Den Aufsatz kommentieren Karneval in schwarz-rot-gelbvon Gregor Kritidis (sopos) "Herr K. hielt es nicht für nötig, in einem bestimmten Lande zu leben. Er sagte: ›Ich kann überall hungern‹. Eines Tages aber ging er durch eine Stadt, die vom Feind des Landes besetzt war, in dem er lebte. Da kam ihm entgegen ein Offizier dieses Feindes. Und zwang ihn, vom Bürgersteig herunterzugehen. Herr K. ging herunter und nahm an sich wahr, daß er gegen diesen Mann empört war, und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem der Mann angehörte, also daß er wünschte, es möchte vom Erdboden vertilgt werden. ›Wodurch‹, fragte Herr K., ›bin ich für diese Minute ein Nationalist geworden? Dadurch, daß ich einem Nationalisten begegnete. Aber darum muß man die Dummheit ja ausrotten, weil sie dumm macht, die ihr begegnen.‹" Die herrschenden Ideale sind stets die Ideale der Herrschenden - für diesen Satz ließe sich gegenwärtig beliebig Anschauungsmaterial erheben. In den Tagen vor Eröffnung vor der Fußball-WM wurden die Deutschland-Fähnchen inklusive Fähnchenhalter zu Dumpingpreisen in den Markt gedrückt. Der monopolistische Madsack-Verlag verteilte via Hannoversche Allgemeine und Neue Presse großzügig die Wimpel der Nation. Und bei "Lidl" gab es gar ein Sixpack Bier, eine Tüte Erdnüsse und ein schwarz-rot-gelbes Winkelement zu 99 Cent, für das die "Bild"-Zeitung zuvor Bezugsscheine ausgeteilt hatte. Selbst 1-Euro Jobber konnten dabei mitmachen und erhielten gar den letzten Cent als Glückpfennig zurück. Systematisch ist in den Gazetten und auf allen Kanälen in den Wochen zuvor ein entsprechendes Meinungsklima geschaffen worden: Nationalismus, zumal bei etwas so harmlosen wie Fußball, ist wieder chic, man steht wieder auf beim Absingen der Nationalhymne. Und selbst diejenigen, die sich nicht dazu entblöden, ihre Autos mit den von den gegnerischen Mächten gereichten Fahnen zu drapieren, mahnen zu Gelassenheit: Daß müsse man alles "streßfrei" sehen. Geht es nicht um ein wunderbares Fußballfest, bei dem jeder seinen Wimpel in den Wind drehen kann, wie er möchte? In der Tat hat die gegenwärtige nationale Begeisterung mehr etwas von Karneval, Stones-Konzert und Schützenfest als vom traditionellen Nationalismus im Sinne der Ideen von 1914. Es ist ein Fußball-Nationalismus volkstümlicher Art, hat weniger mit Aggressionen als mit Budenzauber und mit Anbiederung der Chefs an die Angestellten zu tun. Die Fußball-WM ist eine Art Karneval, die ein Ventil für den angestauten sozialen Druck schafft und diesem Druck in eine für die Eliten ungefährliche, ja in eine für den "Standort" nützliche Richtung kanalisiert. Der Fußball-Fasching ist der weit verbreitete Ausdruck nach Gesellschaftlichkeit die es im neoliberalen Alltag immer weniger gibt. Der schwarz-rot-goldene Himmel über dem neoliberalen Jammertal von Verarmung und Ausgrenzung, Arbeitszeitverlängerung, Lohnkürzung und Flexibilisierung schafft aber keine Vergesellschaftung, sondern kann sie nur suggerieren. Es ist eine Art Betrug, ein von Springer, Madsack etc. geförderter massenhafter Selbstbetrug. Bei Bier und Erdnüssen läßt sich ausblenden, daß gerade die "Bild" es ist, die die Zerstörung des Rentensystem vorantreibt; und daß es die großen Einzelhandelsketten sind, die ihre Mitarbeiter zu Lohnsklaven herabwürdigen und Produkte in den Markt drücken, bei denen man nicht weiß, was schlimmer ist: Ihre mangelnde kulinarische Qualität, die in ihnen enthaltenen Pestizide, die fehlenden Vitamine oder die ökologisch desaströse Form ihrer Produktion. Die Perfidität der Fußball-WM als Gesamtveranstaltung liegt aber zweifellos in dem, wozu sie mißbraucht und worüber bei aller Geschwätzigkeit nicht gesprochen wird: Legitimiert durch maßlos aufgeblähte Terror-Angst dient die WM als großangelegte Notstandsübung. Die Ausforschung von Zuschauern und WM-Mitarbeitern, die Überwachung öffentlicher Plätze mittels Kameras, umfangreiche Personenkontrollen, die Abstimmung der verschiedenen staatlichen Behörden aufeinander: All das will geprobt sein. Und natürlich geht es darum, für derlei Maßnahmen, die vielfach den Rahmen des rechtlich erlaubten schon längst überschritten haben, Akzeptanz zu schaffen. Die private Industrie ist freilich mit im Boot, ist die Erhebung von Daten für die Erstellung von Kundenprofilen doch notwendig, wenn man Konsumentengruppen gezielt bewerben will. Die Preisausschreiben, bei denen Eintrittskarten verlost werden, haben darin ihren unmittelbar kommerziellen Sinn. Will noch jemand wissen, daß es die deutsche Bundesregierung selbst ist, die mit ihrer als "Krieg gegen den Terror" getarnten aggressiven Interessenpolitik die Gefahr terroristischer Anschläge heraufbeschwört? Ist es nicht die Politik der sozialen Ausgrenzung und der diese Politik flankierende ideologische Gesinnungsterror neoliberaler Provenienz, die dazu beiträgt, daß emotionale Sicherungen durchknallen und 16jährige zu Amokläufen ansetzen? Hat es nicht mehr als 130 Todesopfern faschistischer Gewalt seit 1990 gegeben, auch und gerade im Namen "Deutschlands"? Je mehr der gesellschaftliche Kitt zerfällt, desto offensiver wird der Neo-Nationalismus als ideelles Surrogat angeboten. Diese ideologische Offensive wird dabei von denjenigen Milieus, die traditionell SPD und Grünen nahestehen, genauso unkritisch gesehen wie die Agenda 2010 oder die militärische Aggression gegen Jugoslawien. Man solle den nationalen Karneval "streßfrei" sehen, heißt es fast unisono. Fußball als nationale Leitkultur. Diejenigen, die die Konsequenzen des neudeutschen National"bewußtseins" auf der eigenen Haut zu spüren bekommen haben, werden die schwarz-rot-"goldene" Gefühlsaufwallung sicherlich weniger "nüchtern" zur Kenntnis nehmen. Mit Recht. Die Zerstörung von Gesellschaftlichkeit im inneren wie äußeren ist keine Nebensache, sie hat für die breite Mehrheit der Bevölkerung mit und ohne Winkelement dramatische Konsequenzen. Eben jene Mehrheit, die sich jetzt erstmal eine Auszeit vor der Großbildleinwand und im Stadion nimmt. Die liberalen Teile der politischen und sozialen Eliten sowie diejenigen, die gerne dazugehören wollen, reisen scheinbar auf einem anderen Ticket. Wer sich über den nationalen Karneval des Lohnabhängigen erheben möchte, positioniert sich auf Basis des neudeutschen Antifaschismus, der schon die Bombardierung Jugoslawiens möglich gemacht hat. Paradigmatisch dafür ist die Haltung gegenüber dem Iran, die sich angesichts der iranischen WM-Teilnahme und dem damit verbundenen Deutschland-Besuchen iranischer Spitzenpolitiker als diffiziles Problem herausgestellt hat. Keine Gastfreundschaft für Holocaust-Leugner, hieß es in mehreren Aufrufen vor dem ersten Gruppenspiel der iranischen Mannschaft. So richtig eine klare Distanzierung von der iranischen Führung und ihrer faschistischen Propaganda ist, so falsch ist der Standpunkt, von dem aus dies geschieht: Die westliche Zivilisation und ihre "Werte" in der Phase ihres Zerfalls verteidigen zu wollen, ist naiv. Gleichzeitig zu ihrer weiteren Zerstörung beizutragen, zynisch. Die intellektuelle Verwirrung, die etwa in dem Aufruf in der Frankfurter Rundschau vom 9. Juni zu Tage getreten ist, zeigt nur die Kehrseite schwarz-rot-gelber Begeisterung. Es ist ja diese unsere kapitalistische Zivilisation, die allerlei ideologischen Unrat hervorgebracht hat und immer wieder aufs Neue hervorbringt. Wer das ausblendet, ist allerdings mit einem schwarz-rot-gelben Hut genauso gut bekleidet wie mit dem Helm amerikanischer Freiheitskämpfer. Vielleicht sorgen die Probleme mit der Abseitsfalle für eine baldige Ernüchterung neudeutscher Nationalbegeisterung. Je größer das Besäufnis, je billiger der Fusel, desto größer der Kater am nächsten Tag. Die Ärzte scheinen das zu ahnen und lassen sich daher auch nicht vom Streiken für ihre berechtigten Interessen abbringen. Der nationale Karneval hat aber auch noch eine andere, verborgene Seite. Die Verteilung schwarz-rot-goldener Fahnen durch Madsack, Springer und Co. Bedeutet nicht weniger als die Aufforderung, sich die Gesellschaft ideell anzueignen. Diese Aufforderung kommt von denjenigen, die selbst unter der Fahne der "Standortsicherung" das Eigentum der abhängig Beschäftigten sich aneignen, soziale und demokratische Rechte aufheben und das Recht in ein Instrument der Unterdrückung verwandeln. Wer sich selbst derart delegitimiert, verspielt das Recht, für die Allgemeinheit zu sprechen. Freilich hoffen die Konzerne, daß am Aschermittwoch, also spätestens nach dem Endspiel, alles vorbei ist. Eine solche Hoffnung kann auf Dauer trügen. Die Aufforderung zur ideellen Aneignung der Gesellschaft beinhaltet, denkt man sie nur konsequent zu Ende, immer auch die ihrer materiellen Aneignung. Wer aber die schwarz-rot-gelbe Nation besitzen will, der muß auch ihre Produktionsstätten sich aneignen. Kontext:
sopos 6/2006 | ||||||
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