Den Aufsatz kommentieren Weniger Schlußstrich als symbolischer NeuanfangDas neue Kanzleramtsgebäude soll eine erwachsene Nation repräsentierenvon Oliver Heins und Marcus Hawel "Zuerst formen wir unsere Bauwerke, I.Mit einer knappen Mehrheit von 338 zu 320 Stimmen hatte sich der Bundestag bereits vor zehn Jahren für den 20 Milliarden DM teuren Umzug von Bonn nach Berlin entschieden. Seitdem wird von der Berliner Republik gesprochen, die zunächst durch diverse Ambitionen der Kohl-Regierung unter tatkräftiger Mithilfe rechtskonservativer Historiker und FAZ-Leitartikler unter den Verdacht geriet, in wenig gebrochener Tradition an das Wilhelminische Reich von 1871 anzuknüpfen. Der Einzug des Bundestages in das 1884-94 von P. Wallot erbaute Reichstagsgebäude, welches im Wilhelminischen Reich (1871-1918) neben dem deutschen Kaiser die Einheit des Reiches verkörperte und unter Hitler zum verhaßten Symbol der Republik geriet, nährte diesen Verdacht. 1995 ließ man den Reichstag von dem unbedarften Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude verhüllen, um eine belastete Vergangenheit unsichtbar zu machen. Was dann einige Wochen später wieder enthüllt wurde, sollte ein nicht neues, aber ein gereinigtes demokratisches Symbol der deutschen Nation sein, welches nunmehr eingebettet lag in eine architektonische Komposition mehrerer Staatsbauten, in eine Architektur der Berliner Republik. Als das wichtigste Bauprojekt wurde in diesem Zusammenhang das Bundeskanzleramt angesehen. Der Architekt Axel Schultes war noch von Helmut Kohl damit beauftragt worden, das neue Bundeskanzleramt zu entwerfen und damit die erworbenen demokratischen Tugenden mit dem neuen Selbstverständnis der Nation zu verbinden. Die Tugenden: Transparenz, Öffentlichkeit, Selbstbewußtsein. Schultes nannte sein Konzept der Umsetzung ein "Band des Bundes", in dessen Mitte ein Bürgerforum die repräsentativen Staatsbauten einander vermitteln sollte. Ein Bürgerforum aber, das bis an die Fassaden des Bundeskanzleramtes reichen würde, und also mit anderen Worten die Bürgeröffentlichkeit, die Bürger dem Kanzler beinahe auf die Finger schauen könnten, war von Kohl mit großer Skepsis beäugt und schließlich aus dem Konzept gestrichen worden. Kritiker mutmaßten bereits auf der Grundlage von Modellbauten, das Konzept - ohne sein Herzstück - könnte sich von der beabsichtigten Symbolsprache in sein direktes Gegenteil verwandelt haben. Im Herbst 1998 wurde Gerhard Schröder zum Bundeskanzler gewählt. Er schien keine andere Wahl zu haben, als in die drei Jahre später fertiggestellte, ungeliebte, von seinem Vorgänger aber wenigstens als Bauskizze geliebte Hütte einzuziehen. Hätte er mitbestimmen dürfen, wäre das Konzept sicherlich anders geworden. Und dennoch hätte er das Bürgerforum wieder aufgreifen können. Statt dessen verbarg er bloß seinen Unmut gegenüber dem Neubau nicht, und mit angeblich wenig Lust weihte er das neue Kanzleramt am 2. Mai 2001 ein: vier Jahre Bauzeit, 465 Millionen DM teuer, 335m lang, 36m hoch, 8 Stockwerke, 19.000 m² Nutzfläche, 370 Büros, 510 Mitarbeiter. - Ende der Nachkriegsära. In seiner Eröffnungsrede betonte Schröder, daß die deutsche Demokratie, wenn überhaupt, so durch das Reichstagsgebäude, "in dem der demokratisch gewählte Deutsche Bundestag seine Arbeit macht", symbolisiert werde. Das Bundeskanzleramt sei dagegen "kein pathetischer Ort, (...) kein Platz der großen Geste". Dem Verdacht, das Kanzleramtsgebäude sei ein monumentales Symbol der Herrschaft, entgegnete er: "Wir beziehen heute nicht (...) Sanssouci oder Neuschwanstein. Von hier aus wird nicht geherrscht, sondern von hier aus wird regiert. Das ist durchaus etwas Anderes." Statt dessen solle dem Selbstverständnis nach außen hin Vertrauenswürdigkeit, Verläßlichkeit, Partnerschaft und Selbstbewußtsein ausgestrahlt werden: Deutschland als "erwachsene Nation, die nicht über, aber auch nicht unter anderen Völkern stehen möchte". Ein solches Selbstverständnis brauche nicht in Stein gemeißelt werden. Dennoch: genau das scheint mit dem Bau geschehen zu sein. Nun sind das, was der Künstler in den Stein meißelt, und das, was der Rezipient aus dem gemeißelten Stein herausliest unter Umständen zwei völlig verschiedene Dinge; in der Regel aber - das sagt die Rezeptionsästhetik - vollendet der Rezipient in seiner Rezeption das Kunstwerk. Das dürfte Schultes auch im Kopf gehabt haben, als er in seiner Rede zur Schlüsselübergabe für das neue Bundeskanzleramt am besagten Tag von Zeiten sprach, "in denen sich das Haus mit Geschichte sättigen wird". Ansonsten bleibt es schwer, Schultes Rede zu dechiffrieren angesichts eines großen Schwalls inhaltsleerer Formlyrik, mit der er seine Zuhörer wie ein great pretender beeindruckt oder gelangweilt haben dürfte. - Schröder jedenfalls, so berichtet der mittlerweile zu Lasten der Argumentationskraft zu sehr aufs Atmosphärische versteifte Spiegel (19/2001: "Dem deutschen Völkchen"), soll etwas verwegen seinen Unterkiefer hin- und hergeschoben haben, als kaute er auf Nüssen. Auch Schröder weiß von der Rezeptionsästhetik und redet von der täglichen Aneignung des Bauwerkes, wodurch es sich auch verändere. Wer hat schon im Überblick, wie sich die tägliche Aneignung schleichend verändert durch eine gezielte Beeinflussung in Form einer schleichenden Veränderung in der Art der Präsentation. Die halbwegs lichten Stellen in Schultes Rede bestätigen zugleich die gemutmaßte Intention des gescholtenen Künstlers und des abgewählten Auftraggebers und vermutlich auch des neugewählten, den Kiefer hin- und herschiebenden Nutznießers: "All diese Orte und Räume des neuen Kanzleramts (...) sind (...) nichts anderes als der Versuch, mit Mitteln der Architektur der grassierenden zynischen Vernunft unseres Gemeinwesens einen republikeigenen Enthusiasmus entgegen zu stellen". Republikeigener Enthusiasmus ist eine Chiffre, hinter der sich ein abstrakter republikanischer Patriotismus versteckt, der als Heilmittel der "grassierenden zynischen Vernunft unseres Gemeinwesens" entgegengestellt werden soll. "Grassierende zynische Vernunft": was Schultes derart denunziert, ist die kritische Erkenntnis, daß hierzulande der Nationalismus am deutschen Wesen die Welt genesen lassen will, aus ihm notwendig der Tod erwachsen muß. Die deutsche Nation ist historisch ein Kunstprodukt, daß sich lediglich kulturell-ethnisch, niemals aber politisch definieren konnte. Was fehlt, ist ein Meilenstein wie 1776 oder 1789 - der deutsche Patriotismus wird immer unerträglich chauvinistisch sein, im Unterschied zum amerikanischen oder französischen (der dies oft genug auch war und ist). Deutschland als "erwachsene Nation, die nicht über, aber auch nicht unter anderen Völkern stehen möchte", (Schröder) ist und bleibt ein Albtraum. Schultes hat wenig Verständnis für die linken Nörgler der allzu großen Größe; er hält sich lieber an die Befürworter, die er schlicht als die "etwas freieren Geister" bezeichnet, zu denen der Rest der Republik erst noch werden muß. Denn der Rest, so muß geschlußfolgert werden, ist nach Schultes Ansicht krank, geplagt von einer "Krankheit des Deutschseins": "Wenn die 'Fragen an die deutsche Geschichte' immer nur in ein politikfrustriertes Lebensgefühl einmünden, wenn die Krankheit des Deutschseins, die Angst - vor sich selbst und vor den anderen - jede Lust abtötet, das Risiko zu teilen, das ein solches Haus zu bauen versteht - dann müssen sich Architekt und Hausherr den ängstlichen Nörglern entgegenstellen, in der schönen Gewißheit, daß dieser Bau (...) schneller als gedacht in seiner eigenen Zeit ankommen wird." Der Bau kommt in seiner eigenen Zeit an. - In diesem Satz steckt die Wahrheit eines Ausdrucks von Winston Churchill, daß wir zuerst unsere Bauwerke formen und danach die Bauwerke uns. Der Bau formt uns, und damit kommt der Bau nicht in unserer Zeit an, sondern in seiner eigenen, die dann auch zu der unseren wird. Die neue Zeit bezeichnet der Architekt Schultes als eine archaische Modernität, "die man auch lesen kann als eine Art Hafterlaß nach den Perioden architektonischer Selbstbestrafung". Die Deutschen sollen eine irrationale Angst vor der Größe haben, weshalb er sie auch als ein "Volk ohne Form" bezeichnet. (vgl. Hanno Rauterberg, Enthusiast des neuen Raums, Die Zeit 42/2000.) Die Angst gelte es dem Volk zu nehmen, das Formlose zu formen. Schultes erobert in der Mitte Berlins - im ehemaligen Osten der einmal geteilten Stadt - neue Lebens-Formen für das deutsche Volk. "Wenn seine (Schultes') Architektur politisch ist", schreibt Rauterberg enthusiasmiert für Die Zeit und in einem Schultes nicht nachstehenden inhaltsleeren Geschwafel, "dann in ihrem Streben nach zeitgemäßer Archaik, nach modernem Mystizismus." Es soll "eine höhere Macht spürbar [werden], ohne daß diese Macht einen Namen trüge. Sein Krematorium ist die Kirche einer Gesellschaft, die nach göttlichem Trost sucht, ohne Gott dabei finden zu wollen." Schröder wiegelte die Befürchtungen derer ab, die dem Architektengespann Axel Schultes und Charlotte Frank Geschichtsvergessenheit vorwerfen und in der Formsprache der Architektur Monstrosität, Gigantomanie, ja gar faschistoiden Stil entdecken wollen. Geschichtsvergessenheit läßt sich wahrlich aus Schultes' Äußerungen nicht ablesen - allein es fehlt ihm ein Begriff von Geschichte. Historisches Erinnern geriert zur Geschichtstrunkenheit. Schröder wiegelte weiter: Wie eine Nation im Ausland wahrgenommen wird, komme immer auf das Handeln der Regierenden, nicht auf den Ort und sein Bauwerk an - man fragt sich hier: wozu dann eigentlich der 20 Mrd. DM teure Umzug? -, daß zwar "für die Ewigkeit gemacht" sei, sich durch die tägliche Aneignung aber auch stetig verändere. Die demonstrativ nüchtern gehaltene Einweihung - das Nicht-Fest - war dermaßen zur Schau gestellt, daß die Nüchternheit wie ein protestantischer Orgasmus erschien. Das Maß der Nüchternheit hat quasi als photographisches Negativ zur positiven Größe diese derart ersetzt, daß es nicht weniger groß zuging, als es sich Schultes vielleicht erhofft hatte, als er sagte: "Ich hätte nie gedacht, wie tief die Angst vor Geschichte in den Deutschen steckt. Dies ist ein Land, das stolz ist, ein Völkchen zu sein." (Spiegel 19/2001, "Dem deutschen Völkchen") - Hierzu freilich muß man dialektisch denken können. II.Nach der großen Nüchternheit folgte die sofortige Arbeitsaufnahme, die Kontinuität vorspiegeln sollte, wo keine ist. Das verweist auf die Kraft der unausgesprochenen Konsensdemokratie, die auch dort noch eint, wo keine Einheit ist und Widerspruch angebracht wäre. Getreu dem alten sozialdemokratischen Motto: "darüber spricht man nicht, das tut man" (Ignaz Auer) wird durch die Faktizität eine normative Kraft geschaffen, die in Worten zugleich verneint wird. Allzu heftigen, geschichtsbewußten Kritikern eilte Schröder voraus: "Hier im Spreebogen wollte Hitler einst das Kulturzentrum seiner projektierten Reichshauptstadt errichten. Der geplante Kuppelbau hätte - ganz im Sinne des Diktators - den Reichstag gleichsam mit einer Hundehütte vergleichbar gemacht." Der Kritiker ist stumm gemacht, denn die historische Parallele als Waffe ist in Schröders Mund stumpf geworden. Im Sinne der Kritiker kann man hier wohl von einem (un-)gewollten Zynismus Schröders sprechen; die Kritik am Kanzleramtsgebäude zielt ja gerade darauf ab, daß der Neubau das Reichstagsgebäude in den Schatten stellt und damit symbolisch den Kanzler gegenüber dem Parlament ungebührend erhöht. Der Vorwurf der Kanzlerdemokratie erschallt lauter. Die Befürworter halten dem entgegen, das geplante Bürgerforum hätte das Gegengewicht zum Kanzleramt darstellen sollen. Im "Band des Bundes", jener Reihe aller erdenklichen staatlichen Einrichtungen, fehle jetzt jedoch "das Sinn stiftende und Maßstab gebende Gelenk", schreibt Rolf Lautenschläger in der TAZ vom 1.2.2001 ("Das Pfeifen des Himmels"). Somit bliebe das Kanzleramt als monströses Gebilde zurück; es sei eine städtebauliche Katastrophe. Mehr jedoch nicht. Lautenschläger verteidigt das Kanzleramtsgebäude gegen die Kritik an der Größe, indem er die Wirkung der Größe bestreitet: "Dem Kanzleramt liegen der Reichstag, der Lehrter Bahnhof, der Tiergarten und die Stadt nicht 'zu Füßen'. Sie bilden Perspektiven - sind der 'Berliner Himmel, der durch das Gebäude pfeift' (...) - eines dialektischen Wechselspiels zwischen Innen und Außen, von Amt und Öffentlichkeit. Die Machtkulisse und Herrschaftsgeste Kohls hat Schultes durch das Raumgefühl wieder gebannt." Niklas Maak bläst in der Süddeutschen Zeitung vom selben Tag ("Die Villa zur Macht") ins gleiche Horn: "Daß einige Kritiker mit einer Entschlossenheit, die ans Wahnhafte grenzt, das Kanzleramt zur totalitären Herrschaftsarchitektur erklären wollen, ist um so seltsamer, als gerade die einschüchternde, monumentale Geschlossenheit totalitärer Bauten vermieden wird. Alles schwingt leicht, wellt und weht auseinander, als könne die Stadt durch das Gebäude hindurch diffundieren - und auch die jetzt noch monoton wirkenden Riegel der Verwaltungsgebäude werden anders aussehen, wenn die geplanten Baumalleen erst einmal gewachsen sind." Maak vergleicht das Kanzleramt mit einer Sphinx, der man die Pyramide weggenommen hat. Das Bürgerforum "sollte ein Ort für Feste oder Demonstrationen werden, ein Platz mit Restaurants, Cafés, einem Museum - und das dieser experimentelle städtische Raum nun eine gähnend leere Fläche geworden ist (...): das, nicht die Größe, ist der wirkliche Skandal." Freilich nimmt sich der Skandal gegenüber der von Anja Lösel im Stern ("Das Kanzleramt", Stern-Titel, 29.3.2001) imaginierten Vorstellung, wie schön es hätte mit diesem Bürgerforum werden können, nicht tatsächlich großartig skandalöser. Sie schreibt: "Gerhard Schröder genießt es in diesen ersten Frühlingstagen ganz besonders, mittags zu Fuß von seinem provisorischen Amtssitz am Schloßplatz 1 zum Gendarmenmarkt rüberzuschlendern und sich beim Italiener ein paar Nudeln zu bestellen. Oder eine Ecke weiter ins Restaurant 'Borchardt' zu spazieren, um eins der köstlichen Schnitzel zu essen. Und wenn ihn dann, wie neulich, ein junger Mann am Nebentisch bittet, ein paar Minuten auf seine Bücher aufzupassen, dann fühlt Schröder sich wie ein ganz normaler Mensch: der Bürger-Kanzler unter seinesgleichen. Aus. Vorbei. So wird es nie wieder sein." Wenn sich Schröder das doch nur einmal bewußt machen könnte, was ihm mit dem Umzug in seine neue Dienstwohnung alles an privatem Lebensgefühl verloren geht, weil es eine vergleichbare Einrichtung wie den Gendarmenmarkt zu Füßen des neuen Kanzleramtsgebäudes nicht geben wird, "vielleicht kann er sich dann auch für Axel Schultes' und Charlotte Franks Lieblingsidee begeistern: das Bürgerforum. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, zwischen dem Kanzleramt und den Abgeordnetenhäusern im Alsenblock, wollten die Architekten eine Art italienische Piazza installieren: mit Restaurants, Cafes, Läden. Einen Ort, der Menschen anziehen und zum Verweilen einladen soll. 'Hier', so Schultes, 'könnten die Bürger am Kaffeehaustisch ihren Cappuccino trinken und den Gästen des Kanzlers bei der Auffahrt zugucken.'" Wenn das Bürgerforum aber, in dem die Stern-Redakteurin den Bundeskanzler gerne quasi als Stelldichein mit netten Bürgern einen Kaffee hätte trinken sehen wollen, das Gegengewicht zum Kanzleramt darstellt, wird das Parlament durch informelle Strukturen, das Volk durch die Lobby symbolisch ersetzt. Dies ist vielleicht das wahre Sinnbild der Dialektik des Staates im Taumel der Globalisierung: der Staat, irgendwie und durch irgendwas zunehmend depotenziert, entzieht sich der demokratischen Kontrolle als Kompensation seiner verlorenen Größe und zeigt seine autoritäre Gestalt dem Volk gegenüber, das ihm jedenfalls nicht so leicht aus den Fingern rinnt wie das Kapital.[1] Schultes wollte im Bürgerforum dem Volk den Staat zeigen. Das bringt trotz Schultes' sonstiger inhaltsleerer Formlyrik etwas auf den Punkt: von der Kontrolle des Staates durch das Parlament ist in dieser Berliner Republik keine Rede mehr - im Gegenteil. Diese "Republik" geht offensichtlich ihren Weg zu einer autoritären Kanzlerdemokratie. Statt mehr Demokratie zu wagen, wird in der Willy-Brandt-Straße Nr. 1 mehr Demokratie preisgegeben. Gunter Hofmann schreibt in der Zeit 19/2001 ("Das Haus vis-à-vis"), das "halbautoritäre Konstrukt" der Kanzlerdemokratie habe seinen Charme im Parlament und im Volk nicht ganz verloren: "Gerade weil so viel Politik auswandert in die 'Bürgergesellschaft', in die Konzernzentralen, an die Börsen, in die kleinen Netze oder gleich ganz nach Europa, wächst das Bedürfnis, sie irgendwie wieder einzufangen." So erklärt Hofmann einerseits das Bedürfnis nach autoritären Strukturen und andererseits nach einer direkteren Demokratie, welche die beiden Seiten derselben Medaille seien. "Aber Vorsicht! In der Politik hat ohnehin zuviel Formlosigkeit gesiegt. Die Entinstitutionalisierung wirkt nach. Bei aller Liebe zur zivilen Gesellschaft von heute und morgen: man kann die öffentlichen Angelegenheiten nicht vollends privatisieren. Und man kann auch nicht übersehen, daß die Sehnsucht nach dem Kanzler mit großer Autorität manchmal auch nach dem starken Staat, ebenso wie die Verlockung der plebiszitären Demokratie nur zwei Seiten einer Medaille beschreiben. Weder eine autoritäre noch eine verzettelte Demokratie wäre modern." Gegen beides müßte man freilich aufbegehren. Niklas Maak führt diesbezüglich ein eigenwilliges und kurzsichtiges Argument. In der Süddeutschen Zeitung vom 2. Mai 2001 ("Wahre Größe") schreibt er, daß der Bau des Kanzleramts den Vorteil für Demonstranten biete, nicht mehr stundenlang durch Parks und Baustellen der Hauptstadt umherirren zu müssen, da es ja nunmehr einen nicht zu verfehlenden Hauptadressaten gebe. In diesem Zynismus mag eine versteckte Aufforderung für zukünftige Massendemonstrationen stecken. Was der Autor allerdings nicht berücksichtigt: Im 8. Stockwerk, aus über 30m Höhe, dort wo Schröder seine 200 m² große Dienstwohnung[2] hat und vom Balkon aus auf die demonstrierenden Massen hinunterblicken wird, werden diese das Bild eines mehr oder minder großen Ameisenhaufen abgeben. Auf freiem Feld, dort wo das Bürgerforum hätte gebaut werden sollen, nimmt sich jede noch so große Masse für die Fernsehkameras wie bloß eine Handvoll Leute aus. Den Fernsehkameras kommt ohnehin zunehmend eine zentrale Bedeutung zu. Christian Thomas verweist in der Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 2001 auf diesen Zusammenhang mit ironischem Witz: "Bald wird die TV-Nation das Bild des neuen Kanzleramtes (...) wie eine singuläre Besonderheit unter sämtlichen Regierungschefsitzen der Welt erkennen, monumental, postmodern und verstörend. Im Büro des Kanzlers wird für das Heute Journal noch Licht brennen, der große Sitzungssaal ein Geschoß tiefer, auch er eine Bühne, wird für Auf- und Abtritte sorgen, wenn die Tagesthemen auf Sendung gehen. Hinter den Schemen werden sich die Nachteulen des Kabinetts verbergen. Und zu beiden Bildern dieser (unserer) Berliner Republik wird der TV-Reporter, im Rücken Gebäude und Ehrenhof, seinen Aufsager machen." Die bereits erwähnte Anja Lösel entblödet sich nicht, diese Inszenierung ohne Ironie zu affirmieren: "Schon bald werden Fernsehreporter sich für ihre Statements vor dem Haus in Szene setzen. Wenn wichtige Entscheidungen anstehen, werden sie bei der Spätausgabe der Nachrichten auf das immer noch erleuchtete Fenster des Kanzlerbüros im siebten Stock weisen. Und wir werden wissen: Da sitzt Gerhard Schröder an seinem großen, dunkelblau lackierten Chef-Schreibtisch und grübelt, telefoniert und verhandelt. Das Kanzleramt als Monument der Mediengesellschaft." III.Das, was die Berliner Republik wesentlich ausmacht, ist die Überwindung der Ängste vor Entgleisung staatlicher Macht, die noch die Bonner Republik wesentlich geprägt hatten. Die neue Republik demonstriert in ihren selbstgeschaffenen demokratischen Symbolen unbefangene Sicherheit und Normalität der Nation. In dem neuen Kanzleramtsgebäude kommt weniger ein Schlußstrich unter die allzu problematische Vergangenheit, die mal endlich vergehen soll, als vielmehr ein symbolischer Neuanfang zum Ausdruck. Das neue Kanzleramtsgebäude soll nach außen eine erwachsene Nation repräsentieren. Das Verhältnis von Schlußstrich und Neuanfang ist allerdings dialektisch zu betrachten: In jedem Neuanfang ist auch ein Schluß, und mit jedem Schlußstrich ein neuer Anfang gesetzt. Die Differenz zwischen beiden liegt im Richten des Augenmerks auf Vergangenheit oder Zukunft. Ein Bewußtsein kann rückwärts oder vorwärts gewandt sein; es wäre somit entweder reaktionär oder fortschrittlich. Über die Qualität des Fortschreitens ist damit aber noch nicht geurteilt. Das, worum es eigentlich geht, versteckt sich hinter Attitüden. Worauf es ankommt, ist der Schein. Das Selbstverständnis der Berliner Republik wird im wesentlichen inszeniert, von oben verordnet, der politischen und kulturellen Öffentlichkeit aufgesetzt wie ein Hut. Es ist ein strategisches Spiel auf einem europäischen Brett. Schröder und Konsorten ist klar, daß sie mit einer solchen Inszenierung nicht die kulturelle Tradition aufsprengen können. Im europäischen Rahmen hilft jedoch eine solche Inszenierung "deutschen Interessen" mehr Gewicht zu verleihen. Deutschland als das nach Rußland bevölkerungsreichste Land in Europa und zugleich das ökonomisch mächtigste bringt ein Viertel des gesamten EU-Etats auf. Frei nach Helmut Schmidt: wer am meisten zahlt, soll auch am meisten entscheiden, geht es um eine deutsche Hegemonie innerhalb Europas. Aus diesem Grund hat Schröder kürzlich von der Europäischen Integration als Bestandteil der deutschen Staatsräson gesprochen; gemeint ist die Schaffung eines politischen Europas nach deutschem Vorbild des Föderalismus. Selbstverständlich braucht es für die Durchsetzung solcher Ziele der adäquaten nationalen Machtsymbole. Den Hauptkonkurrenten um die Gestaltung eines politischen Europas stellt Frankreich dar. Das neue Gebäude des Bundeskanzleramts steht auf symbolischer Ebene in direkter Konkurrenz vor allem zum Elysée-Palast. Jedenfalls taugt ein hinter Bäumen verstecktes Bundeskanzleramt, welches in der Nachkriegszeit in Bescheidenheit das Provisorium der Bonner Republik repräsentiert hatte, nicht mehr für den neuen DM-Nationalismus und den deutschen Drang nach Hegemonie innerhalb eines normalisierten, politischen Europas.[3] Der Berliner Neubau nimmt sich als bestimmte Negation zum Bonner Altbau: als Ausgeburt normalisierter Größe, die weniger an Traditionen anknüpft als selbst neue Akzente setzt. Anmerkungen[1] Den Vorwurf der Gigantomanie begegnet Kohl in der Welt am Sonntag bezeichnenderweise: "Im Übrigen sollte man sich zum Vergleich einmal die Hauptgebäude von großen deutschen Unternehmen ansehen." [2] Die SZ vom 6.4.2001 ("Gläserne Toilette im Kanzleramt") spricht interessanterweise ohne Ironie von einer "kleinen Dachwohnung", die sich Schröder direkt über seinem Büro nehmen wolle. [3] Rein intuitiv scheint diesen Zusammenhang auch Niklas Maak verstanden zu haben, der für die Süddeutsche Zeitung schreibt: "Andere Demokratien hatten wiedererkennbare Orte: Wenn aus Washington oder Paris berichtet wurde, stand der Reporter vor dem Weißen Haus oder vor den Toren des Elysée-Palast; in Deutschland sah man nur ein paar Limousinen, die an einem Pförtnerhäuschen vorbei in den Park düsten, ganz so, als werde dieses Land aus fahrenden Autos heraus regiert." ( "Die Villa zur Macht", SZ vom 1.2.2001.) - Tatsächlich betreibt Maak jedoch nur die Affirmation der "Mediendemokratie". Kontext:
sopos 5/2001 | |||
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