Abwicklung des Grundgesetzes

von Eckart Spoo

Der Bundesminister des Innern, Schily (SPD), legt wie alle seine Vorgänger, darunter Höcherl (CSU), der es bekanntlich unzumutbar fand, immer das Grundgesetz unterm Arm zu tragen, pünktlich in jedem Frühjahr den Verfassungsschutzbericht vor, worin er neben Neonazis auch Pazifisten, Antifaschisten und andere aktive Demokraten als Verfassungsfeinde darstellt. Unerwähnt läßt Schily dagegen seinen Kabinettskollegen Struck, der tatsächlich, nachweislich, offensichtlich, vor unser aller Augen (kein Geheimdienst muß es aufwendig ermitteln) auf der Verfassung herumtrampelt. Strucks jüngste Verteidigungspolitische Richtlinien bedeuten, wie das Komitee für Grundrechte und Demokratie sachlich feststellt, »fortgesetzten Verfassungsbruch«. Konträr zum eindeutigen Auftrag des Grundgesetzes, wonach die Streitkräfte nur zur Verteidigung aufgestellt und eingesetzt werden dürfen, beauftragt Struck sie nun mit »internationaler Krisenbewältigung « – denn Landesverteidigung sei »auf absehbare Zeit« nicht erforderlich. (Gleichwohl nennt er sich immer noch Verteidigungsminister.)
1990, nach der Vereinigung, als alle Beteiligten gelobten, von deutschem Boden werde nie wieder Krieg ausgehen, war man sich noch einig: Das Grundgesetz verbiete sogenannte out-of-area-Einsätze. Doch bald darauf legte der damalige Chef der Hardthöhe, Rühe, erste Verteidigungspolitische Richtlinien vor, die das Wort Verteidigung in ihrem Titel verhöhnten, und seitdem setzte sich eine imperialistische Militärpolitik durch, der die Verfassung schnuppe ist. Strucks neue Richtlinien schließen auch frühzeitige militärische Interventionen im Sinne der US-amerikanischen Präventivkriegsoptionen nicht mehr aus. Zu diesem Verfassungsverständnis paßt es, daß das Bundeskabinett die Richtlinien ohne jede Mitwirkung des Parlaments durch bloße Kenntnisnahme in Kraft setzte; bis zu diesem Tage wurde der Text vor der Öffentlichkeit geheimgehalten. Die Deutsche Friedensgesellschaft spricht vom »aggressivsten deutschen Militärprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg« – und dazu gehört, daß der Bundestag noch in diesem Jahr ein »Entsendegesetz« beschließen soll, in dem er darauf verzichtet, sich im einzelnen mit Kriegseinsätzen zu befassen. Die Spiegel-Serie »Die verstaubte Verfassung« belehrt uns: »Bei allen Beteiligten in Wirtschaft und Politik wachsen die Zweifel, ob unsere blockierte Republik nach den Regeln des Grundgesetzes überhaupt noch zu regieren ist… Das Provisorium aus der Nachkriegszeit, so die von der offiziellen Politik noch unter dem Tisch gehaltene Diagnose, taugt nicht zum Regieren… Der Rechtsstaat hat sich zum Investitionshindernis entwickelt.« Hinter dem Autor dieser Serie, dessen Namen man sich nicht merken muß, stehen namhafte Verfassungsfeinde, die sich dort zu erkennen geben: Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, Hans- Olaf Henkel, langjähriger Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, und andere. Als Vorbild werden die USA gepriesen. Zwar lasse sich darüber streiten, ob es gut sei, wenn der Präsident allein darüber entscheide, Kriege zu führen. »Aber: Da entscheidet jedenfalls jemand.« Basta.

Erschienen in Ossietzky 11/2003