Mit dem Bologna-Prozess ist die Herrschaft des Kapitals über die Lebensweisen, die Bedürfnisse und die Art ihrer Befriedigung an den Hochschulen zweifellos weiter vorgedrungen. Die Hochschulen werden von Studierenden und Lehrenden viel mehr als noch in den 1970er und 80er Jahren als Institutionen begriffen, die man besuchen muss, um mit einem möglichst guten Abschluss einen möglichst guten Job zu bekommen. Das Interesse am tieferen Verständnis und an einer Veränderung der Welt, womit auch die Fähigkeit verbunden ist, an einem sozial gelingenden und ökologisch verträglichen Zusammenleben beitragen zu können, haben u. a. mit der Bachelorisierung, den zeitlich und inhaltlich restriktiven Studienordnungen und den Studiengebühren weiter an Bedeutung für die Studierenden verloren. Dabei hätten einige Inhalte jener Studienreform, die im faktischen Bologna-Prozess als «Studien-Deformen» umgesetzt wurden, im Interesse der Studierenden implementiert werden können. Eine hochschul- und studiengangsübergreifende Modulbauweise und die konsekutive aber nicht selektierende Abfolge von Bachelor und Master sollten die Freiheiten des Studiums erhöhen, so dass etwa eine Soziologie-Studentin bei Interesse und Bedarf auch Veranstaltungen im Maschinenbau oder der Medizin würde besuchen können. Sie hätte durch kleinere Zwischenschritte und Abschlüsse (Modul- und Bachelorprüfungen), die den Bildungsweg überschaubar halten, bessere Orientierung schaffen und die Dropout-Quote verringern können. Solche Reformbausteine hätten im Rahmen einer emanzipatorischen Politik sinnvoll das Studium verbessern können. Im Rahmen der neoliberalen Deformierung des Sozialen verwandelten sich aber alle darin angelegten befreienden Momente in neue, viel bedrückendere Zwänge, die der herrschaftsreproduzierenden Subsumtion von Subjektivität dienen.
Das Studium an einer Kritischen Hochschule muss dagegen wieder viel mehr Selbstzweck sein. Es muss in der Studienpraxis eine Lebensweise ermöglichen, die schon im hier und jetzt auf Lebensweisen einer im Ganzen emanzipierten Gesellschaft vorgreift, und es muss durch Kritik und Selbstreflektion Kompetenzen erwirken, die Subjekte zur Beförderung eben dieser emanzipierten Gesellschaft befähigen können. Kritische Hochschule muss zumindest einen Kerngedanken verkörpern: die Notwendigkeit und die wie auch immer begrenzten Möglichkeiten, «zu einer Wirtschaft überzugehen, die von der Herrschaft des Kapitals über die Lebensweise, die Bedürfnisse und die Art ihrer Befriedigung befreit ist.» (André Gorz) Studium, Lehre und Forschung an einer Kritischen Hochschule sind davon geprägt, sich von heteronomen Zwängen zu befreien, u. a. um so ökonomischen, sozialen und ökologischen Krisen mit Alternativen begegnen zu können. Die Entwicklung alternativer Praktiken sollte hierbei in interdependenten Zusammenhängen zu kritischen Theorien stehen. Dazu braucht es Ressourcen – Zeitsouveränität zunächst, die von den Rhetoriken der Selbstmobilisierung und das auf employability getrimmte Lebenszeitregime genauso bedroht wird, wie von der Kommodifizierung der Studienzeiten durch Gebühren. Es braucht die souveräne Verfügung über Räume für die Aneignung und Distribution von Wissen und von selbstbestimmten Praktiken. Die Kritische Hochschule wäre also ein dekommodifizierter Raum, in dem Prozesse der Kritikentwicklung und des forschenden Lernens Zeit und Raum haben, ein Ort des Lernens in autonomen Gruppen und Projekten, die sich der Logik der Selbstentäußerung zugunsten einer heteronomisierenden Profitabilität widersetzen. Wir stellen uns vor: Es gibt Zeitsouveränität, z. B. übergangsweise ermöglicht durch Grundeinkommen, garantiert, bedingungslos, ausreichend. Dadurch könnte die Angst vor Verarmung und Ausgrenzung schwinden und einem Studium sowie einer Suche nach alternativen Lebensweisen Zeit und Raum geben. Wir stellen uns vor: Die selbstbestimmten und «subsistenzlogisch» organisierten Praxisfelder gewinnen wieder an Bedeutung und lassen die (scheinbar) wohldotierten Jobs, die durch ein konformistisches Studium vielleicht zu haben sind, öde, fad und eindimensional erscheinen. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse sind im Kontext einer Kritischen Uni insbesondere dann von Bedeutung, wenn sie Bedürfnissen folgen, die auf die Entwicklung und Entfaltung eines emanzipierten Subjekts und einer entsprechenden Gesellschaft abzielen.
Wir stellen uns vor: Die Hochschulen werden einer der Orte, an dem Menschen lernen, sich von den Interessen des Kapitals abzuwenden, sich einer fremdbestimmten Vergesellschaftung zu widersetzen, autonom Interessen und Bedürfnisse zu artikulieren und alternative Lebensweisen zu erproben. Davon sind wir weit entfernt. Und doch können stets Chancen genutzt werden zur Eröffnung von Möglichkeitsfeldern, die einer nach anderen Maßstäben bestimmten «Realpolitik der Vernunft» (Bourdieu) zuträglich sind. Die Kritische Hochschule soll ein solches Möglichkeitsfeld sein. Dafür ist es unabdingbar, in allen Veranstaltungen Prinzipien emanzipierender Selbstorganisation und Selbstbestimmung präsent zu halten. Zudem soll eine Entwicklung und Institutionalisierung einer – sei es auch nur in Ansätzen kritischen Praxis in den Hochschulen angestrebt werden. Die übliche Abfolge expertokratischer Vorträge auf einer Tagung ist kaum eine Form, die o. g. Prinzipien und Bedürfnisse wach hält. «Fishbowls» und Diskussionskarusselle gehen in die richtige Richtung, erzielen für sich genommen aber auch nur kurzfristige pseudo-demokratisierende Effekte. Es gibt eben kein richtiges Leben im falschen, nur eine richtigeres.