eine der letzten rechtsstaatlichen Bastionen. Es steht in der Öffentlichkeit unter Beschuß. Wolfgang Hoffmann-Riem, Professor für Öffentliches Recht in Hamburg und seit 1999 Nachfolger von Dieter Grimm am BVerfG, erklärte nach seinem Ausscheiden im April 2008, daß die Bundesregierung auf dem Gebiet der inneren Sicherheit zu viele Eingriffe zu Lasten der Freiheit vornehme, die zudem einer verfassungsrechtlichen Überprüfung seitens Karlsruhe nicht standhalten. Otto Schily und Wolfgang Schäuble kritisierten als Bundesinnenminister die rechtsstaatliche Urteilssprechung des BVerfG - etwa zum Großen Lauschangriff vom 3. März 2004 oder zum Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 2006, das den Abschuß von Passagierflugzeugen, die von Terroristen zu Zwecken eines Anschlages gekapert werden, ermöglichen sollte. Das Bundesverfassungsgericht trage in letzter Instanz die Verantwortung, wenn in Deutschland eine gefährliche Sicherheitslücke hinsichtlich der terroristischen Gefahrenabwehr entstehe. Hoffmann-Riem erklärt in der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. April 2008 selbstbewußt, daß niemanden im BVerfG die Kritik der Minister interessiert habe: "Die Kritik wurde wahrgenommen und hat uns in unserem Selbstverständnis als unabhängige Richter bestärkt."[26] Aber was nützt es, wenn die Urteile des BVerfG von der Bundesregierung ignoriert oder umgangen werden? Die Äußerung von Verteidigungsminister Franz Josef Jung, von Terroristen zu Zwecken eines Anschlages gekaperte Passagierflugzeuge dennoch abschießen zu lassen, indem die Bundesregierung dann eben den außergesetzlichen Notstands ausrufe, zeigt, wie stark der Rechtsstaat unter Beschuß gerät. Der Verfassungsrechtler Hoffmann-Riem sieht ausdrücklich die Gefahr, daß in einer Situation, in der sich die Bundesregierung mit einer "diffusen Gefahrenlage" wie dem globalen Terrorismus seit den Anschlägen vom 11. September 2001 beschäftigt, die Politik auf das Feld der Prävention gezerrt wird und dadurch rechtsstaatliche Standards zwangsläufig der Erosion ausgesetzt sind. Innenminister Schäuble halte die Öffentlichkeit "mit immer neuen Schreckenszenarien und neuen Vorschlägen in Atem, ohne abzuwarten, was die vielen schon erfolgten Änderungen bewirken".[27] Dieser Aktionismus deutet auf eine Instrumentalisierung des Terrorismus hin zu dem Zweck, die Verfassungswirklichkeit im Sinne eines bürgerlich-autoritären Souveränitätsbegriffs zu verändern. Nach Carl Schmitt ist Souverän, wer über den Ausnahmezustand verfügt. Dieselbe Normalisierungsstrategie konnte zuvor bereits in der Außenpolitik erfolgreich praktiziert werden, indem die Verteidigungsminister Volker Rühe, Rudolf Scharping und Peter Struck der Reihe nach und im Gespann mit den Außenministern Klaus Kinkel und Joseph Fischer die Krisen und Bürgerkriege in der Welt, vor allem im auseinanderbrechenden Jugoslawien sowie in Afghanistan, nutzten, um die deutsche Außenpolitik kriegsfähig zu machen.[28] Jüngst wartete die CDU/CSU mit der Idee eines "Nationalen Sicherheitsrates" nach dem Vorbild der Sicherheitspolitik der USA auf. Damit sollte ein Gremium geschaffen werden, vermöge dessen die Bundesregierung ihre Machtbefugnisse gegenüber dem Parlament erweitert. Michael Jäger merkte im "Freitag" vom 9. Mai 2008 dazu an: "Eine solche Logik würde man eher den Apologeten eines Militärregimes zutrauen. Es ist, als wenn wir die Diktatur gar nicht brauchen, weil sich der Parlamentarismus schon selber so aushöhlen läßt, daß es aufs Gleiche hinausläuft."[29] Müssen wir davon ausgehen, daß die Union bereits auf einen terroristischen Anschlag wartet, um sicherheitspolitisch bürgerlich-autoritär die Republik zu verändern? Soviel ist real an Johannes Agnolis Begriff der "Involution", mit dem er die schleichende "Transformation der Demokratie"[30] analysierte, die sich in einen autoritären Staat verwandelt, ohne die demokratische Hülle abzustreifen. "Involution" stellt die Gesellschaft vor ein schwieriges Problem: Wenn sich schleichend ein autoritärer Staat aus den demokratischen Institutionen heraus - ohne Notstandssituation - manifestiert, ab wann kann man dann eigentlich den qualitativen Sprung feststellen? Wie leistet man dagegen effektiven Widerstand? Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen geben Grund zu der Annahme, daß sich das bestehende demokratische Rechtssystem für die politisch und ökonomisch Herrschenden zunehmend als formelle Schranke, als unbequeme Fessel ihrer Gewaltausübung erwiesen hat, so daß die rechtsstaatlichen Normen samt der damit verbundenen politischen Grundrechte der Menschen von den Herrschenden mißachtet oder sogar niedergerissen werden. An die Stelle des verbindlichen Rechtssystems tritt zunehmend Willkür und das Recht der herrschenden Klasse, gleichsam das ökonomische Faustrecht des Stärkeren. Insofern ist es zutreffend, von einer schleichenden Suspendierung des Rechtsstaates zu sprechen bei gleichzeitig zunehmender rechtlicher Verankerung des Wirtschaftsliberalismus - auch im EU-Vertrag. Die sukzessive Verwässerung der sozialen und politischen Grundrechte führt in den autoritären Staat, der die kapitalistische neoliberale Wirtschaftsordnung gegen sozial-emanzipative Interessen und Bedürfnisse der Lohnabhängigen oder sozial Abgehängten verteidigt und sich dabei an den Wirtschaftsliberalismus anpaßt. Das ist kein Widerspruch. Oskar Negt hat bereits in den 1980er Jahren geschrieben: "Wirtschaftsliberalismus und autoritärer Staat schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander."[31] Die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze können sich nach wie vor ganz im Sinne des Zeitzündereffektes als "Ermächtigungsgesetze", gleichsam als verfassungsrechtliches Gründungsdokument eines autoritären Staates, erweisen, die das Ende der Demokratie besiegeln, wie schon die "Reichstagsbrandverordnung" vom Februar 1933 auf Grundlage des 48er Artikels der Weimarer Reichsverfassung. Dies jedoch nur, wenn der bundesrepublikanische Rechtsstaat aufgrund seiner stetigen Aushöhlung, d.h. seiner involutiven Transformation, nicht mehr von der Bereitschaft getragen wird, die 1968 im entschärften Kompromiß ausgehandelten Rechte für den Notstand gegen den Staat wahrzunehmen, bzw. das politische Gemeinwesen, insbesondere die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterbewegung, nicht mehr die Kraft besitzt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen. Die neoliberale Sozialpolitik der Bundesregierung hat in dem letzten Jahrzehnt Wesentliches dazu beigetragen, die Kampfkraft der Gewerkschaften erheblich zu schwächen. Die gewerkschaftliche Basis schrumpft dahin, weil aufgrund der Lockerung des Kündigungsschutzes die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten mit ordentlichen Tarifverträgen rapide sinkt und durch ein stetig wachsendes Heer von prekär beschäftigten Billiglöhnern ersetzt wird. Auch Massenarbeitslosigkeit entzieht den Gewerkschaften ihre Klientel. Agenda 2010 und insbesondere Hartz IV führen zu Massenaustritten. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, so schreibt Joachim Perels in der Maiausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik", schwächt die Streikbereitschaft der noch verbliebenen Gewerkschaftsmitglieder.[32] Wenn aber auf diesem Wege die Koalitionsfreiheit faktisch gar nicht mehr ausgeübt werden kann, nützt auch ihre verfassungsrechtliche Garantie zu Notstandszeiten nicht viel. Die Kampfeskraft der Gesellschaft zur Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung wäre damit auf das Empfindlichste geschwächt und dem autoritär-bürgerlichen Geist - sofern er sich in der Mitte der Gesellschaft straffer als bisher organisiert - Tür und Tor entriegelt. Anmerkungen:[1] Vgl. Phillip Gassert: Ex Occidente Lux? Der Westen als nationaler Mythos der Berliner Republik, in: vorgänge Heft 2/2001, S. 15-22. [2] Hans-Jürgen Krahl: Römerbergrede, in ders.: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt am Main 1971, S. 149. [3] Theodor W. Adorno, zit. n. Wolfgang Kraushaar (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, Bd. 1: Chronik, Hamburg 1998, S. 454. [4] Wolfgang Abendroth: Der Notstand der Demokratie, in ders.: Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt am Main 1975, S. 205. [5] Vgl. Th. W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?, in ders.: GS, Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1977, S. 555f. [6] Oskar Negt, zit. n. Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): "Tradition heißt nicht, Asche aufheben, sondern die Flamme am Brennen halten!" - Für und über Klaus Vack, Sensbachtal 1985, S. 185 f. [7] Vgl. Opposition als Triebkraft der Demokratie. Bilanz und Perspektiven der zweiten Republik. Jürgen Seifert zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Michael Buckmiller und Joachim Perels, Hannover 1998. [8] Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. [9] Gregor Kritidis: Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik, Hannover 2008, S. 542. [10] Ebd., S. 542. [11] Jürgen Seifert, zit. n. Joachim Perels: Der Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung als Aneignung der Verfassung, in: Opposition als Triebkraft der Demokratie, a.a.O., S. 102. [12] Otto Brenner, zit. n. Jürgen Seifert: Gefahr im Verzuge. Zur Problematik der Notstandsgesetzgebung, Frankfurt am Main 1965, S. 34. [13] Vgl. Joachim Perels: Das Ende der Koalitionsfreiheit. Die Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2008, S. 87-94. [14] Hermann Höcherl, zit. n. Kritidis, a.a.O., S. 543 f., Fußnote 454. [15] Grundgesetz, Artikel 9, Absatz 3. [16] Joachim Perels: Der Kampf um die Notstandsgesetze als Aneignung der Verfassung, a.a.O., S. 101-111; S. 102. [17] Vgl. Jürgen Seifert: Der Kampf um Verfassungspositionen. Materialien über Grenzen und Möglichkeiten von Rechtspolitik, Köln, Frankfurt am Main 1974. [18] Seifert, zit. n. Perels: Der Kampf um die Notstandsgesetzgebung ..., a.a.O., S. 102. [19] Kritidis, a.a.O., S. 545. [20] Seifert: Der Kampf um Verfassungspositionen, a.a.O., S. X. [21] Ebd. [22] Reinhard Kühnl: Ein Kampf um das Geschichtsbild: Voraussetzungen - Verlauf - Bilanz, in ders. (Hg.): Streit ums Geschichtsbild. Die "Historiker-Debatte". Dokumentation, Darstellung und Kritik, Köln 1987, S. 280. [23] Vgl. Moshe Zuckermann: Achtundsechzig geht in Pension, Frankfurter Rundschau vom 7.5.2008. [24] Oskar Negt: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995, S. 9. [25] Vgl. Klaus Ahlheim, Bardo Heger: Nation und Exklusion. Der Stolz der Deutschen und seine Nebenwirkungen, Schwalbach/Ts 2008. [26] Sueddeutsche Zeitung vom 12./13. April 2008, S. 7. [27] Ebd. [28] Vgl. Marcus Hawel: Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland, Hannover 2007. [29] Michael Jäger: Gefährliches Spiel, in: Freitag vom 9. Mai 2008. [30] Vgl. Johannes Agnoli, Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt am Main 1968. [31] Oskar Negt: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimension des Kampfes um die Arbeitszeit, Frankfurt am Main 1984, S. 87. [32] Vgl. Joachim Perels: Das Ende der Koalitionsfreiheit. Die Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2008, S. 87-94; S. 94. Dr. Marcus Hawel ist Soziologe, Mitherausgeber der Onlinezeitschrift sopos und lehrt zur Zeit an den Instituten für Politikwissenschaft sowie für Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Hannover. Kontext:
sopos 6/2008 | |||
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