Den Aufsatz kommentieren Wieder Montagsdemonstrationen und "Wir sind das Volk!"Ist das wirklich eine Farce? - Ein Kommentar zu den Protesten gegen Hartz IV und Agenda 2010von Marcus Hawel (sopos)Arroganz der Herrschaft, das ist Mangel an demokratischem Bewußtsein der Herrschenden, macht Populismus erst zu einer materiellen Kraft. Nach der Tragödie, so schrieb einmal Heinrich Heine, kommt die Farce. Marx schreibt im achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte: "Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce."[1] Dagegen wandte Ernst Bloch ein, dass Geschichte sich nicht wiederhole; nur das, was nicht zur Geschichte wurde, wiederhole sich durchaus. Aber nicht aus einem der Geschichte innenwohnenden metaphysischen Prinzip heraus, sondern, weil das Unabgegoltene, historisch Liegengebliebene immer wieder von Menschen, die sich dessen annehmen, aufgehoben wird. Administrativ kann man deshalb das Ende der Geschichte nicht behaupten, wie es Francis Fukuyama zum Ende der bipolaren Weltordnung getan hat. "Die Geschichte ist schon deshalb nicht am Ende, weil ein großer Teil ihrer Möglichkeiten nicht ausgetragen, also unausgeschöpft ist. Wäre alles, was Anfang in der Geschichte war, zu einem glücklichen Ende gekommen, könnte man von einem Ende der Vorgeschichte berichten. Die menschliche Geschichte beginnt an dem Punkt, an dem die Menschen das, was sie träumen, was sie wollen und denken, ohne Verzerrung und Brechungen durch die Gewaltmassen der Gesellschaft in Wirklichkeit umsetzen können."[2] Als in Ostdeutschland im Herbst 1989 die Menschen jeden Montag in Leipzig und anderswo auf die Straßen gingen und – wie es heißt – mit dem Slogan "Wir sind das Volk!" das SED-Regime unblutig zu Fall brachten, blitzte gegen das verkündete Ende der Geschichte geschichtlich Unabgegoltenes auf, das bis auf das Jahr 1848 zurückreichte. Es blitzte freilich nur auf, da es im Zuge des deutsch-deutschen Einigungsprozesses bereits eine ähnliche Wendung erfuhr wie auch schon 1848/49, als es den bürgerlich Liberalen in der Paulskirche mehr um die Einheit Deutschlands als um wirkliche Demokratie ging. 1989/90 schafften es westdeutsche Berufspolitiker wie Kohl und Genscher, sich an die Spitze der ostdeutschen Protestbewegung zu setzen. Das Zauberwort hieß Selbstbestimmung. Im Duktus der Protestbewegung hob dieses Wort auf nicht weniger ab als auf die schöne Idee der Volkssouveränität. Der Slogan "Wir sind das Volk!" war zwar konkret gegen die Einparteienherrschaft der SED gerichtet, aber es war genauso auch als eine Mahnung gegen westdeutsche Berufspolitiker zu verstehen, die schon die deutsche Einheit im Blick hatten, also nicht Volksouveränität, sondern Staatssouveränität. Mit viel organisatorischem Aufwand wurden damals im Herbst von CDU und FDP Deutschlandfahnen-West unter den Protestanten verteilt, und es dauerte nicht lange, da war aus dem vielversprechenden Slogan "Wir sind das Volk!" schon "Wir sind ein Volk!" geworden. Ende September ging im Leipziger Herbst ein angestimmtes Deutschlandlied noch in Pfiffen unter, wenige Wochen später war es aber zum allgemeinen Kanon geworden. Mehr als ein Jahrzehnt danach haben sich die Herrschenden im geeinten Staate die Definitionshoheit über die jüngste deutsche Geschichte angeeignet. Wir schreiben das Jahr 2004: Wieder protestieren in ostdeutschen Städten Zehntausende; diesmal nicht gegen eine Diktatur, sondern gegen den umfassendsten Sozialkahlschlag in der bundesrepublikanischen Geschichte, und wieder ist "Wir sind das Volk!" zu hören. Nun meint die rot-grüne Bundesregierung, die Agenda 2010 und Hartz IV zusammen mit CDU/CSU und FDP zu verantworten hat und ob der Protestmassen in Panik gerät, es sei eine Verunglimpfung der unblutigen und erfolgreichen Revolution von 1989/90, wenn heute der symbolträchtige Slogan wieder gerufen wird, nicht gegen eine Diktatur, sondern gegen eine demokratische Regierung. Populismus sei es, wenn die PDS Gelegenheit ergreife, von der Proteststimmung zu profitieren. Dabei vergessen diejenigen, denen das nicht schmeckt, dass die Voraussetzung für die populare Methode darin besteht, wie es Alexander Kluge einmal nannte, dass die Herrschenden borniert über den allgemeinen Willen der Bevölkerung hinweggehen. Arroganz der Herrschaft, das ist Mangel an demokratischem Bewußtsein der Herrschenden, macht Populismus erst zu einer materiellen Kraft. Das eine bedingt also das andere. Es darf sich ruhig auch Protest im Westen Deutschlands und in ganz Europa unter dem symbolträchtigen Slogan "Wir sind das Volk" zusammenfinden. Die Definitionshoheit über Geschichte gehört nicht in die Gewalt der Herrschenden, sondern denen, die Geschichte machen. Und Geschichte wird von den Menschen gemacht. Sicher leben wir in einem demokratischen Staat, dessen Verfassung zwar nach der Verschärfung des Asylrechts zu Beginn der 90er Jahre und der allzu freizügigen Auslegung der militärischen Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr durch das Bundesverfassungsgericht 1994 nicht mehr so glänzt wie noch während der alten Bundesrepublik, aber sie ist immer noch die beste, die jemals für das, was jeweils einmal als Deutschland galt, existiert hat. Dennoch ist in dieser Republik viel Geschichtliches unerledigt. Dieses zum Thema zu machen, bedeutet keineswegs, dem Populismus das Wort zu reden. In seinem Aufsatz Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit? wies Adorno darauf hin, daß "das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher [zu gelten habe] denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie."[3] Demokratie, wie wir sie haben, ist eine Repräsentantenherrschaft. Zwar steht in der Verfassung, daß das Volk der Souverän sei, aber mit Volkssouveränität hat unsere Demokratie wenig zu tun. Des Volkes Stimme zählt in Umfragen, nach denen sich Berufspolitiker richten, wenn sie wieder gewählt werden wollen. Ansonsten gilt das machiavellistische Prinzip, alle Schandtaten am Beginn einer Legislaturperiode zu begehen, damit spätestens zu den nächsten Wahlen die Wogen wieder geglättet sind. "Wir sind das Volk!" ist keine Farce in dem Sinne, wie Marx die Wiederholung von Geschichte im Kostüm einer vergangenen Zeit meinte. Es ist vielmehr die Fortsetzung einer Tragödie, die 1848 begann, im Hitler-Faschismus ihren Höhepunkt fand und bis heute nachlebt, weil unabgegolten. Die herrschaftlichen Institutionen der Demokratie sind gegen den Willen der Bevölkerung abgedichtet in dem Sinne, wie Hegel in seiner Rechtsphilosophie den korporativen Staat konzipierte, der durch vermittelnde Instanzen alles filtert, was nicht dem sittlichen Begriff der Vernunft entsprach (heute könnte man das mit Staatsräson gleichsetzen). Willy Brandt wandte sich gegen das Nachleben des Autoritarismus in der Demokratie, als er programmatisch davon sprach, mehr Demokratie zu wagen. In "Wir sind das Volk!" blitzt auch dies wieder auf, weil es unabgegolten ist. Es darf sich also ruhig auch Protest im Westen Deutschlands und in ganz Europa unter dem symbolträchtigen Slogan zusammenfinden. Anmerkungen:[1] MEW 8, S. 115. [2] Oskar Negt/Alexander Kluge: Maßverhältnisse des Politischen, Frankfurt a.M. 1992, S. 341. [3] Th. W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?, in: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a.M. 1963, S. 125-146; S. 126. Kontext:
sopos 8/2004 | |||
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