Den Aufsatz kommentieren Ausnahmezustand in LeipzigEin Zeitzeugenbericht zu den Ereignissen am 17. Juni 1953Helmut Rammel Dieser Artikel ist erschienen in dem Band "Abhauen oder hierbleiben? In Konflikt mit dem DDR-System." im Verlag Zeitgut. (Angaben s.u.) Fröhlicher Umtrunk mit meinen Kommilitonen vom Leipziger Lehrerbildungsinstitut 1953. Ich bin der Vierte von rechts. Die ersten Kirschen leuchten rot, und am blauen Himmel zieht nicht eine Wolke, als wir am Morgen des 17. Juni das Haus verlassen. Wir, das sind Wolfgang und ich, Studierende am Lehrerseminar, zwei ehemalige Schreinergesellen, die den Wunsch haben, Berufsschullehrer zu werden. Als Alternative hatte man uns Natur- oder Gesellschaftswissenschaften angeboten. Wir haben uns für die Naturwissenschaften entschieden. Die sozialistische Planung entdeckt den Mangel an Fachlehrern im Tischlerberuf erst nach Beendigung unserer Ausbildung. Doch heute wird nicht studiert. Am Stadtrand ist ein Sport- und Kulturfest unseres Instituts angesagt. Wir sind lediglich als Zuschauer bestellt, denn Wolfgang hat Plattfüße und ich bin, von zwei dritten Plätzen ausgenommen, die ich überraschend bei einem Volkslauf und einem Radfahren für jedermann erreicht habe, ein absolut unsportlicher Typ. Die Wettkämpfe quälen sich über die Runden, es ist ein stinklangweiliger Tag. Recht früh fassen wir den Entschluß, Essen zu gehen. Irgendwo müßte doch in dieser weitläufigen Sportanlage ein Imbißstand das "DDR-Nationalgericht" Bockwurst mit Kartoffelsalat anbieten. Als wir in einen Zufahrtsweg zum Sportplatz einbiegen, kommen uns aufgeregt und zornig einige linientreue Kollegen in der Kluft der GST, Gesellschaft für Sport und Technik, entgegen und berichten uns, sie seien in der Stadt verprügelt worden, die Arbeiter würden streiken. Das ist eine ungeheuerliche Nachricht, Streik in der DDR! Das klingt so unglaubwürdig wie: Der Mond ist aus Käse oder am Nordpol blühen Orchideen. Doch die Verprügelten bleiben bei ihrer Behauptung, und wir lassen die Bockwurst platzen und das Sportfest sausen. Wir eilen zur Straßenbahnhaltestelle. Dort hat sich bereits eine Anzahl Menschen eingefunden, aber die Straßenbahn kommt nicht. Wir warten sehr lange, bis die erste Bahn aus der Stadt eintrifft, ihr folgen in kurzen Abständen zwei weitere. Auf den Längsseiten der Wagen sind die Embleme der DDR und der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft mit Farbe durchkreuzt. Statt dessen prangen Forderungen: "Freie Wahlen!", "Raus mit den Russen!" und "Gebt die Gefangenen frei!" Wenig später fiebern wir in der Straßenbahn den Ereignissen entgegen. Wir fahren an langen Kolonnen von Arbeitern vorbei, die Transparente mit sich führen und in das Zentrum der Messestadt ziehen. Überall strömen Menschen aus den Fabriktoren und schließen sich dem Zug an. Auf einem Schild steht: "Wir erklären uns mit Berlin solidarisch." Also auch in Berlin gehen die Menschen auf die Straße, denken wir. Schnell ist die Fahrt zu Ende, die Menschenmenge blockiert die Schienen. Wir steigen aus und folgen den Demonstranten. Am Gefängnis sind die Eingänge mit Gittern versperrt; dahinter stehen Vopos, starr, finster, bewaffnet. Die Menschen davor drohen und fordern in Sprechchören die Freilassung der politischen Gefangenen. Die Situation verändert sich nicht.Wir laufen mit einer anderen Kolonne weiter, die am Parteihaus der SED in der Karl-Liebknecht-Straße zum Stehen kommt. Junge Männer sind in das Innere des Gebäudes gelangt, erscheinen in den Fenstern und werfen Akten und Bücher auf die Straße. Dann zeigen sie große Bilder, Drucke von Parteibonzen: Grotewohl, Ulbricht, Stalin und immer wieder den Spitzbart. "Pfui!", ruft das Volk, buht und pfeift, wenn ein Bild erscheint, dann wird es hinabgestoßen, zerschellt am Boden, wird verbrannt. Geordnet, diszipliniert, ziehen immer wieder andere Demonstrationszüge vorbei: friedlich, planlos, ohne Führung.Wieder stehen wir vor der Strafanstalt. Die Lage hat sich zugespitzt. Mit einem wuchtigen Balken versuchen ein paar Männer, das Gitter aufzustoßen. Kraftvoll rammen sie dagegen, bis es in Schräglage kommt und fällt. Die Vopos haben sich längst nach innen gerettet. Die Arbeiter stürzen hinterher. Wolfgang, der gute sanfte Wolfgang, ist nicht mehr zu halten. Er will dabeisein, mithelfen, die politischen Gefangenen zu befreien. Er eilt nach vorn. Ich versuche, ihn zu halten: "Wolfgang, das ist zu gefährlich, die schießen!" Da fallen auch schon die ersten Schüsse, die Menge wogt zurück. Auf den Schultern getragen bringt man einen Jungen heraus, er blutet, eine Hand ist durchschossen. Neben mir beginnt eine Frau Geld zu sammeln. Sie hält eine kleine Kiste in den Händen. Jemand fragt: "Wofür?" "Für die Verwundeten, wir brauchen Verbandsmaterial." In Sekunden türmen sich die Scheine. Tage danach hat man die Verletzten aus den Krankenhäusern in die Gefängnisse verschleppt. Ein kleiner schmächtiger Mann wird gestoßen, bekommt Keile. Ein anderer mischt sich ein: "Was hat der euch getan?" "Der hat meinen Mann ins KZ gebracht", behauptet eine Frau. Der andere wendet sich ab. Wo sind die Hüter des Staates? Die Staatsmacht liegt am Boden – weggeworfene SEDParteibücher, Abzeichen, Ausweise. Plötzlich erscheint ein Offizier der Volkspolizei am Eingang des Gefängnisses. Er will etwas sagen, wird ausgepfiffen, beginnt dennoch zu reden, wird niedergeschrien. Ein Arbeiter stellt sich neben ihn, hält eine Rede, bekommt Beifall. Dann kommt der Offizier doch noch zu Wort. Er verkündet den Ausnahmezustand. Was bedeutet das? Noch sitzt der Staat im Versteck, noch haben die Arbeiter das Sagen. Dann kommen die Russen. Auf LKWs sitzen einfache Soldaten, alte wassergekühlte MGs zwischen sich. Die Arbeiter drohen mit den Fäusten. Ein langer Arbeiter reckt sich hoch, ruft der Menge zu: "Nicht gegen die Russen, wir haben keine Waffen!" Er jubelt ihnen zu und beginnt zu winken. Verhalten folgt man seinem Ruf. Die Russen winken zurück, sie sind verunsichert, wissen nicht, warum man sie aus den Kasernen geholt hat. Die LKWs kommen zum Stehen, Diskussionen setzen ein. "Wir wollen mehr Brot, besser leben." Die Russen nicken, doch ihre Gesichter drücken Unverständnis aus. Die LKWs fahren weiter. Ein Trauerzug nähert sich dem Platz, voraus trägt man einen Toten, über und über mit Blumen bedeckt, von den Vopos erschossen. Ohnmächtige Wut kommt auf. Wenig später an derselben Stelle: Ein Jeep mit Vopos wird angehalten. Man nimmt ihnen die Gewehre ab, wirft sie zu Boden. Die Polizisten leisten keinen Widerstand. Ohne Waffen können sie ihre Fahrt fortsetzen. Eine einsame Straßenbahn rollt heran, wir stoppen sie: "Es wird gestreikt, alle aussteigen!" Dann versuchen wir, zum Bahnhof zu gelangen. Immer wieder müssen wir uns in Hauseingänge flüchten, denn russische Panzer donnern durch die engen Straßen, Schüsse hallen. Vor dem Hauptbahnhof brennt ein Aufklärungslokal der Nationalen Front. In der Eingangshalle stehen diskutierende Menschengruppen. Wir verlassen das Gebäude wieder. Im Halbkreis haben sich russische Panzer postiert, die Geschütze auf das Bahnhofsgebäude gerichtet. Erneut fallen einzelne Schüsse. Vom Kindersitz eines Fahrrades fällt ein kleiner Junge, tot. Jetzt erst wird uns die Gefahr bewußt, in der wir uns befinden. Durch Seitenstraßen versuchen wir, nach Hause zu gelangen. Unterwegs treffen wir Freunde und hören, der RIAS melde laufend, überall in der DDR wären Streiks, Demonstrationen, und jetzt seien russische Truppen im Einsatz. Sollte alles vorbei sein, vergeblich gewesen sein? Noch bleibt der Generalstreik, man hat es uns oft genug gelehrt. Der Generalstreik ist die wirksamste Waffe der Arbeiterschaft. Stundenlang sitzen wir voller innerer Aufregung in unserem Zimmer und schreiben Flugzettel, schreiben immer wieder das eine Wort – GENERALSTREIK. Ausnahmezustand, Sperrstunde. Jeder, der es wagt, jetzt auf die Straße zu gehen, kann ohne Anruf sofort erschossen werden. Wir glauben zu wissen, auf was wir uns einlassen. Wir sind bereit, unser Leben für die Freiheit zu riskieren. Aber wir 19 bis 20jährigen denken nicht an die Eltern, an die einsamen Mütter, an die Geschwister, nur an die Idee der Freiheit; und wir sind überzeugt, daß zur selben Zeit zahlreiche Gleichgesinnte dasselbe tun. In Turnschuhen und Trainingsanzug ohne Ausweis – welch törichte Vorsichtsmaßnahme – schleichen wir aus dem Haus in die Dunkelheit. Erst in der nächsten Straße beginnen wir mit dem Verteilen der Flugzettel. Wir werfen sie in Briefkästen, legen sie auf Fenstersimse, stecken sie in Türspalten. Nicht immer sind die Briefkästen vorn. Hinten im Hof eines größeren Häuserblocks steht in der Mitte zwischen den beiden Gebäuden unser Verhängnis: ein Malerwagen mit Werkzeug und Farbe. Sofort greifen sich zwei von uns Pinsel und Farbeimer und beginnen, Parolen an die Wände zu malen: "Weg mit Ulbricht!" – "Freie Wahlen" – "Russen raus!" Man kann sie einen Steinwurf von uns entfernt hören. Ich habe Angst, will fort, dränge die beiden aufzuhören. Wir nehmen einen anderen Weg zurück. Obwohl noch nicht alle Zettel verteilt sind, beenden wir die Aktion. Bevor wir in eine neue Straße einbiegen, schauen wir uns immer erst vorsichtig um: nichts – weiter – nichts – weiter! An der vorletzten Ecke sehen wir rechts von uns in einiger Entfernung zwei Männer auf der Straße liegen, langsam bewegen sie den rechten Arm auf und ab. Aha, auch welche, die wie wir unterwegs sind. Wir können also weiter, nur noch ein kleines Stück. Abhauen oder hierbleiben? Plötzlich hören wir Schritte hinter uns, werden von Vopos gepackt, festgehalten: "Was macht ihr um diese Zeit hier?" "Wir waren ein Bier trinken." "Die Gaststätten haben doch alle geschlossen." "Nein, da hinten war eine offen." Das stimmte tatsächlich. "Zeigt eure Ausweise!" "Die haben wir nicht dabei." "Kommt mit!" Es gelingt mir, mich rechts an den Gartenzaun zu drücken und unbemerkt meine letzten Flugzettel wegzuwerfen. Taschenlampen blitzen auf. "Zeigt eure Hände!" Die weiße Farbe leuchtet an Händen und Hosen. Das Versteckspiel ist zu Ende. Wir gestehen, müssen den Ort beschreiben, wo der Malerwagen steht. Einer geht nachschauen, die anderen bewachen uns in einem Fahrgastunterstand. Der Mann kommt zurück, hält unsere Flugzettel in der Hand. Wir werden durchsucht, sie finden die restlichen. Auf dem Polizeirevier werden wir verhört, geschlagen, über die Tische gezogen, nacheinander, gleichzeitig. Mit Fäusten und Gummiknüppeln schlagen sie auf uns ein. Irgendwann werden sie müde, morgen mehr. Wir werden in eine Zelle gesperrt, in der Betrunkene gewöhnlich ihren Rausch ausschlafen. Noch ist der 17. Juni. Das Licht geht aus. In Ungewißheit geht der Tag zu Ende. In einem Schnellverfahren wurden wir zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, die wir in verschiedenen Haftanstalten der DDR absaßen. Kontext:
sopos 6/2013 | |||
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