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Der Berliner Kabarettist Dr. Seltsam leitet seit 15 Jahren jeden Sonntag Dr. Seltsams Frühschoppen und diverse andere kritische Veranstaltungen In meinem alltäglichen Sozial- und Wirtschaftsverhalten bin ich ein statistisch durchschnittlicher Mensch. Deswegen nehme ich meine Person als Beispiel, um zu untersuchen, was die Hartz IV-Reform ab Januar bei mir bewirken wird. Da ich früh entschlossen war, als Rebell, Aufputscher und Kabarettist zu existieren, war mir klar, daß mich kein Unternehmer einstellen würde und ich meinen Lebensunterhalt folglich woanders herkriegen mußte. Ich studierte diverse Sozialratgeber und fand, daß ich zwar auf niedrigem Niveau, aber doch abgesichert als Langzeitarbeitsloser durchkommen würde, falls die Gesetze so blieben. Ich fand das in Ordnung, mein Unterhalt kam die Gesellschaft äußerst billig, dafür machte ich Kunst und setzte einige wertvolle Dinge in Gang, womit meine Schuld gegenüber der Allgemeinheit bezahlt ist: Antimilitaristische öffentliche Kunst (Amok), Lesebühnen, Künstlerförderung, Club Existentialiste, Mühsam-Feste. Ich für mein Teil lebte mithin schon jahrelang im Kommunismus... Da ich zufällig für den Lehrer-Beruf studiert hatte, konnte ich einer Freundin in Cottbus helfen, ihre Arbeitslosenumschulungsklitsche zu etablieren. Dafür mußte sie nämlich, so war ihr hintenrum bedeutet worden, einen West-Lehrer einstellen, um Aufträge zu kriegen. So kolonialistisch ging es damals zu im Osten. Dieser »Grüßwessi« war ich. Genau 361 Tage lang, genau so wie ich es meinen Schülern im Kurs »Wie melde ich mich korrekt beim Arbeitsamt?« beigebracht hatte, war ich überbezahlter Schuldirektor und eine Zeitlang danach der teuerste Arbeitslose Kreuzbergs. Immer, wenn ich zu meinem Arbeitsberater kam, grinste ich ihn an: »Na, Herr Weber, haben Sie heute eine Stelle als linksradikaler Schulleiter im Angebot?« Die Arbeitslosenhilfe verringerte sich Jahr für Jahr um circa zehn Prozent, jetzt bin ich bei 500 Euro im Monat angelangt, der äußersten Schmerzgrenze. Nach Hartz 4 soll ich ab Januar 345 Euro erhalten. Ich mache mir Sorgen, schlafe schlecht, habe Herzschmerzen, und vor lauter Zukunftsunsicherheit fresse ich zuviel. In den Industriestaaten erkennt man die Armen am Fett. In derselben Nacht im Herbst 2002, nachdem ich Schröder seine Kampfansage gegen die Arbeitslosen hatte bellen hören, bekam ich zum ersten Mal in meinem Leben Hyperventilationsanfälle und dachte, ich müßte sterben. Der Notarzt beruhigte mich: Das sei normal bei unterdrückter Wut, ich solle aber mal intensiv nachdenken, gegen wen ich denn solche Haßgefühle gerade hätte, daß es mich quasi überschwemmt und autoaggressiv bedroht. Nun, da mußte ich nicht lange überlegen; ich beschloß, mich mehr um Gewerkschafts- und Sozialfragen zu kümmern und mich wieder zu organisieren. Fassen wir zusammen: Noch bevor irgendetwas beschlossen war, noch bevor auch nur ein Cent an meiner Person eingespart war, hatte Bundeskanzler Schröder schon etwas erreicht: Er hatte einen friedlichen, sozial integrierten linken Literaten in einen unversöhnlichen, mordgierigen, existenziell haßerfüllten Todfeind verwandelt. Ich wurde ganz krank, man attestierte ein neuartiges »Arbeitslosensyndrom« an mir, und ich mußte zur Kur, was unser Sozialsystem mal eben 9000 Euro kostete. Und alles ohne daß ein Cent eingespart wurde. Wenn ich mir vorstelle, daß ich nichts Besonderes bin, daß sich ganz dasselbe derzeit in Millionen Seelen abspielt, dann wage ich folgende Prophezeihung: Schröder wird nicht im Bett sterben! Selbst wenn er niemals im Leben nach Bagdad fährt. Er macht sich gerade seinen eigenen Irak hier in Berlin. Die Zeichen sind überall, auf dem verbotenen Buchumschlag des Schrödermörder-Krimis und in der Ohrfeige, die ihm ein Lehrer versetzt har. Ich an Schröders Stelle würde momentan ganz schön Angst kriegen. Wenn ich also ab Januar von 345 Euro leben soll, muß ich sehen, wie ich Kosten senken kann: Ich werde schwarzfahren, die GEZ betrügen, den Gaszähler umgehen, bei Karstadt klauen und mich bei Demonstrationen nicht mehr friedlich verhalten. Schon das zusammengenommen wird so viel volkswirtschaftlichen Schaden anrichten, daß die 150 Euro, die sie an mir einsparen wollten, schon nach drei Monaten für mehr Sicherheit ausgegeben werden müssen, also auch wieder für die Sanierung der Staatsfinanzen fehlen. Denn, wie gesagt, ich bin ja nicht der einzige, der dem Staat an dieser Stelle seinen kleinen sozialen Frieden aufkündigen wird. Dann werde ich mit ein paar Freunden die Sau rauslasssen. Wir werden die Türen des Arbeitsamts mit Sekundenkleber zupappen, Stinkbomben in Banken werfen, im SPD-Haus Knaller zünden, bei der Zwangsarbeit alle teuren Geräte kaputtmachen, im Sozialamt randalieren und Jauche ins Kanzleramt kippen, kurz: Mein Kinder-Ich, bisher durch Einsicht und Erziehung qualvoll dem Leben angepaßt, wird freigelassen, der immer unterdrückte kleine Anarchist in mir wird ganz neue bösartige Methoden finden, um die Sozialdiebe zu nerven. Täglich zu nerven! Schon im Kindergarten war ich unausstehlich. Das ist aber noch gar nichts, jetzt wird’s richtig teuer: Da ich bisher meine Miete selbst bezahlen mußte, war ich interessiert daran, daß sie schön billig bleibt. So habe ich mit meinen wechselnden verzweifelten Vermietern circa siebzehn Prozesse geführt und durch wundersame geniale Einfälle meines Anwalts alle gewonnen, das heißt, ich zahle immer noch die Miete von 1979, und das am Südstern, einer Kreuzberger Wohngegend, nach der sich alle Juppies der Stadt die Finger lecken. Vorne ist der blühende Hasenheide-Park mit allen Drogen dieser Welt, hinten die Radfahr-, Boule- und Wanderstrecke am Landwehrkanal, und am 1. Mai haben wir die schönsten Straßenschlachten. Und das alles, ich will Sie ja nicht neidisch machen, aber ständiges Kämpfen lohnt sich halt: für 90 Euro. Nach Schröders Rede habe ich mich mit meinem Vermieter zum ersten Mal freundlich unterhalten. Ich bekomme eine Heizung, endlich einen Balkon und eine vernünftige Schallisolierung, so daß ich meine geliebten Callas-Arien in Konzertlautstärke hören kann, ohne daß meine Nachbarn aus dem Bett fallen. Die neue Miete wird 350 Euro betragen und vom Sozialamt bezahlt werden. Das heißt, statt an mir zu sparen, muß der Staat für mich sogar 200 Euro mehr ausgeben, aus purer Bosheit. Das ist die gegenwärtige Gesetzeslage. Natürlich werden sie schnell die Gesetze ändern, aber damit noch mehr Unmut erzeugen. Und da es mir nicht alleine so geht, kann man jetzt schon ausrechnen, daß Hartz IV nicht nur mathematisch in die Hose geht, sondern daß die herrschende Klasse sich etwas einhandeln wird, wovon sie im Unterschied zu Italien und Frankreich fünfzig Jahre lang verschont geblieben ist: eine nachhaltige, unversöhnliche, radikal antikapitalistische gewaltbereite Massenbewegung. Wie hieß es immer so schön in den Sonntagsreden der Politiker: »Der soziale Frieden in unserem Lande ist unser höchstes Gut!« Tja, hätten sie das mal selber ernst genommen! Jetzt ist es zu spät. Denn soweit es an mir liegt, und wie gesagt, ich bin ja nur einer unter Millionen, läßt sich heute schon sagen: Die 50 Milliardäre und die eine Million Millionäre dieses Landes, also diejenigen, für deren Vermögenssteigerung an mir gespart werden soll, werden für diese miesen kleinen Einsparungen am Ende bezahlen: Der Preis wird ihre Abschaffung sein.
Erschienen in Ossietzky 14/2004 |
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