Den Aufsatz kommentieren Die Rosa-Luxemburg-Stiftung gab eine Studie zum Verhältnis der deutschen Linken zur Nation nach 1989/90 in Auftrag, die Erhard Crome verfaßt hat. Im Freitag wurde ein Auszug der Studie veröffentlicht und damit eine Debatte zur Nation eröffnet. [Debatte Nation]Wiedergewonnenes Land verhieß wiedergewonnene Unschuldvon Marcus Hawel (sopos)Warum sollen Linke sich an der Nation erfreuen, und wenn das möglich sei, warum an dieser? Meine etwas provokante These ist, daß in Westdeutschland Linke genauso wie Liberale und konservative Rechte während der gesamten Nachkriegszeit eine Vereinigung von BRD und DDR weitgehend aus ähnlichen: nationalen, manchmal auch nationalistischen Beweggründen abgelehnt hätten. Die DDR hatte sich offiziell auf einem staatlichen Antifaschismus gegründet und gab an, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben, indem man auch die Voraussetzungen überwunden zu haben glaubte, die zu Auschwitz geführt hätten: die kapitalistischen Verhältnisse. Die kapitalistisch gebliebene Bundesrepublik hatte statt dessen die Rechtsnachfolge des Dritten Reiches angetreten und damit auch die moralische Verantwortung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Faschismus übernommen. Deshalb gab es in der BRD ein eindringlicheres Primat als in der DDR, sich der Vergangenheitsaufarbeitung öffentlich stellen zu müssen. Die Bereitschaft hierfür hatte die westdeutsche Bevölkerung aber nicht - Verdrängung war da einfacher. Die Teilung Deutschlands wurde im Westen dieses Landes von der Bevölkerung sehr gerne verschmerzt durch eine Kompensation, die gleichzeitig eine Lebenslüge war: Teilung als Strafe; die Abspaltung der SBZ als Opfer; die Gegenleistung des Opfers: Schuldminderung – Verlorenes Land ist verlorene Schuld. Der kalte Krieg verhalf dieser Lebenslüge zu einem jahrzehntelangen Dauerzustand. Erst die durch Perestroika eingeleitete osteuropäische Transformation zum Ende der 1980er Jahre konnte einen neuen gesamtdeutschen Nationalismus in der Bundesrepublik auch unter Liberalen und Linken wieder salonfähig machen, der eine umgekehrte, zweite Form der Verdrängung von Schuld möglich machte: Wiedergewonnenes Land ist wiedergewonnene Unschuld. Dies scheint mir doch ein Anhaltspunkt für die Erklärung zu sein, warum die Linke auf die deutsche Einheit 1989/90 nicht vorbereitet gewesen war, wie Erhard Crome meint. Aus demselben Grund hat die westdeutsche Linke auch gar nicht erst über sozialistische Alternativen nachgedacht. Im nachhinein wäre es sicher besser gewesen, wenn sich die westdeutsche Linke frühzeitig mit den Möglichkeiten einer deutschen Einheit auseinandergesetzt hätte und zwar auf eine Art und Weise, die keinen Anlaß hätte bieten dürfen, sich der Deutschtümelei verdächtig zu machen. Denn: lieber ein sozialistisch- demokratisches als ein kapitalistisches und nach Hegemonie strebendes vereintes Deutschland. Aber dies ist nun auch nicht mehr zu ändern. So wie das Jahr 1989 für Ostdeutschland einen „konzeptionsreichen Lenin" (Stefan Heym), so hätte es aus westdeutscher Perspektive einen wie Rudi Dutschke gebrauchen können. In den letzten Jahren seines politischen Wirkens beschäftigte sich Dutschke immer wieder mit der offenen nationalen Frage in Deutschland. Als jemand, der recht jung die DDR verlassen und eine politische Karriere in der linken Szene West-Berlins gemacht hatte, hegte er immer wieder die Hoffnung auf eine sozialistisch-demokratische Opposition in der DDR. Eine Verbindung der linken Oppositionskräfte in beiden Teilen Deutschlands sollte zu einem geeinten Deutschland führen, das demokratisch und sozialistisch ist. Das luxemburgische Diktum: keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie, wäre das Verbindungsglied der beiden deutschen Oppositionen gewesen. Das Thema der deutschen Einheit wollte Dutschke nicht den Rechten überlassen; er konnte sich aber mit seinen Ansichten innerhalb der westdeutschen Linken nicht durchsetzen. Nachdem die DDR praktisch vor dem Staatsbankrott stand und in Osteuropa die gesellschaftliche Transformation bereits eingeleitet war, hätte es keine Rettung der alten DDR geben können. Sie war es wert, daß sie zu Grunde ging. Allerdings gab es in Ostdeutschland eine immer einflußreicher werdende Basisgruppen- und Bürgerrechtsbewegung, die sich anfänglich auch als Massenbasis nicht vom Sozialismus abwandte (wie Crome sagt), sondern tatsächlich hinwendete, da sie für mehr Demokratie im Sozialismus, für einen demokratischen Sozialismus kämpfte. Die DDR hätte vielleicht von innen her emanzipiert werden können, dafür gab es zunächst eine Massenbasis (vgl. Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986-1989, Berlin 1992), aber dann griffen die westdeutschen Politiker, allen voran Helmut Kohl, in die Trickkiste. Das Ergebnis war der Schwenk der Montagsdemonstrationen von „Wir sind das Volk!" zu „Wir sind ein Volk!" – Natürlich ist letzteres schon Nationalismus, aber ersteres war alles andere als das; es war nämlich die Antwort auf die Frage, wer der Souverän ist. Die westdeutsche Linke hat im Herbst '89 schlicht verkannt, wie wichtig auch für sie selbst es gewesen wäre, für ein Gelingen der ostdeutschen Reformbemühungen mit einzustehen. Der ostdeutsche Bürgerrechtler Werner Schulz resümierte vor einiger Zeit in einem Interview des Spiegel (12/2001): "Unser 89 wäre ohne das West-68 nicht zu erklären. Aber die Westlinken haben ihren Anteil an der Beseitigung der deutschen Teilung bis heute nicht kapiert, sonst hätte es den Slogan 'Deutschland halts Maul' nicht gegeben. Zu viele haben nicht gemerkt, wie sehr das kulturelle 68 im Westen uns Dissidenten im Osten beeinflußt und motiviert hat." Im Jahre 1989 stellten die westdeutschen Linken der ostdeutschen Reformbewegung für mehr Demokratie im Realsozialismus keine Bewegung für Sozialismus in der Demokratie zur Seite. Statt dessen griff eine weitgehende Paralysierung in der westdeutschen Linken um sich, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion ihren Höhepunkt erreichte und schließlich politisches Konvertitentum, die Abkehr von Marx und sozialistischen Leitideen hervorbrachte. Warum es dazu kam, scheint schleierhaft zu sein, denn im undogmatischen Teil der westdeutschen Linken hat es im Nachkriegsdeutschland nie einen Zweifel daran gegeben, daß der sogenannte real existierende Sozialismus, eine marxistisch-leninistische Einparteienherrschaft, bürokratischer Dogmatismus, sowie Verstaatlichung der Gesellschaft mit wirklichem Sozialismus nichts gemein hatten. Wir haben es seitdem mit einem neuen deutschen Nationalismus zu tun, der im Gewand von Normalität daherkommt, welches ihn gegen moralisierende Verweise auf die deutsche Vergangenheit immunisiert. Kein Land auf dieser Welt kann es sich leisten, mit Deutschland keine guten diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu haben, bzw. bestehende aufs Spiel zu setzen. Angesichts dessen kann man sich schon fragen, ob Crome auf dem Monde lebt, wenn er behauptet, die deutsche Einheit sei nicht Ausgangspunkt für neue hegemoniale Bestrebungen in der Außenpolitik gewesen. Angemessen widerlegt wurde das bereits von Sarah Wagenknecht und Alfred Schobert. Und nicht einmal der Reichsgedanke gehört tatsächlich der Vergangenheit an. Oder anders gesagt: Diese Vergangenheit ist höchst lebendig, wenn man etwa die Politik der Vertriebenenverbände genauer in Augenschein nimmt. In einer Studie von Samuel Salzborn (Heimatrecht und Volkstumskampf, Hannover: Offizin 2001) kann man nachlesen wie eng verbunden die völkische Politik der Vertriebenenverbände mit den außenpolitischen Konzepten der schwarz-gelben Bundesregierung bis 1998 gewesen war. Die Regierung Kohl hat an dem Reichsgedanken festgehalten, auch wenn sie die Grenzen des Landes klar festgeschrieben hat. Finanziell und ideell hat sie gleichzeitig die Vertriebenenverbände darin unterstützt und protektoriert, mit den Mitteln einer völkischen Kulturpolitik eine „deutsche Identität" in Osteuropa zu revitalisieren. Insofern stimme ich Michael Jäger zu, daß es sich mit der deutschen Einheit um eine „Wiederaufnahme des deutschen nationalen Geschichtsfadens" gehandelt habe. Ich würde aber gerade deshalb nicht von „Wiedervereinigung" sprechen; auch die Anführungszeichen geben nicht genügend Schutz vor der affirmativen Wirkung dieses Wortgebrauchs. Mit dem Begriff der Normalisierung kann hier ganz zentral vieles auf den Punkt gebracht werden. Es ist verwunderlich, warum dieser Begriff erst so spät in diese Nationendebatte eingeführt wurde, wird doch, wie Schobert richtig sagt, die nationale Frage als Frage der Normalisierung verhandelt. Der Historiker Christian Meier hat 1990 in der ZEIT („Wir sind ja keine normale Nation", ZEIT 39/90) eine Bilanzierung vorgenommen, die schon in diesem Jahr der frisch vereinten Republik die ganze oberflächliche Ambivalenz einer undialektischen Inanspruchnahme von Normalität erkennen ließ. – Normalität wird zugleich verneint und Normalisierung vollzogen: Was immer sich bewußt oder unbewußt durch Geschichte an „typisch deutschen" Eigenschaften tradiert habe, nunmehr könne nicht mehr die Gefährlichkeit dieser Eigenschaften behauptet werden. „Beachtliche Resultate" eines unumkehrbaren Lernprozesses (pluralistische Toleranz, Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Verfassungspatriotismus) sollen Garanten für eine unwiderruflich überwundene Phase des deutschen Nationalismus sein. Die Erinnerung an Auschwitz werde durch die in der Bundesrepublik „insgesamt erfreuliche Geschichte" seit 1945 „ein Stück weit gemildert"; jedenfalls dürfe Auschwitz kein Hinderungsgrund für die Integration der deutschen Republik in die Weltgesellschaft sein. Neuen Aufgaben müsse sich die deutsche Nation stellen, die nunmehr keine Möglichkeit mehr habe, einen Sonderweg zu gehen, d.h. „den politischen Zwerg zu spielen". Solche Positionierungen legen den Schluß nahe, daß mit der deutschen Einheit ein Wandel des liberalen Selbstverständnisses einherging. Damit ergeben sich für den Staat politische Handlungsspielräume, welche in der Nachkriegszeit noch unter vernünftig begründete Tabus gefallen waren. Erklärungsbedürftig ist vor allem die inkonsistente Gegenwehr der Linken. Warum sollen Linke sich an der Nation erfreuen, und wenn das möglich sei, warum an dieser? Die Linke steht in der Tradition der Aufklärung von Kant bis Marx – ja, und auch Habermas, der sich viele gute Gedanken gemacht hat zur Frage der deutschen Nation und über den Umgang mit der Vergangenheit, wie Jäger zu Recht hervorhebt. Insbesondere die von Habermas ausgearbeitete Dialektik der Normalisierung, die dieser den neokonservativem Versprechen der Normalität (Stürmer) gegenüberstellte, weist interessante, wenn auch nicht ganz von Ambivalenz freie Gedanken auf. Leider muß man in diesem Zusammenhang erwähnen, daß seit dem rot-grünen Regierungswechsel 1998 von der Bundesregierung ein undialektischer Gebrauch von der Dialektik der Normalisierung gemacht wird, so daß in der sogenannten Berliner Republik restaurative Tendenzen fortgesetzt werden. Habermas ist damit eher unfreiwillig in den Rang eines Staatsphilosophen der Berliner Republik gehoben worden – das ist mit dem späten Hegel durchaus vergleichbar. Ganz unschuldig ist er allerdings daran nicht, weil er zugunsten einer zivilgesellschaftlichen Moral oder Diskursethik, die auf die Möglichkeit von gesellschaftlichen Konsens orientiert ist, die Existenz von antagonistischen Klassen ausblendet, die aber, wie Winfried Wolf richtig einwirft, innerhalb des Nationalstaats sich widersprechende Interessen ausfechten. Diese Ausblendung seitens des Sozialphilosophen kommt den rot-grünen Regierungspolitikern ganz gelegen und korreliert mit ihrem Konsensgeschwafel und der leeren Wahlkampfphrase der gesellschaftlichen Mitte. Die Maxime von Habermas, daß es aufgrund von Auschwitz den Deutschen nunmehr geboten sei, sich als Weltbürger für Menschenrechte zu engagieren, statt die deutsche Nationalgeschichte fortzuschreiben, hat eine ironische Wendung erfahren und konnte somit zum Vehikel einer restaurativen Normalisierung werden. Schobert hat den neuralgischen Punkt dieser Ironie sehr treffend am Beispiel der Auslandseinsätze benannt: „Auslandseinsätze der Bundeswehr ›wegen Auschwitz‹" bzw. des ihm ähnlichen in seiner Wiederholung. Adorno-Kenner werden wissen, daß Scharping, Fischer und Schröder auf den kategorischen Imperativ aus der „Negativen Dialektik" praktische Konsequenzen haben folgen lassen. Und nun wird auch noch überlegt, deutsche Schutztruppen in den Nahen Osten zu entsenden – das treibt diese Ironie bis zur Perversion. Adorno indes hat sich dieser sicher in seinem Grabe weggedreht. Wenn man das Werk von Habermas etwas genauer unter die Lupe nimmt, könnte es sein, daß man weitere Schnittstellen findet, in denen diese ironische Wendung der Realpolitik bereits angelegt ist. Und auch wegen der praktischen Konsequenzen der damit legitimierten „Menschenrechtseinsätze" der Bundeswehr ist es wichtig, auf Auschwitz zurückzukommen. Dieses schlimmste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte sollte ansatzweise begriffen sein, wenn sich darauf bezogen wird, um damit einen Kriegseinsatz zu rechtfertigen. Das Begreifen von Auschwitz beginnt aber nicht mit der Empathie, aus der moralische Entrüstung resultiert. Statt dessen muß man durch die Eiswüste der Abstraktion gehen, d.h. einen Teil jener bürgerlichen Kälte mobilisieren, von der Horkheimer und Adorno sagen, sie habe Auschwitz erst möglich gemacht. Das klingt bei beiden durchaus sibyllinisch, weshalb oftmals das ganze allein als moralische Anklage an das Subjekt mißverstanden wird. Was indes mehr Beachtung finden sollte, ist die objektive Seite dieser bürgerlichen, d.h. dinglichen Kälte, zu derem Verständnis die marxsche Werttheorie der Schlüssel ist: die Gleichsetzung, d.h. Gleichgültigkeit von Mensch und Ding durch den Warentausch. In der Folge entstehe nicht nur das emanzipative Moment der Gleichheit unter den Menschen, sondern auch nichtige Gleichgültigkeit zu den Dingen, weshalb die Menschen im Kapitalismus – unabhängig davon wie „menschlich" sein Antlitz ist – dazu fähig werden, Menschen sachlich kalt, ohne Emotionen und Affekte, quasi fabrikmäßig zu töten, als würden sie überschüssige Waren entwerten. Das macht Auschwitz singulär zu allen Völkermorden, die bisher stattgefunden haben. Natürlich stimmt es auch, daß sich heute Auschwitz aufgrund kultureller, politischer und rechtlicher Barrieren nicht mehr so leicht wiederholen könnte. Aber die allgemeine Voraussetzung für Verdinglichung, d.h. Entmenschlichung ist immer noch gegeben. Und über die Verläßlichkeit jener Barrieren läßt sich schon auch einmal berechtigter Zweifel erheben angesichts der gegenwärtigen Aushebelung des Rechtsstaates mit rechtsstaatlichen Mitteln. Die Frage, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen im Zusammenhang mit Auschwitz stehen, könnte man in einem Beitrag dieser Länge nicht zufriedenstellend klären, aber das obige sei dann doch geschrieben als entschiedene Entgegnung zu Wagenknechts Ansicht, Auschwitz sei „hochprofitabel" gewesen – sie verkennt tatsächlich, wie Schobert anmerkt, die Differenz von „Vernichtung durch Arbeit" und der Arbeit der Vernichtung. Der Begriff der Nation wurde in dieser Debatte bisher zu wenig unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet und zugleich Auschwitz zu sehr auf das Problem der Nation beschränkt. Es gibt weiterhin gute Gründe, am Sozialismus festzuhalten und die Nation zu überwinden. Dieser Beitrag erschien in gekürzter Version zuerst im Freitag 17, vom 19. April 2002. Debatte um die Nation: Kontext:
sopos 4/2002 | |||
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