Den Aufsatz kommentieren Normalisierte AußenpolitikZum Verhältnis von Vergangenheitsbewältigung und der Restauration des ius ad bellum in Deutschlandvon Marcus Hawel (sopos) Zwischen Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik besteht ein kausaler Zusammenhang. Will man eine andere Außenpolitik als Alternative zur vorherrschenden Normalität, muß man immer wieder bei der Aufarbeitung der deutschen und europäischen Vergangenheit ansetzen und dafür Sorge tragen, daß eine vernünftige Aufarbeitung im kollektiven Gedächtnis[1] Wirkmacht entfaltet und behält. Das kollektive Gedächtnis ist zwar nicht der wesentliche bestimmende Faktor für die Gestaltung der Außenpolitik - es ist ein weicher Faktor, während die aus den kapitallogisch-systematischen Anforderungen eines kapitalistischen Staates abgeleitete Staatsräson ein harter Faktor ist. Gleichwohl besaß jener weiche Faktor des kollektiven Gedächtnisses in Deutschland aufgrund der katastrophal verlaufenen Vergangenheit ein ernstzunehmendes Gewicht, das jahrzehntelang mitbestimmend gewesen war, - aber auch nur weil es die starke Vertretung seitens der alliierten Besatzungsmächte erfahren hatte. Die staatliche Souveränität Deutschlands war eingeschränkt, und damit hatte das kollektive Gedächtnis einen besonderen Einfluß auf die Ausrichtung der deutschen Außenpolitik. Dies galt allerdings bereits schon immer weniger für die 80er Jahre, als der deutsche Staat zu einer Wirtschaftsmacht aufgestiegen war und sich die `ökonomische Rationalität´ mehr und mehr durchsetzen konnte. Die Grundlagen der deutschen Außenpolitik waren aus der Sicht der deutschen Eliten jedoch noch nicht rational genug. Konservative hofften auf größeren Einfluß des Neorealismus[2] und Neoliberalismus auf die programmatische Ausrichtung der deutschen Außenpolitik. Ökonomische Rationalität stand hier einer moralischen Vernunft gegenüber, wie sie sich partiell im kollektiven Gedächtnis verfestigt hatte und damit sich als Hürde für eine militarisierte Normalisierung erwies. Zugleich deutete sich mit dem kollektiven Gedächtnis aufgrund seines selektiven Zugriffs auf Geschichte auch die Chance an, die Hürde zu überwinden, wenn sich mittels instrumentalisierender Umdeutung der selektiv wahrgenommenen Vergangenheit das kollektive Gedächtnis für eine Normalisierung im Sinne der Neorealisten in Anschlag bringen ließe. Das ideologische Fundament der deutschen Außenpolitik seit 1945 war allerdings nicht einfach auswechselbar. Es mußte Stein für Stein abgetragen werden: an- und abgekratzt in mühevoller und mühseliger Kleinarbeit, und die abgetragenen Segmente mußten mosaikartig durch neue ersetzt werden: in salamitaktischem Tempo und mit einer verschleierten (Friedens-) Rhetorik vorgetragen, damit es dem öffentlichen Zensus des kollektiven Gedächtnisses entging und nicht Alarm schlug. Darin versteckte sich Sinn und Zweck der vergangenheitspolitischen Normalisierung: das kollektive Gedächtnis für den postmodernen Zeitgeist des alltagspolitischen Pragmatismus neoliberalen Einschlags geschmeidig zu machen. Ziel der Neoliberalen und Neorealisten, deren Einfluß auf die deutsche Außenpolitik nach 1945 seit 1989/90 nie hätte größer gewesen sein können, ist es, die Interessen des deutschen Staates nüchtern zu maximieren und ihnen damit noch größeren Einfluß zu verschaffen. Die Gestaltung von Außenpolitik gehört zu den Bereichen staatlicher Praxis, die am wenigsten einem demokratischen Einfluß unterliegen. Wenn von Staatsräson die Rede ist, ist die Gestaltung von Politik dem demokratischen Einfluß weitgehend entzogen. Deutsche Außenpolitik wird noch immer nach aus der preußisch-deutschen Tradition überlieferten Prinzipien gemacht. Die Prinzipien sind durch geostrategische und geopolitische Annahmen bestimmt. Für eine lebendige, nicht instrumentalisierte Ethik ist in der Außenpolitik kaum Platz. Eine lebendige Aufarbeitung der Vergangenheit kann dennoch erhebliche Auswirkungen auf die Gestaltung der Außenpolitik haben. Die öffentliche Erinnerungspraxis ist in Deutschland aber nicht lebendig; sie ist verdinglicht,[3] d.h. von sämtlichen Politikfeldern, in denen aus einer Aufarbeitung der Vergangenheit praktische Konsequenzen für den Staatsaufbau und die gesellschaftliche Organisation folgen müßten, isoliert. Praktische Konsequenzen erfolgen nur, wenn sie der Normalisierung und im Sinne der Normalität dienlich sind. Der Umgang mit der deutschen Vergangenheit steht im Spannungsfeld von vernunftgeleiteter Aufarbeitung und ihrer Instrumentalisierung für politische Zwecke (Vergangenheitspolitik)[4]. Die deutsche Vergangenheit war ein gravierender Faktor, der einer Normalisierung der deutschen Außenpolitik deutlich im Wege stand. Um eine falsche Normalisierung wieder rückgängig zu machen, ist es darum vernünftig, zum einen eine demokratische Kontrolle der Außenpolitik zu erstreiten, und zum anderen die Aufarbeitung der Vergangenheit von ihrer Instrumentalisierung zu befreien und lebendig zu halten. Normalität und NormalisierungNormalität und Normalisierung sind diskurstragende Kategorien, deren Auswirkungen auf die politische Praxis ambivalent sind. Einerseits erfolgt durch die Diskursivierung[5] die Sichtbarmachung der Praxis; sie erfüllt damit eine Voraussetzung für die demokratische Kontrolle der außenpolitischen Praxis. Andererseits lenkt die Diskursivierung aber auch von den tatsächlichen Inhalten der Praxis ab, die parallel und unabhängig von ihrer Diskussion voranschreitet und Fakten schafft, die ihre normative Kraft auf die Verfassungswirklichkeit und auf die öffentliche Meinung entfalten. Der vorherrschende Begriff der Normalität ist für einen affirmativen und instrumentellen Gebrauch in der Praxis von Anfang an zugeschnitten. Der Normalitätsdiskurs ist ein Nationalismus verschleierndes Vehikel.[6] Nationalismus ist Ideologie par excellence, weil durch ihn Einzelinteressen als Gemeinsinn verschleiert werden. Der Normalitätsdiskurs ist ein ideologisches Instrument, um ein taktisches Geschäft abzuwickeln. Um dem Einhalt zu gebieten, muß der Diskurs dechiffriert, d.h. einer Ideologiekritik unterzogen werden. Damit ist freilich ausgesagt, daß Ideologien virulent bleiben. In der Welt ist Rechtfertigung; das wird ganz besonders am Normalisierungsdiskurs deutlich. Nach 1945 ist die Welt nicht wieder ihrer vollen Gestalt nach in Terror übergegangen, wie Adorno noch in den fünfziger Jahren geschrieben hatte.[7] Ideologie hat eine Hülle; sie ist nicht wie im Faschismus das drohende Antlitz der Welt. Ideologiekritik (immanente Kritik) ist das geeignete Verfahren, um die als allgemeine Interessen getarnten Partikularinteressen zu entschleiern. Das impliziert den Normalitätsbegriff nicht von außen, sondern vom eigenen Anspruch aus zu kritisieren und verborgene Interessen und Bedürfnisse freizulegen. Es geht um den Nachvollzug des Anspruchs, der Rechtfertigung und der Argumentation, d.h. um Prüfung auf Schlüssigkeit und Widersprüche sowie um die Reflektion der gesellschaftlichen Bedeutung des ideologisch ausgerichteten Wahrheitsgehalts. Ihre praktische Seite zeigt die Kritik in der Aneignung der Begriffe durch Veränderung ihrer inhaltlichen Stoßrichtung (Veränderung des Gravitationszentrums im Begriff) auf der Suche nach der Alternative zur vorherrschenden Normalität. In dem Begriff Normalität steckt das Wort Norm. Hinsichtlich der Herkunftsgeschichte der Worte Norm und Normalität ist festzustellen, daß das Wort Norm viel älteren Ursprungs ist als das Wort Normalität. Während die Herkunftsgeschichte von "Norm" bis in die Antike zurückreicht, tauchen "Normalität" und "Normalisierung" erst in der kapitalistischen Moderne auf. Diese zeitliche Differenz markiert auch die begriffliche Differenz zwischen einem Alltags- und einem wissenschaftlichen Verständnis von Normalität. Das Alltagsverständnis von Normalität korrespondiert eher mit der aus der Antike stammenden, vormodernen Bedeutung von norma; das wissenschaftliche Verständnis von Normalität befindet sich dagegen im Einklang mit den explizit modernen Implikationen. Im Alltagsverständnis ist Normalität ein Synonym für Üblichkeiten oder Selbstverständlichkeiten des Alltags. Das ist sehr nah an der ursprünglichen Bedeutung von Norm, das aus der antiken Bautechnik stammt. norma (lat.) heißt Winkelmaß oder Richtschnur und gehörte neben der Setzwaage (libella) und dem Senkblei (perpendiculum) zu den drei Hilfsmitteln, um geometrisch grade und statisch stabile Bauwerke zu errichten.[8] Von der Bedeutung von norma als Winkelmaß oder Richtschnur wurde im allgemeinen Sinne Maßstab, Regel, Muster, Vorschrift und leitender Grundsatz abgeleitet. Diese Ableitung markiert die Übertragung der Bedeutung von der Bautechnik auf geistige und soziale Phänomene. Die göttliche Natur übernahm die Funktion der bautechnischen Richtschnur: Norm als richtiger Lebensweg und als religiös moralischer Regelkodex. Im Zuge der Moderne wird die Norm säkularisiert und inhaltlich immer mehr auf Zweckmäßigkeit ausgerichtet (Ethik des gesellschaftlichen Zusammenhalts, Ertrag, Erfolg, Profit). Im Übergang der Philosophie zur Sozialwissenschaft (Hegel, Comte, Durkheim) findet eine Dynamisierung und Flexibilisierung des Normenbegriffs statt. Die Norm wird zu einer dynamischen und gesellschaftlich wandelbaren Kategorie. Die Worte Normalität und Normalisierung tauchen ab 1759 in den Lexika auf und waren bis Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht allgemein gebräuchlich. Als normal wird lexikalisch das bestimmt, was der Regel entspricht und sich in der richtigen Mitte hält. Dem liegt die gaußsche Normalverteilung zu Grunde. Die Begriffe werden im Zuge der französischen Revolution von 1789 zuerst im Gesundheits- und Erziehungswesen verwendet (im Sinne organischer Gesundheit und ecole normale). Der explizit moderne Charakter der Begriffe verweist auf den Umstand, daß eine normative Klasse (Bürgertum) die politische und ökonomische Macht im Staat errungen hat.[9] Die Begriffsbestimmungen waren aber ideologisch, da das Bürgertum den normativen Charakter seiner Klassenexistenz darin nicht erkannte, sondern weiterhin aus Natur ableitete. Mit Marx läßt sich der Begriff "Normalisierung" als kapitalistische Normierung aus dem Wertgesetz ableiten (Kapital als "radikaler Leveller"; abstrakter Warentausch als Vereinheitlichung des Nicht-Identischen; Zirkulation als die große Retorte, wo alles hineinfliegt und als Gleiches wieder herauskommt)[10]. Die ökonomischen und technischen Rationalisierungsprozesse schaffen nicht nur einheitliche Maßstäbe (Normalmeter, Normalspur, Normalarbeitstag, Normalgewicht), sondern normieren auch das staatliche Herrschaftsgebilde, das sich auf die Erfordernisse des Kapitals einstimmt (Normalstaat) - mithin auch die Form der Emanzipation von willkürlicher Herrschaft (Demokratie, Rechtstaat). Im marxschen Werk ist dieser Zusammenhang allerdings nicht thematisiert, sondern blinder theoretischer Fleck. Für den Normalisierungsprozeß des deutschen Staates nach 1945 ist dieser kapitallogisch-systematische Zusammenhang unabhängig von noch anderen Kräften der Normalisierung von zentraler Bedeutung (movens). Kapitallogische-systematische Normalität und das ius ad bellumDie kapitallogisch-systematische Ableitung von Normalität berührt die Frage nach der Zwecksetzung und Funktion des Nationalstaats im globalisierten Kapitalismus, bzw. nach den Aspekten staatlicher Souveränität; - sie ist eine idealtypische Ableitung. Das Kapital verliert allerdings tatsächlich real seine Beißhemmungen. Staat und Gesellschaft richten sich stromlinienförmig zum Kapital, seinen Anforderungen und Interessen aus. Aus der kapitallogisch-systematischen Normalität leitet sich ab, daß ein kapitalistischer Staat auf eine vollständige Souveränität nach innen und außen angewiesen ist. Nach außen schließt die Souveränität das ius ad bellum, das Recht zum Krieg, mit ein. Außenpolitik dient dem Erhalt, Ausbau und der Festigung von Machtpositionen des souveränen Nationalstaats, der positive Rahmenbedingungen für die Entfaltung seines nationalen und transnationalen Kapitals schaffen muß. Außenpolitik dient demzufolge der Nutzen- und Effizienzmaximierung der Nationalökonomie. Zwischen den Staaten herrscht Konkurrenz um die Anteile ausländischer Märkte und um die besseren Standortbedingungen des transnationalen Kapitals. Seitdem mit der bipolaren Weltordnung auch die Systemkonkurrenz weggefallen ist, nimmt die systemimmanente Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Staaten um Zugriff und Gestaltungsmacht gegenüber ausländischen Märkten wieder zu (Globalisierung). Das staatliche Militär erfüllt den Zweck des Schutzes nicht nur der Grenzen und des Staatsvolkes (Landesverteidigung), sondern vor allem auch der Umsätze und Profite nationaler wie transnationaler Kapitale. Der Status eines Nationalstaats drückt sich somit auch in der Schlagkraft des Militärs aus. Die Voraussetzung für die Souveränität eines kapitalistischen Staates besteht in der Abgestimmtheit und Funktionalität der Triade aus Wirtschaft, Politik und Militär nach innen und außen. Für Deutschland ergab sich hieraus der Normalisierungskomplex. Außenpolitische Souveränität war nach 1945 aberkannt und bis 1989/90 nur eingeschränkt zurückerlangt worden. Die außenpolitische Normalisierung des vereinten deutschen Staates ist in erster Linie darum auf das ius ad bellum gerichtet gewesen, dessen Wiederherstellung nicht nur ein Problem der Vergangenheitspolitik und von diplomatischen bilateralen Beziehungen, sondern auch ein strukturelles Problem der Bundeswehr gewesen ist. Der Weg zum ius ad bellum mußte vergangenheitspolitisch und juristisch freigemacht und im strukturellen wie technischen Sinne militärpolitisch wiederhergestellt werden. Die Bundeswehr war nach einhelliger Ansicht der deutschen Militärs und Außenpolitiker zwar ihrem ursprünglichen und im Grundgesetz verankerten Auftrag gemäß verteidigungsfähig, aber nicht kriegsfähig und mithin nach 1989/90 nicht wirklich bündnisfähig, da sich die NATO von ihrem ursprünglichen Verteidigungsauftrag "emanzipierte". Normalisierung bedeutete im außenpolitischen Bereich demzufolge nicht nur die Entsorgung der belasteten deutschen Vergangenheit, die das kollektive Gedächtnis als Barrikade für die Umstrukturierung hin zu einer Interventionsarmee in Anschlag brachte, sondern ebenso die Herstellung von Einsatzfähigkeit der Bundeswehr sowohl in einem juristischen (rechtliche Klärung von out of area-Einsätzen der Bundeswehr) als auch in einem technischen Sinne (qualitative Aufrüstung und Umstrukturierung der Bundeswehr, Bildung von schnellen Eingreiftruppen). Die kapitallogisch-systematische Normalisierung ist allerdings kein "automatisches Subjekt". Zu ihrer Durchsetzung bedarf es normalisierender Akteure, die allerdings in der Regel nicht idealtypisch kapitallogisch vorgehen, sondern mit abweichendem Bewußtsein den Vorgang der Normalisierung kulturell verschleiern und politisch rechtfertigen. Das Normalfeld der "westlichen Wertegemeinschaft"Im Sinne der gaußschen Normalverteilung ist derjenige Bereich, der innerhalb der festgelegten Grenzen des Normalen sich befindet, als Normalfeld zu bezeichnen. Das Normalfeld diente als Maßstab der Normalisierung.[11] Die westlichen Werte (westliche Wertegemeinschaft) waren das Normalfeld für die deutsche Normalisierung. Der "Westen" fungierte als Chiffre für Freiheit, Demokratie, Republikanismus, Liberalität, Zivilität, Rechtstaatlichkeit und freie Marktwirtschaft. Westlich zu sein, bedeutet in diesem Sinne normal zu sein. Spätestens seit Mitte der 90er Jahre bestimmte zur Frage der Normalität den öffentlichen Diskurs die Behauptung, Deutschland könne nunmehr auf eine 50-jährige demokratische "Erfolgsgeschichte" zurückblicken und sei endgültig ein westlicher Nationalstaat geworden. Man kann diesbezüglich von einer "sinnstiftenden Meistererzählung"[12] sprechen, die als Eintrittskarte für den Kreis der "Erwachsenen" (USA, Großbritannien, Frankreich u.a.) diente. Warum der Diskurs über Westlichkeit und Normalität in Deutschland zu einer "sinnstiftenden Meistererzählung" werden konnte, hängt mit den Staatsverbrechen in der deutschen Vergangenheit zusammen, deren Konsequenzen bis in die Gegenwart hinein zu spüren sind und für deren Erklärung das von Helmuth Plessner[13] begrifflich ausgearbeitete Theorem der "verspäteten Nation" herangezogen wurde. Plessners Kernthese ist, daß politischer Liberalismus und demokratischer Rationalismus, wie sie im Zuge der bürgerlichen Emanzipationen in England und Frankreich wirkmächtig geworden waren, der deutschen Gesellschaft fremd geblieben sind. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation verkörperte das Alte, während das Neue nur in Loslösung vom Reich entstehen konnte. So blieb das Kernland des Reiches rückständig im Alten verhaftet und kultivierte die Idee des Volkstums in Abgrenzung zur römisch-katholischen Rechtsidee, wie sie im Zuge der Revolution von 1789 in Frankreich Fuß faßte und nur bis nach Süd-Deutschland (Limes) gelangte, in Preußen aber vehement zurückgedrängt wurde. In der Folge sei es in Deutschland nicht zu einer selbstbewußten Emanzipation des Bürgertums und einer republikanisch verfaßten Nationalstaatsbildung gekommen; statt dessen lebten Obrigkeitsstaat und Kadavergehorsam fort, die dann den Nährboden für den Faschismus ausmachten. Die "Verspätung" der deutschen Nationalstaatsbildung wurde von den politischen Akteuren der Normalisierung angenommen und erhielt dadurch als generalisierende negative Norm reale Wirkmacht; die angenommene Verspätung sollte aufgehoben werden. - Indem sich der deutsche Staat nach 1989/90 in einem größtmöglichen Zusammenhang als westlichen Nationalstaat vorstellte, gab er an, die für den Weg in den Faschismus mitverantwortliche historische Verspätung aufgehoben zu haben und legitimierte darüber die außenpolitische Normalisierung, insbesondere die Wiederherstellung des ius ad bellum. Normalisierung als KampfplatzDa die Normalisierer selbst zunächst nicht homogen in ihren Annahmen und Interessen gewesen sind, wurde die Normalisierung schon in der alten Bundesrepublik zu einem Kampfplatz und die Interpretation der Vergangenheit zu einer Machtfrage zwischen Konservativen und Liberalen. Denn unmittelbar aus dem Geschichtsbild leiten sich politische Konsequenzen für Gegenwart und Zukunft ab. Die Mitte der 1990er Jahre markierte den Höhepunkt dieser vergangenheitspolitischen Auseinandersetzung. Vor dem Hintergrund diverser 50. Jahrestage geschichtsträchtiger Ereignisse (Befreiung von Auschwitz, Ende des Zweiten Weltkrieges etc.) fand in der Öffentlichkeit eine scheinbar lebendige Aufarbeitung der Vergangenheit statt, die aber unter Verdacht geriet, nur deshalb so umfassend und weitgehend frei von Schuldabwehr zu sein, weil man gleichzeitig den wachsenden Abstand zum historischen Geschehen demonstrierte, indem die Aufarbeitung in einen Normalitätsdiskurs mündete. Es wurden aus der Aufarbeitung keine, dem Normalitätsbegehren widersprechenden Konsequenzen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaftsordnung zugelassen. Die Vergangenheitsaufarbeitung blieb somit abstrakt, d.h. vom Gesamtzusammenhang isoliert, und verkümmerte zu einer ritualisierten, verdinglichten Erinnerungspraxis, die dem Zweck diente, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß der deutsche Staat - insbesondere das Militär - demokratisch eingebunden und kontrolliert werden. Zwischen Liberalen und Konservativen ist seitdem kaum ein Unterschied mehr in ihren Grundannahmen zu erkennen. Es herrscht diesbezüglich weitgehende Einigkeit zwischen den politischen Lagern, weshalb auch nicht mehr um Begriffe (z.B. Befreiung oder Besatzung, Singularität oder Vergleichbarkeit, Aufarbeitung oder Schlußstrich etc.) wie noch im Historikerstreit 1986 gestritten wird. Die Streitlust für oder gegen Normalisierung ist einer pragmatisch-realpolitischen und realitätsgesättigten Konsensbereitschaft auf beiden Seiten gewichen, so daß sich die ehemals gegensätzlichen Positionen, wie sie bis Mitte der 1990er Jahre zwischen Liberalen und Konservativen noch existiert haben, zu einer neuen Einheit zusammenfanden. Erst diese allgemeine Konsensbereitschaft, die Normalisierung der Normalisierer, konnte die letzte Etappe des finalen Weges der außenpolitischen Normalisierung möglich machen. Die Normalisierung war somit seit Mitte der 1990er Jahre kein Kampfplatz mehr; sie verlief gradlinig und befand sich weitgehend im Einklang mit einer (nur idealtypisch ableitbaren) kapitallogisch-systematischen Normalitätsbestimmung. Eine selbstkritische und verantwortungsvolle Reflexion auf die Verbrechen in der deutschen Geschichte, gleichsam eine lebendige Aufarbeitung der Vergangenheit stand dennoch dem Wunsch nach einem normalisierten Umgang mit der Geschichte und einer Militarisierung der Außenpolitik deutlich im Wege. Aus diesem Umstand ergab sich die Fortsetzung von Entsorgungs-, Relativierungs- und Instrumentalisierungsstrategien im Ungang mit der deutschen Vergangenheit. Die deutsche Bevölkerung mußte noch von der Militarisierung der deutschen Außenpolitik überzeugt werden. Außenpolitische Normalisierung seit 1989/90Nach 1945 wurde von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkrieges die staatliche Souveränität Deutschlands aberkannt und bis 1989 nur teilweise wieder zurückgegeben. Erst mit der deutschen Einheit von 1990 erhielt der deutsche Staat formal seine vollständige Souveränität wieder zurück. Von diesem Zeitpunkt an begann der finale Normalisierungsprozeß. Denn von Normalität konnte mit der formalen Zurückerlangung der staatlichen Souveränität noch keine Rede sein. Militärpolitische Handlungsfreiheit, das ius ad bellum war noch keineswegs wieder hergestellt - dem entgegen stand das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung, welches aus der verbrecherischen deutschen Vergangenheit eine zentrale Lehre gezogen und die sich im Grundgesetz manifestiert hatte: Nie wieder Krieg. Führte die ungeklärte Verfassungslage bezüglich von militärischen Einsätzen der Bundeswehr out of area direkt nach der deutschen Einheit noch zu einer weitgehend passiven Haltung (Scheckbuchdiplomatie) Deutschlands im Golfkrieg 1991, wurden ein Jahr später mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR), in denen die außenpolitischen Interessen des deutschen Staates sowie die Aufgaben der Bundeswehr vom Verteidigungsminister Stoltenberg neu definiert wurden, die militärpolitischen Weichen für eine Umstrukturierung der Bundeswehr von einer reinen Verteidigungsarmee hin zu einer Interventionsarmee gestellt. Die militärpolitische Umstrukturierung orientierte sich an der von den USA neu erlassenen und auf das Ende der bipolaren Weltordnung abgestimmte Sicherheitsdoktrin, die eine Transformation der NATO in dieselbe Richtung einleitete. Bis in das Jahr 1994 erfolgten Einsätze der Bundeswehr out of area, die im militärischen Grauzonenbereich angesiedelt waren: Bau eines Krankenhauses für UNO-Soldaten in Kambodscha, Beteiligung an der Luftbrücke ins eingekesselte Sarajewo, Einsatz von Kriegsschiffen und Flugzeugen in der Adria zur Überwachung des gegen Serbien verhängten Embargos, Einsatz von AWACS-Flugzeugen zur Überwachung der Flugverbotszonen über Bosnien, Humanitäre Intervention in Somalia. Mit diesen Einsätzen im militärischen Grauzonenbereich wurden von der Bundesregierung Fakten geschaffen, die ihre normative Kraft auf die Verfassungswirklichkeit ausübten. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte schließlich 1994 die Verfassungsmäßigkeit von out of area-Kampfeinsätzen der Bundeswehr, sofern sie im Rahmen von Bündnisverpflichtungen und im Einklang der UNO stattfinden. Der Bürgerkrieg im auseinanderbrechenden Jugoslawien, insbesondere das Massaker von Srebrenica im Jahr 1995, bei dem bis zu 8000 bosnische Muslime von serbischen Soldaten ermordet wurden, führte zu einer Abkehr von pazifistischen Positionen bei den noch in der Opposition befindlichen Sozialdemokraten und Grünen. Wenige Monate nach dem rot-grünen Regierungswechsel 1998 begann die NATO mit deutscher Beteiligung einen Angriffskrieg gegen Serbien. Der sozialdemokratische Verteidigungsminister Scharping nannte den Kriegsausbruch einen Glücksfall für die Möglichkeit Deutschlands, sich als verantwortungsvoller und souveräner Staat in der westlichen Staatengemeinschaft zurückzumelden. Der deutsche Staat wolle in dem sich neu konstituierenden Europa eine herausragende Rolle spielen. Die Konflikte auf dem Balkan dienten der Bundesregierung als Anlaß, die neue Sicherheitsarchitektur in Europa unter deutscher Führung voranzutreiben. In der deutschen Öffentlichkeit, die weitgehend die einzige gewesen ist, in der der instrumentelle Vergleich mit dem Nationalsozialismus (Milosevic = Hitler) eine solch gravierende Rolle gespielt hat, ging es denn auch um den spezifisch deutschen Problemzusammenhang der Normalisierungsfrage, der die vergangenheitspolitische Auseinandersetzung vorgelagert war, weil jener die beiden ungeschriebenen Präambeln des Grundgesetzes "Nie wieder Auschwitz" und "Nie wieder Krieg" als Grundsäulen des kollektiven Bewußtseins im Wege standen. In der vergangenheitspolitischen Auseinandersetzung mit den beiden Grundsäulen in aktueller Beziehung auf die im ehemaligen Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen gingen die beiden Grundsäulen ihres Begründungszusammenhangs verloren und wurden gegenseitig neutralisiert. Übriggeblieben sind Phrasen, die gegeneinander ausgespielt und mit neuem Inhalt gefüllt, d.h. instrumentalisiert werden konnten. Die beiden im Rahmen der globalen Terrorismusbekämpfung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 stattgefundenen Kriege gegen das Taliban-Regime in Afghanistan und zum Sturz des Diktators Saddam Hussein im Irak, dienten dem deutschen Staat dazu, den Prozeß der militärpolitischen Normalisierung zum Abschluß zu bringen. Die Terroranschläge vom 11. September 2001, die von der Bundesregierung als "Angriff gegen die zivilisierte Welt" gedeutet wurden, hätten gezeigt, daß eine neue Form der Selbstverteidigung nötig geworden sei, so daß das Militärische nicht mehr tabuisiert werden dürfe. Es gehe vorrangig um die Stabilität der Weltwirtschaft, um ungehinderte Zugänge zu Ressourcen und Märkte, sowie um eine Gewichtverschiebung in der Weltordnung, in der Deutschland im Verhältnis zur USA nicht "Alliierter zweiter Klasse" sein dürfe. Es ging demnach um eine Positionierung des deutschen Staates in einer neuen Weltordnung, welche eine Erweiterung des nationalen Sicherheitsbegriffes, die "Verteidigung Deutschlands auch am Hindukusch" (Peter Struck) und eine vollständige "Enttabuisierung des Militärischen" (Gerhard Schröder) erforderlich mache. Während der deutsche Staat sich im Afghanistankrieg 2002 mit Kampfeshandlungen noch aktiv beteiligt hat, blieb die militärische Unterstützung im Irakkrieg 2003 weitgehend passiv. Die Ausübung normaler Souveränität kann auch bedeuten, Bündnissolidarität zu verweigern, wenn es nationalen Interessen entspricht. Der von Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 2002 ausgerufene "deutsche Weg" sollte die inzwischen unpopulär gewordene Formel der "uneingeschränkten Solidarität", wie sie unmittelbar seit dem 11. September 2001 galt, wieder zurücknehmen - zumindest einschränken. Der "deutsche Weg" erfaßte den Kern des Normalitätsbegehrens, in dem ein stolzes und selbst- wie traditionsbewußtes Nationalbewußtsein zum Ausdruck kommen sollte, das Respekt und Ansehen in der Welt verlangt. Etwas Irreführend war die Bezeichnung vom "deutschen Weg", weil es sich faktisch um einen Weg zur Selbstbehauptung Europas gegen die USA gehandelt hat. In Deutschland galt vom zweiten Golfkrieg 1991 bis zum dritten Krieg am Golf 2003, daß der Ausnahmezustand außerhalb des eigenen Territoriums und out of area außenpolitische Souveränität, konkret: das (allgemein durchs Völkerrecht eingeschränkte) ius ad bellum herstellt. Zwischen Krieg, Souveränität und Vergangenheitspolitik existierte insofern ein für Deutschland spezifischer Produktionszusammenhang, der auf Normalisierung und Normalität zielte. - Insofern fällt es schwer, der Aussage zu folgen, der deutsche Staat sei als Konsequenz aus zwei verschuldeten Weltkriegen und Auschwitz eine Friedensmacht geworden. Der Anspruch auf außenpolitische Normalität als Bestandteil der deutschen Staatsräson wurde vordergründig umgesetzt, indem der Staat den außenpolitischen und militärischen Konflikt suchte, um sich im Windschatten der militärischen Interventionen von UNO, NATO und USA zu normalisieren, d.h. Normalität zu demonstrieren, statt den Konflikt wirklich aus humanistischen und ehrlichen Motiven lösen zu helfen. Europa als erweitertes Operationsfeld der NormalisierungDie außenpolitische Normalisierung besitzt einen Doppelcharakter. In ihrer Zielsetzung: der Produktion von deutscher Normalität, nahm die Normalisierung zum einen Anleihen aus der Vergangenheit (traditionelle Norm der nationalstaatlichen Souveränität), zum anderen ist sie in die Zukunft gerichtet und orientiert sich an einer neuen, werdenden Vorstellung von Normalität (dynamisierte Norm der transnationalstaatlichen Souveränität). Letzteres findet im Rahmen der europäischen Integration statt und macht es notwendig, den außenpolitischen Normalisierungsprozeß nicht nur im nationalstaatlichen, sondern auch im europäischen Rahmen zu betrachten. Die Europäische Integration muß deshalb als ein erweitertes Operationsfeld der deutschen Normalisierung angesehen werden. Innerhalb der Europäischen Union beansprucht der deutsche Staat zusammen mit Frankreich eine Führungsposition. Faktisch nimmt Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen Kraft innerhalb Europas eine hegemoniale Stellung ein. Kein Land in Europa und in der Welt kann es sich leisten, keine guten diplomatischen Beziehungen zu Deutschland zu haben. Der deutsche Staat kann es sich wiederum - aufgrund seines immensen Erstarkens in Europa und damit in der Welt nach der deutschen Einheit und der Auflösung der bipolaren Weltordnung - leisten, sich von dem "historisch mitgeschleppten Image-Makel"[14] zu entledigen und die Auseinandersetzung mit der verbrecherischen Vergangenheit ad acta zu legen. Zwar ist Deutschland auf Europa angewiesen, und deutsche Interessen können nur im europäischen Einklang zur Geltung kommen, d.h. müssen in europäischer und nicht in deutsch-nationaler Rhetorik vorgetragen werden - aber weil umgekehrt Europa auch auf Deutschland angewiesen ist, können sich deutsche Interessen bei der Gestaltung der europäischen Integration deutlicher durchsetzen als diejenigen anderer Mitgliedstaaten der EU, weshalb von einem deutsch dominierten Europa die Rede sein kann, das Gefahr droht, zu einem deutschen Europa zu werden. Der deutsche Staat galt unter den europäischen Staaten bis 1989/90 als ein "ökonomischer Riese", der zugleich wegen seiner von den Siegermächten auferlegten Selbstbeschränkungen ein "politischer Zwerg" gewesen war. Mittlerweile ist Deutschland mit Hilfe der Europäischen Union größtenteils normalisiert, d.h. politisch wie ökonomisch ein Riese geworden. Die Furcht vor einer deutschen Vorherrschaft über den europäischen Kontinent ist dadurch sehr real geworden, verbindet sich doch damit ein hohes Risiko für Europa, falls in Deutschland einmal eine Generation an die Schaltstellen der staatlichen Macht gelangen sollte, die weitaus hemmungsloser die dazugewonnenen Machtchancen des deutschen Staates im kapitalistischen und imperialistischen Konkurrenzkampf einsetzt, weil sie sich an historische Schuld oder Verantwortung nicht mehr gebunden fühlt und die von Helmut Kohl so genannte "Gnade der späten Geburt" als Recht auf Normalität für sich in vollem Umfang beansprucht. - Sieben Jahre rot-grüne Regierungspraxis mögen vielleicht nur ein Vorgeschmack darauf gewesen sein. Überlagert wird die Gefahr einer deutschen Vorherrschaft über Europa allerdings durch die ökonomischen, militärpolitischen und geopolitischen Selbstbehauptungsbemühungen gegenüber den USA.[15] Die Selbstbehauptung Europas hat als treibendes Motiv die ältere Motivation für eine europäische Integration, die Eindämmung durch Einbindung Deutschlands, in den Hintergrund gerückt - sie war auch längst ihrer Wirkmacht (Eindämmung) verloren gegangen, weil die Einbindung dem deutschen Staat zu mehr Machtchancen verholfen hat und weil gleichzeitig sich dieses Deutschland soweit europäisiert hatte, daß das Mißtrauen, der deutsche Staat könnte versucht sein, ein drittes Mal mit militärischer Gewalt nach der Weltmacht zu greifen, weitgehend bei den europäischen Nachbarn verschwand. In drei wesentlichen Bereichen äußert sich diese Selbstbehauptung Europas: 1.) in der stetigen Erweiterung der EU, so daß allmählich ein Wirtschaftsraum entsteht, der größer und mächtiger ist als derjenige der USA; 2.) in der Schaffung einer von der NATO und damit von den USA unabhängigen EU-Armee, die einmal der US-Armee den Rang als weltpolitische Ordnungsmacht ablaufen soll; 3.) in der politischen Integration und im Verfassungsprozeß, der eine größtmögliche Handlungsfähigkeit und europäische Souveränität herstellen soll. Die Frage nach einer Alternative zur vorherrschenden NormalitätDie Frage nach einer Alternative zur vorherrschenden Normalität muß eine Antwort auf zwei Ebenen finden. Solange wie Kapitalismus und Nationalstaat die beiden wesentlichen Organisationsprinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind, kann nur eine realpolitische Alternative zur vorherrschenden Normalität realisiert werden. Diese besteht allgemein darin, einen Begriff von äußerer Souveränität vorzubereiten, der sich durch den weitgehenden Verzicht auf äußere Souveränität im traditionellen Sinne auszeichnet und sich positiv artikuliert durch ein wirklich friedvolles und wahrhaft verantwortungsvolles Engagement zur Gestaltung einer vernünftigen und gerechten Welt. So verstandene Souveränität wäre das direkte Gegenteil des erweiterten Diktums von Carl Schmitt, wonach Souverän ist, wer nicht nur über den eigenen, sondern auch über den fremden Ausnahmezustand verfügt. Langfristig realpolitisch umzusetzen wäre dies durch die Stärkung der UNO als Gewaltmonopolisten, durch ein konsequentes globales Abrüstungsregime, ein global umgesetztes Verbot von Rüstung und Waffenexport, d.h. die Trockenlegung der gesamten Kriegsindustrie, ferner durch humanitäre Maßnahmen nach innen und außen, d.h. durch massiven Ausbau von Entwicklungshilfen für die Dritte Welt sowie soziale Fürsorge für die Armen und Schwachen und die Fesselung kapitalistischer Kräfte. Im Rahmen der kapitalistischen und nationalstaatlichen Organisationsprinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens kann bis dahin aus Vernunftgründen der Einsatz von militärischen Mitteln nicht kategorisch für jede denkbare Situation ausgeschlossen werden. Eine "Friedensmacht" ist nicht derjenige Staat, der seine militärischen Zwangs- und Gewaltmittel vollständig liquidiert, denn es gibt Situationen, in denen es nicht nur zur Selbstverteidigung, sondern zur Verteidigung der gesamten Menschheit vernünftig ist, zur Gewalt zu greifen. Sicher ist aber nur eines: Kriegen kann ihre Legitimität nur dann einwandfrei zugesprochen werden, wenn ihnen keine kapitalistischen oder imperialen Interessen zu Grunde liegen. Aber auch, wenn den Alliierten im Zweiten Weltkrieg solche Interessen nicht fremd waren, war es richtig, daß sie gegen das Deutsche Reich und damit auch gegen Auschwitz Krieg geführt haben. Die militärische Intervention Vietnams gegen das massenmörderische Regime der Roten Khmer in Kambodscha 1979 war richtig und zugleich imperialistischen Motiven unverdächtig. In Ruanda hätte man 1994 militärisch intervenieren müssen, um einen Völkermord zu verhindern. Wenn man allerdings wie Joschka Fischer eine Interventionspflicht bei Völkermord fordert, bedarf es einer genauen und allgemein verbindlichen Definition dessen, was Völkermord überhaupt bedeutet. Und es bedarf einer unabhängigen Instanz, die darüber wacht, daß der Begriff des Völkermordes nicht zum Spielball partikularer Interessen wird. Ansonsten schrumpft der Begriff des Völkermordes zu einem Etikett, das immer dann einer Situation zugewiesen wird, wenn mit einer militärischen Intervention gleichzeitig auch imperiale Interessen realisiert werden können, und das immer dann im Gebrauch vermieden wird, wenn imperiale Interessen nicht vorhanden sind. Da eine solche unabhängige Instanz nicht existiert, es vermutlich so schnell auch nicht geben kann, ist der ganze Gedanke einer "Interventionspflicht bei Völkermord" vorerst nicht nur hinfällig, sondern geradezu gefährlich. Moral und Gewalt sind keine Gegensätze, sondern verstärken sich gegenseitig: Steigern sich die moralischen Argumente vermehren sich in der Regel auch die Bereitschaft zur Gewalt und ihre Rechtfertigung.[16] Kriege nur moralisch zu beurteilen, ist deshalb keine Lösung; es führt in Parteilichkeit, Chaos und wieder Krieg. Die richtige Frage ist dagegen die nach dem verantwortlichen Umgang mit Gewaltpotentialen, um Kriege einzugrenzen oder gar zu verhindern. Wenn nationale Streitkräfte auf Angriffspotentiale verzichten, kommt mehr Sicherheit in die Staatenwelt, ebenso auch in die innerstaatliche Welt. Deutschland und Europa wären erst dann Friedensmächte im Rahmen des Bestehenden, wenn die Streitkräfte mit maximal ausreichendem Umfang in Form von Verteidigungsstreitkräften ausschließlich zur Landes- und Bündnisverteidigung ihrem strikten Wortsinn nach ausgerüstet und eingesetzt werden würden. Die Mitwirkung an UNO-Einsätzen im Sinne der UN-Charta und KSZE, nicht aber an UNO-ermächtigten Einsätzen mit Kampfauftrag, scheint geboten, muß aber mit einer maximalen Ausweitung der Entwicklungshilfen, der maximalen Abrüstung und dem radikalen Stopp von Rüstung und -exporten einhergehen. Für militärische Einsätze der Europäischen Union bedürfte es wenigstens einer demokratischen Kontrolle durch das EU-Parlament, d.h. eines Parlamentsvorbehaltes, wie er für Deutschland im Grundgesetz verankert ist, seit einiger Zeit aber stetig ausgehöhlt und schon bald durch ein Entsendegesetz faktisch ersetzt werden wird. Europa aber wäre erst dann eine Friedensmacht, wenn es von der Umsetzung einer europäischen Militärstaatlichkeit abläßt und auf die Weltintegration Europas setzt. Eine angemessene Inanspruchnahme von Normalität würde u.a. darin bestehen, daß die Integration der Welt am Beispiel Europas und unter den Vorzeichen einer vernunftgeleiteten Aufarbeitung der Vergangenheit fortgeführt wird.[17] - Jedenfalls nicht darin, einer von Deutschland dominierten EU die Attribute einer imperialistischen Großmacht zu verschaffen, die sich im globalen Kräftespiel mit China, Rußland und den USA mißt. Langfristig aber geht es um noch viel mehr, das allein realpolitisch nicht zu realisieren ist. Nur wenn die beiden Organisationsprinzipien dieser Welt, wenn Kapitalismus und Nationalstaatlichkeit überwunden und in diesem Sinne die Gesellschaften in die Freiheit geführt werden, kann sich eine Alternative zur vorherrschenden Normalität realisieren, die nach einem Gedanken von Walter Benjamin als der "wirkliche Ausnahmezustand" bezeichnet werden darf: "Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der `Ausnahmezustand´, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen. - Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten [und auch im einundzwanzigsten; MH] Jahrhundert `noch´ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist."[18] Es geht um nichts Geringeres als um die sozialistische und kosmopolitische Utopie einer befreiten Welt und des ewigen Friedens, die wir bei aller notwendigen Verstrickung in Realpolitik nicht aus den Augen verlieren dürfen. Dieser Aufsatz erschien zuerst in der UTOPIE kreativ, Nr. 193, November 2006, S. 1020-1032. Anmerkungen:[1] Der Begriff des "kollektiven Gedächtnisses" wird in Abgrenzung zum "historischen Gedächtnis" verwendet. Diese Unterscheidung beruht auf Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967. - Das kollektive Gedächtnis ist partikular, zeitgebunden, beruht auf Erfahrung, Gefühl (Trauma), ist gekennzeichnet von einer Lebendigkeit der Vergangenheit und einer permanenten inhaltlichen Neubestimmung der Vergangenheit (durchaus auch im psychologischen Sinne als Deckerinnerung: Erinnerung an die Erinnerung, beeinflußt von Impulsen der Ich-Abwehrmechanismen, Abwehr von Schuld: Verdrängung etc.). Das "kollektive Gedächtnis" spielt eine Schlüsselrolle im öffentlichen Diskurs zur Legitimierung politischer Strukturen, Instrumentalisierung (Geschichtspolitik), da es selektiv auf Geschichte zugreift. - Das "historische Gedächtnis" ist dagegen universal, beruht auf Erkenntnis, Wissen und der Vergangenheit, wie sie von der Wissenschaft mit dem Anspruch auf interesseloser Wahrheit auf Basis von Dokumenten und historischen Quellen rekonstruiert wird. [2] Der "politische Realismus" findet sein ideologisches Fundament in der "Realistischen Schule". Vertreter in den USA waren z.B. Z. Brzezinski und H.A. Kissinger. Mitte der 50er Jahre fand in den USA eine Strategiediskussion statt zu der Frage, welche Möglichkeiten und Perspektiven zur Anpassung des Imperialismus an die veränderten Existenzbedingungen (Kalter Krieg, Systemantagonismus) gegeben sind. Die Schlagworte waren "Politik der Stärke" und "flexibles Reagieren" und hatten beide eine explizit antikommunistische Stoßrichtung. Theoretische Anleihen wurden u.a. bei Machiavelli, Hobbes und Hume unternommen, die in den amerikanischen Pragmatismus/Utilitarismus integriert wurden. Der Neorealismus greift die strategischen Grundannahmen auf, muß sich allerdings wiederum mit den veränderten Existenzbedingungen nach Ende der Bipolarität arrangieren. [3] Wenn man bedenkt, daß nach einem Satz aus der "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno alle Verdinglichung ein Vergessen ist, (vgl. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 244) wird die ganze Paradoxie gegenwärtiger Erinnerungspraxis deutlich: sie befördert das Vergessen. [4] Norbert Frei hat für die konkrete politische Praxis des Umgangs mit der Vergangenheit den sehr treffenden Begriff der `Vergangenheitspolitik´ vorgeschlagen. - Siehe Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und der NS-Vergangenheit, München 1996. - Während sich der von Frei geprägte Begriff eher auf justizielle, legislative und exekutive Entscheidungen im Umgang mit der Vergangenheit bezieht, wäre der von Edgar Wolfrum ins Gespräch gebrachte Begriff der `Geschichtspolitik´ als allgemeiner Oberbegriff zu verstehen, wenngleich eine solche weitere Differenzierung unnötig ist, da der Begriff der `Vergangenheitspolitik´ auch auf andere Bereiche ausgedehnt werden könnte. - Vgl. auch Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999. [5] Der Begriff der "Diskursivierung" stammt von Michel Foucault und ist nicht bloß als eine Anreizung zur Diskussion zu verstehen, indem also etwas öffentlich zur Kontroverse gemacht wird. Diskursivierung meint die Verengung des Gesprächs durch eine Reduzierung und Privilegierung der sprechenden Subjekte. Um am Diskurs teilzunehmen, bedarf es einer Qualifikation und eines Zugangs, d.h. einer Machtposition und der Anerkennung bestimmter Umgangsformen und Sprechregeln. Der Diskurs findet in einem Raum statt, in dem Wahrheit ein Arrangement ist, d.h. den Interessen und Machtkonstellationen unterliegt, die den Diskurs ordnen. Diskurse gewährleisten demzufolge eine instrumentelle und ideologische Ausrichtung der Wissensproduktion und Wahrheitsfindung. - Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. 1991, S. 25f, 29, 32. [6] Dabei wird sich affirmativ auf Thomas Nipperdey berufen, der qualitativ zwischen drei affektiven Bindungen zur Nation ("durchschnittlicher Nationalpatriotismus", "Normal-Nationalismus" und "Radikalnationalismus") unterscheidet. (Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Zweiter Band. Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 595ff, 597ff, 602ff.) Weder vom durchschnittlichen Nationalpatriotismus noch vom Normal-Nationalismus, wohl aber vom Radikalnationalismus soll der Weg zu Hitler geführt haben. Für Nipperdey entgleiste 1914 der Normal-Nationalismus während seiner "Aufholjagd" im imperialistischen Wettlauf mit den anderen mächtigen Staaten - mit den bekannten katastrophalen Folgen: der Metamorphose in den "Radikal-Nationalismus". Durch die trennscharfe Unterscheidung zwischen den qualitativen Stufen, die in der deutschen Geschichte zeitlichen Phasen zugeordnet werden, können mithin bestimmte Bereiche der jüngsten deutschen Geschichte von der Last der Vergangenheit befreit und als vermeintlich unbelastete, positive Anknüpfungspunkte für die Gegenwart angeboten werden. Genau diesen Zweck scheint Nipperdey mit seinen Differenzierungen auch verfolgt zu haben, jedenfalls entpuppt sich diese Absicht bei den Konservativen, die sich affirmativ auf Nipperdey beziehen, wenn sie einem gewöhnlichen deutschen Nationalgefühl und dem Stolz auf historische Errungenschaften das Wort reden: "Unsere Vergangenheit hat viele große Momente. Auch wir haben Anlaß zu Selbstvertrauen, Würde und bescheidenen Stolz. Was uns im letzten Jahrhundert gelungen ist, war nach dem Vorangegangenen nicht selbstverständlich. Es ist, alles in allem, eine großartige Leistung." - Arnulf Baring: Es lebe die Republik, es lebe Deutschland! Stationen demokratischer Erneuerung 1949-1999, Stuttgart 1999, S. 336. [7] Vgl. Th. W. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre (1954), in ders: GS, Soziologische Schriften I, Frankfurt a.M. 1979. [8] Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 6: Mo-O, Basel 1984, "Norm", S. 906. [9] Vgl. Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische. (Aus dem Französischen von Monika Noll und Rolf Schubert), München 1974, S. 169. [10] Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1, in: MEW Bd. 23, Berlin 1969, S. 145f. [11] Jürgen Link nennt diese Normalisierungspraxis, dessen idealtypische Apparatur das Modell der gaußschen Normalverteilung ist, Normalismus. Normalismus ist, so Link, die Ideologie der gaußoiden Mitte; über sie werde in Form eines "Netzes von Dispositiven", das einen Anpassungs- und Homogenisierungsdruck vermittelt, Normalität hergestellt. Link unterscheidet diesbezüglich zwei Normalisierungsstrategien. Wenn der Anpassungsdruck als direkte Aufforderung (Zwang), sich anzupassen, an die Subjekte gegeben wird und der Maßstab der Normalität aus statischen Natur-, Wesens- oder Gottesvorstellungen abgeleitet wird, spricht Link von Protonormalismus. Werde die Vorstellung, was normal sei, im Sinne einer Normalverteilung zunächst durch eine statistische Erhebung ermittelt und es dann den Subjekten selbst überlassen, ob sie sich anpassen, spricht Link von einem Flexibilitätsnormalismus. Letzterer habe sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemein durchgesetzt. - Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 2. Aufl., Wiesbaden 1999 (1. Aufl.: 1997). [12] Vgl. Phillip Gassert: "Ex Occidente Lux? Der Westen als nationaler Mythos der Berliner Republik", in: vorgänge Heft 2/2001, S. 15-22. [13] Vgl. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1959), 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1998. [14] Vgl. Moshe Zuckermann: Gedenken und Kulturindustrie. Ein Essay zur neuen deutschen Normalität, Berlin/Bodenheim 1999, S. 30 f. [15] Auch wenn die Große Koalition die Pflege der transatlantischen Freundschaft wieder in den Vordergrund rücken will, kann davon ausgegangen werden, daß sich die EU weiterhin von den USA emanzipieren möchte und wird. [16] Vgl. Karl Otto Hondrich: Gegen Windmühlenflügel, in ders.: Wieder Krieg, Frankfurt a.M. 2002, S. 101. [17] Vgl. Stefan Brunner: Deutsche Soldaten im Ausland. Fortsetzung der Außenpolitik mit militärischen Mitteln?, München 1993, S. 223. [18] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in ders.: GS, Bd. I.2, Frankfurt a.M. 1974, S. 691-704; These VIII. Kontext:
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