Den Aufsatz kommentieren Rückschreitender Fortschritt - Das gesellschaftliche Aroma von Hartz IVvon Sven Oliveira Cavalcanti (sopos)
Keine Gazette kann aufgeschlagen, keine Zeitung durchgeschaut und kein Magazin gelesen werden ohne daß man nicht indirekt auf die Segnungen des technischen Fortschritts verwiesen wird. Jede Reklame preist technische Neuerungen an, gar Revolutionen – die einzigen wie es scheint. Tatsächlich ist es möglich geworden den Ablauf einer Lagerhalle vom heimischen PC zu steuern, ein Fußballfeld innerhalb einer historisch einmaligen Zeit abzuernten und die Preise von agrarischen Grundnahrungsmitteln werden in Europe in einem solchen Maße subventioniert, daß sie ohne Zuzahlung fast geschenkt zu haben wären. Erwarten könnte man ein fast paradiesisches Leben: Niemals zuvor in der Geschichte der Zivilisationen waren die technischen Möglichkeiten so weit fortgeschritten wie heute; sie könnten eine Welt ohne Hunger und Elend ermöglichen. Die biblische Paradiesvorstellung stellt mittlerweile nur einen schalen Abglanz gegenüber des technisch machbaren dar. Wer bräuchte Milch und Honig, wenn die Lebensmittelabteilung eines Kaufhauses allen zur freien Verfügung stände? Paradiesisch und revolutionär bleibt jedoch allein die Reklame. Liest man die Bildzeitung, so schlagen einem die folgenden Zeilen entgegen: „Machen wir uns nichts vor. Die 40-Stunden-Woche kommt flächendeckend. Und dabei wird’s nicht bleiben! Millionen Arbeitnehmer wollen Lohn und Gehalt in bisheriger Höhe behalten. Dafür nähmen sie auch eine 44-Stunden-Woche in Kauf, wenn’s knüppeldick käme. Das ist bitter. Jede Wahrheit ist bitter.“ Viel bitterer ist die Wahrheit, daß der Widerstand gegen solch groteske Entwicklung nicht zahlreich genug ist. Was für eine Welt ist dies, die solche Widersprüche hervorbringt? Alljährlich kündigen Gewerkschaften einen heißen Herbst an und organisieren doch nur ein laues Lüftchen, für das den Herrschenden höchstens spärliche Sommerkleidung abnötigt, um es verfliegen zu lassen. Sobald die Pistole auf der Brust ist, kippte die IG-Metall gegenüber Siemens um: 40 Stunden ohne Lohnausgleich, Wegfall des Weihnachts- und Urlaubsgeldes. Übersehen wird dabei die Hose, die zu verlieren dem droh, dessen enger geschnallter Gürtel nicht genug Gürtellöcher aufweist, um ihn fest genug und enger zu zurren. Statt den Harz als Naherholungsgebiet allen und nicht nur gut betagten Senioren zugänglich zu machen, bekommt der nun eine IV, um das vierten Verarmungsstadium zu kennzeichnen – ein Vorgeschmack modernen Pauperisums. Die einfache Idee, daß die weltweiten Investitionen in Rüstung – man mag sich gar nicht vorstellen welche Fläche mit 5-Euro scheinen ausgelegt werden könnte – in zivile und wahrlich fortschrittliche Produktion angelegt werden könnte, scheint den Horizont zu sprengen. Statt dessen entsteht ein grotesker Kampf gegen den Terrorismus, gegen jene Abergläubigen, die nicht einmal einen Schrank habe, in den sie ihre Tassen stellen könnten. Falsche Protestation trifft falsche Wirklichkeit. Tatsächlich muß sich eine Gesellschaft an dem messen lassen, was sie sein könnte. Wer heute den Herrschenden und ihren Gegnern aufs Maul schaut, reibt sich verwundert die Augen: Ist genug Geld da? Ist nicht genug Geld da? Gehen wir mit der Krise keynesianistisch oder neoliberal um? Dabei ist das Unfaßbare die Existenz von Krisen selbst. Sogar die Profiteure der Krise könnten wohl auch ohne eine solche genug zum luxuriösen Leben zusammenbringen. So unvorstellbar kann die Umwandlung der Produktion eines Kampfbombers in ein ziviles Flugzeug nicht sein. So fern kann die Transformation einer Nagelbombe in eine Saatbombe, die ein Feld bestellt, nicht liegen. Doch wer die Armen arm hält und von denen, die wenig haben, nimmt, muß sich erklären - muß erklären warum der Weg weiter begangen wird. Jürgen Rüttgers tut dies: „Noch nie hat ein Volk seine Probleme dadurch gelöst, daß es weniger gearbeitet hat. Sondern immer dadurch, daß mehr gearbeitet wird.“ Die glänzenden Augen der Volksgemeinschaft triefen so heftig, am Gemeinsinn – dem sensus communis – vorbei, daß die innerstaatliche Feinderklärung der informellen großen Koalition längst verwirklicht ist: ein Innenministerium ist heutzutage mehr Repressionsministerium, denn das was es sein könnte: Wohlstandsicherung im Inneren. Was das Innere denn gar heute ist, definiert sich gegenwärtig mehr am scheinbaren Konkurrenten, denn am Menschen. Globalisierung heißt die Parole mit der in Form von Folklore und Verarmung gehandelt wird. Paradiesisch müssen die Zustände in Ungarn, Polen und anderswo sein, dort wo das Kapital droh auszuwandern. Welch Milch und Honig müssen für jene fließen, die sich gnädig schätzen dürfen, für einen global player die Haut zum Markte zu tragen. Da dem nicht so ist, bleibt der vom Gemeinsinn nur die Herrschaftssicherung. Die Herrschenden haben sich die Trümpfe des Rassismus und des Antisemitismus schon in ihr Blatt gemischt. Sie werden kommen, so wie das Volk die Probleme für die Herrschenden durch Mehrarbeit lösen muß. Wie viele Warnungen müssen noch verhallen? Bereits 1920 zitiert Tucholsky aus einem Brief eines Offiziers aus Hannover, auch meiner Geburtsstadt, datiert vom 17. Januar 1920: „Für mich steht es fest, daß der Beginn der Offensive gegen die Republik mit einem Judengemetzel beginnen wird. […] Es wird gar nicht mehr diskutiert, daß die Juden umgebracht werden sollen, sondern nur, wie man sie umbringen will. Hat der Deutsche denn nun alle Kulturerrungenschaften abgestreift?“[1] Nein, das hatte er nicht. Es war der Kern deutscher Kultur. Wer heute den Rüttgers hört, der weiß, daß die Konkurrenz der Völker entbrannt ist, obwohl sie in Wirklichkeit die Konkurrenz der Herrschenden ist. Solange die Völker die Signale nicht hören, stehen die Weichen auf Krieg. Welch ein Irrsinn, bei dem was die Welt sein könnte.
[1] Tucholsky, Kurt: Werke: Das Schloß, 1921 in: Werke: Bd. 2, S. 280f Kontext:
sopos 9/2004 | |||
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