Den Aufsatz kommentieren Wer die Macht hatDebatten um internationale Herrschaft und Hegemonievon Stephan Günther Innerhalb der Anti-Globalisierungsbewegung gibt es keine Zweifel: Die G8 "benimmt sich (...) wie eine Weltregierung", "sie ist exklusiv und hierarchisch".[1] Ein idealer Adressat für Kritik und Widerstand also. Denn: "Acht Regierungschefs haben nicht das Recht, über das Schicksal von sechs Milliarden Menschen zu bestimmen."[2] Die Kritiker der Kritiker dagegen ziehen aus der jüngsten Entwicklung des globalen Kapitalismus den Kurzschluß: "Das alte, dumme Schema Metropole - Peripherie ist endgültig ruiniert".[3] Länder wie China, Indien oder Brasilien seien "zu Motoren des weltweiten Wachstums geworden". Dort hätten sich Mittelklassen gebildet, "wie sich an den Hunderten Millionen Menschen aus dem so genannten Trikont zeigt, deren Einkommen vergleichbar mit dem im ‚Norden' ist". Die jüngeren Debatten der theorieorientierten Linken um Macht, Herrschaft und Hegemonie gehen weit über die Fragestellung hinaus, wie groß der Einfluß der G8 auf das Weltgeschehen sei. Sie reichen von den Verschiebungen auf internationalem Parkett - mit der "neuen Macht" China, der "Gegenmacht aus Lateinamerika" oder dem "unipolaren Machtzentrum USA" - über das Verhältnis von Staat und Kapital mitsamt der "Macht der Konzerne" bis hin zu gesellschaftlichen Entwicklungen wie etwa der neuen Armut, dem neuen Reichtum und damit der Verteilung innerhalb eines Landes. Sind Unterscheidungen wie Zentrum/Peripherie oder Süd/Nord noch sinnvoll angesichts einer globalisierten Welt, in der China Deutschland bald als "Exportweltmeister" ablösen wird, in der die neue Bildungselite aus Indien stammt und in der Unternehmensstrukturen entstanden sind, die längst nicht mehr an nationalen Kategorien festzumachen sind? Um Veränderungen im weltweiten Machtgefüge feststellen zu können, bedarf es zunächst eines Überblicks über die diversen Theorien und Ansätze zu Macht und Herrschaft, die in der aktuellen Debatte eine Rolle spielen. Die Macht des Bestehenden...Unter Macht ist nach Max Weber schlicht "die Chance eines Menschen oder einer Mehrzahl solcher (zu) verstehen, den eigenen Willen in einem Gemeinschaftshandeln auch gegen den Widerstand anderer Beteiligter durchzusetzen."[4] Die Dependenztheorie der 1960er und 70er Jahre hat diese Webersche Definition und den Marxschen Begriff von Ausbeutung schlicht - und teils falsch - auf das Verhältnis von Staaten, von nationalen Ökonomien, übertragen. Danach beuten die Staaten des industrialisierten Nordens die unterentwickelten und abhängigen Länder des Südens aus. Der Reichtum des Nordens basiere also auf der Armut des Südens. Dieses Analysemuster wird von großen Teilen der globalisierungskritischen Bewegung immer wieder aufgegriffen. Das Bündnis "Gerechtigkeit jetzt!" stellt fest, "daß die Spielregeln des Welthandels offenbar nicht dazu gemacht sind, für Gerechtigkeit zu sorgen".[5] Die "reichen Industriestaaten" nutzten "ihre politische und wirtschaftliche Machtstellung bei internationalen Verhandlungen zu ihren Gunsten aus". Die Folgen seien ungleicher Handel und ungerechte Verteilung. Nicht zufällig wirken die Argumente dieser Kritiker seit Jahrzehnten so gleichförmig wie veraltet. Denn jede Entwicklung wird in das Korsett der fertigen Theorie eingepaßt, die in klassischer Manier die These von bestehenden Herrschaftsverhältnissen der Welt (die USA als einzig verbliebene Weltmacht mit ihren Verbündeten aus Europa und Japan, die den Süden ausbeuten und dazu diverse Institutionen von der G8 über die WTO bis zum IWF und der Weltbank nutzen) immer wieder verifiziert. Selbst die dependenztheoretische These von den ungerechten Terms of Trade wird von der Bewegung immer wieder reproduziert, obwohl auch kritische Ökonomen darauf hinweisen, daß die Terms of Trade den Schwankungen des Marktes gehorchen und damit schlecht für viele Beteiligte, aber kein systematisches Instrument der Ungerechtigkeit sind. Mehr noch als auf die Dependenztheorie bezieht sich die Globalisierungskritik auf eine Reihe von Imperialismustheorien, die häufig auf der Variante von Rosa Luxemburg aufbauen. Sie definierte Imperialismus als Ausdruck "der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus." Vor allem die Politik der multinationalen Konzerne wird theoretisch in diesem Kontext verortet. Neuere Ansätze der Imperialismustheorie integrieren die Ansätze von Antonio Gramsci zu politischer Macht und Hegemonie und wenden sie auf die internationalen Beziehungen an. Der italienische Kommunist Gramsci hatte Hegemonie als einen Typus von Herrschaft definiert, "der im Wesentlichen auf der Fähigkeit basiert, eigene Interessen als gesellschaftliche Allgemeininteressen zu definieren und durchzusetzen".[6] Mit diesem Begriff hat Gramsci die demokratische Form von Macht und Herrschaft gefaßt, in der eine "Zivilgesellschaft" um kulturelle und politische Hegemonie kämpft. Ähnlich beschrieb Michel Foucault die Funktionsweise von Macht, die - anders als Herrschaft - in einem gesellschaftlichen Prozeß immer wieder neu umkämpft sei, hinterfragt und neu aufgeteilt werde. "Wo es Macht gibt", schrieb Foucault, "gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht."[7] Anders als Herrschaft, die mit institutionalisierten Mitteln durchgesetzt wird und damit zumindest auf Zeit nicht verhandelbar ist, ist Macht ein Prozeß und keine Konstante. Problematisch dabei ist, daß Foucault den Machtbegriff sowohl auf das Feld der Herrschaft als auch auf das der Politik anwendet und einen "äquivoken Begriff der Macht" verwendet, ohne "die Differenz zwischen dem bestimmten Einrichtungsmodus von Gesellschaft (Herrschaft) und dem Streit über diese Einrichtung (Politik) zu denken".[8] Gramscis Hegemonie- und Foucaults Machtbegriff eint die Vorstellung, daß beide Seiten der Macht - Sender wie Empfänger - aktiv am Geschehen teilhaben müssen. Die Macht in einer demokratisch strukturierten Gesellschaft ergibt sich danach aus der Fähigkeit herrschender Gruppen und Klassen, ihre Interessen durchzusetzen, so daß sie von subalternen Gruppen und Klassen als Allgemeininteresse angesehen werden. Somit gibt es weitgehend gemeinsame gesellschaftliche Vorstellungen über die Verhältnisse und ihre Entwicklung. Hegemonie erzeugt insofern einen "Konsens der Regierten". Beide Ansätze begreifen Macht nicht als feste Struktur, sondern als ein sich aus gesellschaftlichen Widersprüchen und Ideologien ergebendes Phänomen. Die Begriffe Macht, Hegemonie oder Herrschaft mitsamt ihren Theoriekonstruktionen sind zudem selbst Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit, auch und gerade, weil sie diskursiv hergestellt werden. Der "Konsens der Regierten" ist da nur folgerichtig. ... und die Mächte des MarktesEmpirisch ließe sich beides bei der jüngsten globalkapitalistischen Entwicklung nachweisen: Die Fortsetzung des Bestehenden wie der Beginn einer neuen machtpolitischen Ära. Die makroökonomischen Daten zeigen sowohl historisch-institutionelle Vorteile der Industriestaaten wie auch aktuelle Tendenzen der Märkte, die den "jungen" Ökonomien zugute kommen. Tatsächlich werden 80 Prozent des Welthandels von nur 25 (von insgesamt 186) Ländern kontrolliert. Doch gehören dazu neben den USA, Deutschland und Frankreich inzwischen auch China, Südkorea, Mexiko, Malaysia, Thailand und Indien, allesamt so genannte Schwellen- oder Entwicklungsländer. Nicht dazu gehören dagegen ehemalige Kolonialmächte und EU-Mitgliedsstaaten wie Portugal oder Griechenland.[9] Zugleich haben mehr als 50 Prozent aller multinationalen Unternehmen ihren Hauptsitz in den USA und weitere ca. 40 Prozent in Europa und Japan. Zu einem nicht unerheblichen Teil basieren die Wachstumszahlen zahlreicher Schwellenländer auf den Umsatzsteigerungen multinationaler Konzerne. Deren Umsätze übersteigen bisweilen das Bruttosozialprodukt ganzer Staaten. Wal-Mart etwa hat höhere Umsätze als das Bruttosozialprodukt der Türkei, IBM und die Philippinen liegen etwa auf demselben Level, ebenso Sony und Peru.[10] Die Entwicklung seit Ende des Ost-West-Konflikts und dem Beginn der "Neuen Weltordnung" zeigt also zwei Tendenzen: Unter manchen Staaten hat sich der gesellschaftliche Reichtum ein wenig verteilt. Die Kluft zwischen Ländern wie China, Thailand, Indien, Brasilien oder Mexiko einerseits und den klassischen Industriestaaten andererseits ist kleiner geworden - jedenfalls was die makroökonomischen Daten anbelangt. Auf der anderen Seite hat sich der Reichtum auf weniger Individuen und weniger Unternehmen konzentriert. Laut der Zeitschrift Forbes besitzen 691 Dollarmilliardäre ein Vermögen von 2,2 Billionen US-Dollar. Sie wie auch die multinationalen Konzerne partizipieren ungleich mehr an der ökonomischen Globalisierung als die allermeisten Staaten. Die Fragen nach der Macht der G8 und die nach dem Sinn, zwischen Süd und Nord, zwischen Zentren und Peripherien zu unterscheiden, können mit Empirie also kaum beantwortet werden. Zu viele Entwicklungen finden parallel statt, als daß in ihnen eine klare Tendenz zu erkennen ist. Und hatte nicht schon Marx deutlich gemacht, daß scheinbare Tatsachen gesellschaftliche Beziehungen verbergen? Wenden wir uns also lieber wieder Analysen zu, die beanspruchen, theoretisch angeleitet zu sein. Attac erklärt in seinem Lexikon der Globalisierung die Funktionsweise von Herrschaft so: "Herrschaft in der modernen Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die Heraufkunft riesiger Bürokratien in Staat und Wirtschaft. Rationalisierung und Bürokratisierung durchziehen auch den Prozeß der Globalisierung. Herrschaft ist nicht mehr denkbar ohne gewaltige strategische Planungsanstrengungen und ohne die massenmediale Manipulation der Köpfe." Die Schlußfolgerung dieser Definition wird allerdings im Konjunktiv formuliert: "Der überwiegende Konsens lautet, daß wir es heute mit einer "Entsubjektivierung" von Macht, mit anonymen Herrschaftsapparaten, mit einem komplexen Spiel von Funktionseliten zu tun haben. Es sei sinnlos geworden, nach konkreten ‚Herren', nach Personengruppen zu fahnden, die Macht noch so ausüben könnten wie die absoluten Herrscher und Räuberbarone in früheren Zeiten."[11] Man hat also bei Attac die Kritik an den eigenen Positionen nicht nur wahrgenommen, man begegnet ihr sogleich mit einer aktualisierten Version: "Diese Mehrheitsmeinung setzt allerdings voraus, daß das System der Checks und Balances der Moderne noch funktioniert. Daß also die verschiedenen Steuerungsbereiche der Gesellschaft - staatliche Verwaltung, Judikative, Privatwirtschaft, die repräsentativen Organe der Demokratie - eine gewisse Autonomie besitzen. Doch im postmodernen globalen ‚Empire' beobachten wir einen Zusammenbruch dieser auf der Existenz von Nationalstaaten basierenden Ordnung, der bürgerlichen Steuerungsinstanzen, der demokratischen Strukturen. Viele der im alten System erworbenen Positionsvorteile und Klassenprivilegien werden inzwischen auf globaler Ebene von bestimmten maßgeblichen Gruppen zur immer rücksichtsloseren, räuberischen, privaten Akkumulation von Geldmacht eingesetzt." Will heißen: Macht innerhalb der bürgerlich verfaßten Gesellschaft an Einzelnen festzumachen, sei zwar im Grundsatz falsch (trotzdem tut es Attac gerne). Weil die global handelnden Akteure jedoch den staatlichen Rahmen verlassen hätten und so rücksichtslos wie räuberisch die Märkte plünderten und dabei jedes staatliche Steuerungsinstrument unterliefen, könnten sie auch nicht in bürgerlichen Kategorien gefaßt werden. Von Herren und KnechtenDieses Argumentationsmuster zieht sich wie ein roter Faden durch die Texte der globalisierungskritischen Szene. Von "Heuschrecken" ist da die Rede, von "Blutsaugern", "Plünderern", "Ausbeutern". Der Staat müsse wieder Herr werden über die Märkte, fordert Attac folgerichtig und setzt sich für Tobin-Steuern und andere international gültige staatliche Regulationsinstrumente ein. Es geht dem Bündnis also darum, etablierte Herrschaftsstrukturen wiederherzustellen, obgleich es an anderer Stelle genau jene kritisiert. Unter den Tisch fällt bei der Anklage der neoliberalen Marktherrschaft auch allzu gerne, daß beispielsweise die G8 nicht an staatlichen Strukturen vorbei agiert, sondern im Gegenteil ein Bündnis von acht Staaten ist. Es sind die Staaten und ihre Vertreter in der Gremien der Welthandelsorganisation, der Weltbank oder des Internationalen Währungsfonds, die globale Strukturen erst neu aufbauen. Die an der Staatsgläubigkeit von Attac ansetzende, berechtigte Kritik erlaubt es aber nicht, bestehende internationale Machtverhältnisse zwischen den Staaten in der Analyse komplett zu übergehen. Das klassische Modell Metropole/ Peripherie mag als solches zu statisch sein. Als historisches Verhältnis mit postkolonialer Aktualität ist es jedoch nach wie vor von Bedeutung. Das Verhältnis zwischen Süd und Nord, zwischen Dritter und Erster Welt kann nicht ohne Berücksichtigung der kolonialen Vergangenheit verstanden werden. Dazu gehören die Besitzverhältnisse etwa in zahlreichen afrikanischen Staaten, die Abhängigkeit beim Export von Firmen aus den ehemaligen Mutterländern oder auch langfristige infrastrukturelle Folgen wie die noch aus kolonialen Zeiten stammende Zerstörung ökonomischer Ressourcen und Ausbeutung von Rohstoffen. Auf institutioneller Ebene im engeren Sinne gehört zu diesen zwischenstaatlichen Machtverhältnissen die Hegemonie innerhalb der Vereinten Nationen, wie sie in der Sitzverteilung im UN-Sicherheitsrat zum Ausdruck kommt. Und auch die exklusive Zugehörigkeit zu den Staatengruppen bringt internationale Herrschaftsverhältnisse zum Ausdruck. Insofern mag die Gruppe der Acht ein Relikt aus vergangenen Zeiten sein, aber es ist ein nach wie vor sehr wirkungsmächtiges. Anmerkungen:[1] www.attac.de: Sonderseite zum G8-Treffen in Heiligendamm [2] Buchholz, Christine/ Kipping, Katja (Hg.): G8. Gipfel der Ungerechtigkeit. Wie acht Regierungen über 6.000.000.000 Menschen bestimmen. VSA, Hamburg 2006 [3] Kunze, Carlos: Die archaische Bejahung. In: jungle world, 3.1.2007 [4] Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1976 [5] wto.gerechtigkeit-jetzt.de [6] Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. Argument Verlag, Hamburg/ Berlin 1991ff. [7] Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt 2003 [8] Lindner, Urs: Alles Macht, oder was? Foucault, Althusser und kritische Gesellschaftstheorie. In: PROKLA 145, Dezember 2006 [9] Atlas der Globalisierung. Le Monde diplomatique, Paris 2006 [10] ebenda [11] Attac: Lexikon der Globalisierung. www.attac.de Literatur:Lewed, Karl-Heinz: Eine "Theorie zur Verletzbarkeit von Herrschaft"? In: krisis 30, Münster 2006 Linn, Johannes F./Bradford, Colin I.: Einstieg in die Reform der Global Governance: Von der G8 zu einem L20-Gipfelforum? In: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, Hintergrund, Juli-August 2006 Massarrat, Mohssen: Kapitalismus, Machtungleichheit, Nachhaltigkeit. Perspektiven revolutionärer Reformen. VSA, Hamburg 2006 Stephan Günther ist Mitarbeiter im iz3w. Kontext:
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