Den Aufsatz kommentieren Die normalisierte Nation?Geschichtspolitik und Umgang mit historischer Wahrheit im wiedervereinigten Deutschlandvon Marcus Hawel
Der Streit zwischen Konservativen und Liberalen um das Geschichtsbild hat in Deutschland eine lange Tradition. Der Umgang mit der eigenen Geschichte: die Frage, welche Konsequenzen aus Faschismus und Auschwitz zu ziehen seien, ist keineswegs geklärt. Seit der Wiedervereinigung ist die Diskussion um die nationale Identität der Deutschen wieder angefacht und der Streit um das Geschichtsbild in eine neue Phase übergegangen. Die Notwendigkeit eines deutschen Nationalbewußtseins wird von Konservativen wie von Liberalen vor dem Hintergrund einer veränderten Weltlage diskutiert, die durch die Auflösung der bipolaren Weltordnung, europäische Integration und Globalisierung gekennzeichnet ist. Aus den veränderten weltpolitischen Konstellationen sollen sich neue Anforderungen und Folgeprobleme für den deutschen Staat ergeben haben, die er nur dann zu bewältigen imstande sei, wenn die Deutschen ein gefestigtes Nationalgefühl besäßen. Alles Gerede von Normalisierung, welches vor der Wiedervereinigung im Historikerstreit kulminierte, war durch die Fortexistenz der deutschen Teilung, die dem Wunsch nach Normalität gleichsam wie eine offene Wunde erscheinen mußte, ins Zwielicht gerückt. Die sich aufgrund unterschiedlicher politischer Referenzsubjekte bezüglich dessen, was deutsche Identität sein soll, ergebene Unsicherheit ist mit den Ereignissen von 1989/90 aus der Welt geschafft und damit das Versprechen der Normalität scheinbar eingelöst, die Debatte unter günstigeren Vorzeichen in die finale Phase eingetreten. Ein umfassender Konsens besteht von der linksliberalen bis hin zur bürgerlich-konservativen Öffentlichkeit darin, den deutschen Nationalstaat nicht nur in seiner Orientierung an den westlichen Werten anzuerkennen, sondern auch selbstbewußt mit Anspruch auf eine Führungsrolle in der Welt aufzutreten, sich der europäischen Integration und den globalen Anforderungen zu stellen. All dies manifestiert sich in der seit dem Regierungsumzug von Bonn nach Berlin in der Wirklichkeit Gestalt angenommenen Bezeichnung Berliner Republik, die sich positiv von dem Provisorium der Bonner Republik unterscheiden soll. Die Entscheidung, den Bundestag im Reichstagsgebäude ansässig zu machen, verstärkt zusätzlich den Symbolcharakter. Normalität wird in diesem Kontext als Wiedererlangung der national-staatlichen Souveränität: als Anknüpfung an die Staatstradition des Bismarckschen Reiches von 1871 verstanden. Der Begriff der Normalität aber ist schillernd und umfaßt darüber hinaus zwei weitere Ebenen, die sich gegenseitig überlagern: er verweist nicht nur post festum auf den Mangel an staatlicher Souveränität seit der Nachkriegszeit bis zur deutschen Wiedervereinigung, den Habermas als postnationale Konstellation bezeichnet,[1] sondern bezieht sich auch auf die Verbrechen der NS-Zeit, deren Schuld seit 1989 nach Ansicht vieler Realpolitiker als abgetragen gilt. Ferner strengt der Begriff einen Vergleich zu den anderen westlichen Demokratien an, indem Deutschland nunmehr als ein Nationalstaat westlichen Typs betrachtet wird. Dem europäischen Vergleich hält Deutschland freilich nur stand, wenn die nationalsozialistischen Verbrechen zugleich an der düsteren Seite der gesamteuropäischen Geschichte und an den Gewaltexzessen, die gegenwärtig in der Welt stattfinden, relativiert werden. Dem Wunsch nach einem normalisierten Umgang mit der eigenen Geschichte steht die selbstkritische und verantwortungsvolle Reflexion auf die Naziverbrechen, insbesondere auf den Massenmord an den Juden, die nicht ohne politische Konsequenzen bleiben kann, deutlich im Wege. Deshalb ist es keineswegs abwegig, hinter den neokonservativen Argumenten, die gleichermaßen von Konservativen und Liberalen vorgetragen werden, die mehr oder weniger verschleierte Absicht zu vermuten, die Schmach der Vergangenheit relativierend zu entsorgen, sich der Verantwortung endgültig zu entziehen. War es Mitte der 80er Jahre noch das polternde Auftreten allein rechter Realpolitiker vom Schlage eines Strauß' oder Dreggers, die mit wissenschaftlicher und publizistischer Rückendeckung durch Historiker wie Stürmer, Hillgruber oder Nolte den Schlußstrich unter die Vergangenheit sowie das Ablegen des Büßergewandes, das Richten des Blickes nach vorne in die Zukunft und das Heraustreten aus dem Schatten Hitlers forderten,[2] so scheinen diese Ansichten seit der Wiedervereinigung nunmehr auch in den Köpfen vieler Altlinker und Liberaler anzutreffen zu sein, auch wenn sie eine andere Sprache sprechen. Mit der Wiedervereinigung hat sich in der Absicht, die NS-Vergangenheit zu entsorgen, eine neue Strategie etabliert, weshalb Moshe Zuckermann schlimme Gespenster konstatiert, die seitdem durch das deutsche Debattenreich geistern. Zuckermann faßt die Wiedervereinigung auf als eine historische Wende im Bezug auf das "archaische Grundverhältnis der Täter-Opfer-Dichotomie des Holocaust".[3] Wer die deutsche Teilung mehr als gerechte Strafe für die Verbrechen im Nationalsozialismus, denn als politische Folge des Anfang der 50er Jahre begonnenen Kalten Krieges auffaßt, durch die jedenfalls die Deutschen "zu Opfern ihrer selbst" geworden seien, wird kaum davor gefeit sein, in der Wiedervereinigung nicht viel mehr als die Aufhebung der vermeintlichen Strafe zu entdecken; jedenfalls eine Rehabilitierung der Deutschen, deren Schuld, nachdem sie die Strafe erlitten haben, nunmehr abgegolten sei. Die sühnende Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit konnte nach der Wiedervereinigung bequem ausgetauscht werden durch eine moralisierende Abrechnung mit der Stasi-Vergangenheit, welche nicht mehr explizit eine deutsche Vergangenheit, sondern eine nur teilweise deutsche ist, während sie gleichzeitig wie parallel auch die 50-jährige Geschichte der demokratischen BRD als schützender Puffer zwischen NS-Vergangenheit und Gegenwart geschoben werden konnte. Dieser schützende Puffer verspricht, die Vergangenheit, die einmal nicht vergehen wollte,[4] nun endlich vergehen zu lassen.
Unter der seit 1998 gewählten rot-grünen Regierung setzt sich diese Tendenz fort: Gleich nach dem Regierungswechsel beschloß die rot-grüne Bundesregierung unter den in Anspruch genommenen Vorzeichen der Normalität die militärische Beteiligung deutscher Bundeswehrsoldaten im NATO-Krieg gegen das Milosevic-Regime und legitimierte dies rhetorisch, indem sie Hitler mit Milosevic sowie Auschwitz mit den gegenwärtigen genozidalen Verbrechen an den Kosovaren relativierend gleichsetzte. In keiner anderen europäischen Öffentlichkeit wurde die bisherige Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung in Frage gestellt, um die NATO-Intervention legitimieren zu können. Daß dies aber in der deutschen Öffentlichkeit geschehen ist, verweist auf einen zweiten nur unterschwellig vorhandenen neuralgischen Punkt, der weniger mit Serbien als viel mehr mit der deutschen Geschichte selbst zu tun hat. Der gesellschaftliche Konsens "Nie wieder Auschwitz" und "Nie wieder Krieg" - zuvor noch unzertrennlich im Selbstverständnis der Deutschen nach 1945 fest verankert gewesen - ist, gegen sich ausgespielt, zur Bejahung eines Krieges im Namen der Humanität geworden, um die vermeintliche Wiederholung von Auschwitz irgendwo in der Welt mehr oder weniger mit Nachdruck und Entschiedenheit zu verhindern. Dabei ging es offensichtlich mehr darum, die deutsche Öffentlichkeit im Sinne einer praktizierten Normalität von der Notwendigkeit eines militärischen Einsatzes der Bundeswehr politisch und moralisch zu überreden, als daß tatsächlich der Vergleich, Milosevic sei wie Hitler, der Wahrheit entsprochen hätte. Auch die Wiedergutmachung der Schuld in Form materialisierter Sühne, wie sie in Form von finanziellen Entschädigungen der NS-Opfer und durch Reparationszahlungen seit Gründung der BRD praktiziert wurde, soll abschließend zur Jahrtausendwende ein Ende nehmen. Zum letzten Mal werden an die Opfer des NS-Regimes insgesamt fünf Milliarden DM ausgezahlt. Danach sollen keine Ansprüche mehr auf Entschädigung juristisch geltend gemacht werden dürfen. Der kalendarische Einschnitt des Jahrtausendwechsels hatte in seiner Wahrnehmung etwas unwirkliches. Bezogen auf die geschichtliche Erinnerungsarbeit wirkt sich das äußerst fatal aus: Obwohl lediglich von einem Jahr in das nächste gewechselt wurde, scheinen große Teile der Öffentlichkeit der Ansicht zu sein, nicht nur in ein neues Jahrtausend zu schreiten, sondern hinter sich auch ein ganzes Jahrtausend zurückzulassen und dabei das Zurückgelassene, ganz gleich, was es sei - die Kreuzzüge des Mittelalters, die bürgerlichen Revolutionen zum Beginn der Moderne oder eben der Faschismus und Auschwitz, welche erst ca. 50 Jahre zurückliegen -, dem Vergangenen angehören zu lassen. Tabula rasa: der Blick nach vorne in ein neues Jahrtausend, das noch keine Geschichte kennt, nur Gegenwart, die sich in ihrer Jungfräulichkeit noch nichts hat zu Schulden kommen lassen können. Der Kulminationspunkt der zivilisierten Barbarei (Auschwitz) erhält für die Menschen damit etwas unwirkliches, das schwerfällt, als historische Wahrheit anzuerkennen und liebend gerne dem Vergessen überantwortet werden könnte.[5] Die Erinnerungsarbeit der Intellektuellen, Wissenschaftler sowie mancher Journalisten und auch Politiker auf der Grundlage der zahlreichen Bilder und Zeitdokumente wird es zunehmend schwerer haben zu verhindern, daß Auschwitz aus dem individuellen Gedächtnis in das Reich der Mythen verbannt wird, wenn die letzten Überlebenden und Zeitzeugen des Nazi-Terrors gestorben sein werden. An der Fortsetzung jener Tendenz im staatsoffiziellen Umgang mit der
NS-Vergangenheit läßt sich aber auch seit dem rot-grünen
Regierungswechsel oberflächlich eine qualitative Veränderung
konstatieren. Denn seitdem wird unter die NS-Vergangenheit ein
Schlußstrich gezogen und zur Normalität übergegangen,
indem von Verantwortung geredet und zugleich vorgegeben
wird, wie wichtig es sei, die richtigen politischen Konsequenzen aus
einer notwendig in Erinnerung zu behaltenen Vergangenheit zu ziehen.[6] Die rot-grüne Regierung greift
unter dem Begriff der zivilen Bürgergesellschaft den von
Habermas ausgearbeiteten Begriff eines abstrakten
Verfassungspatriotismus[7] teilweise
auf und praktiziert unter dem Vorsatz des aus Auschwitz abgeleiteten
Verantwortungsbewußtseins Normalität der deutschen Nation.
Diese liest sich streckenweise aber wie eine Versöhnung mit den
neokonservativen Interessen, zumal laut Regierungsauffassung der Verlauf
der deutschen Geschichte nach 1945 keineswegs in eine post-nationale
Gesellschaft geführt habe, in der die Nation relativiert sei, wie es
Habermas gerne gesehen hätte, sondern Deutschland im Zuge der
Wiedervereinigung zu einem Nationalstaat westlichen Typs, d.h.
zu einer Bürgernation geworden sei und sich von der
Reichstradition sowie dem ethnischen Volksgedanken verabschiedet habe.[8] Joseph Fischer formulierte in seiner
Rede vom 12. Mai 2000 an der Humboldt Universität seine Vision eines
politischen Europas, welche eine scheinbar längst
notwendige europäische Debatte ausgelöst hat.[9] Europa werde in keinem leeren politischen
Raum entstehen, die politischen Nationalkulturen
gehörten zu einer unaufhebbaren europäischen Identität,
die vor allem auch ihre sprachlichen Abgrenzungen habe. Deshalb
müsse ein europäisches Parlament "immer ein Doppeltes
repräsentieren: ein Europa der Nationalstaaten und ein Europa der
Bürger." - Einen der größten Beifälle für
Fischers Vision kam von der CDU/CSU, die Fischer wohlwollend
verdächtigte, aus ihrem Parteiprogramm abgeschrieben zu haben. Trotz einiger auffälliger Diskrepanzen zwischen seinen politisch-theoretischen Ansichten und der Europapolitik der rot-grünen Bundesregierung erscheint der Frankfurter Intellektuelle Jürgen Habermas seit dem Regierungswechsel zunehmend in den Rang eines Staatsphilosophen jener Berliner Republik erhoben worden zu sein. Darin könnte er durchaus mit dem späten Hegel verglichen werden. Wenn Habermas feststellt, der durch Carl Schmitt inspirierte Verdacht der Subversion habe seit der Widervereinigung an der Linken ihren Gegenstand verloren, weil sie pragmatisch geworden sei,[10] so gilt das allen voran auch für Habermas selbst.[11] Sein pragmatisch-politisches Engagement besteht darin, auf theoretischer Ebene die "geschichtliche Symbiose des Republikanismus mit dem Nationalismus aufzulösen und die republikanische Gesinnung der Bevölkerung auf die Grundlage eines Verfassungspatriotismus umzustellen."[12] - Das versteht er als ein politisches Gegenkonzept zu jenem undialektischen Zurück zur Normalität, das die Neokonservativen sich gerne wünschen. Die Dialektik der Normalisierung, so wie Habermas sie dem konservativen Versprechen nach Normalität entgegensetzt, soll nicht das bloße Anknüpfen an die vermeintlich bessere deutsche Tradition bedeuten, sondern impliziert die Kultivierung des Bruches mit der Tradition um einer ganz anderen Normalität willen, die erst in der Zukunft als Tradition erscheinen kann.[13] Im Angesicht der moralischen Katastrophe (Auschwitz) erweise sich auch die deutsche Geschichte und Kultur vor Auschwitz als belastet, so daß an sie nach Auschwitz nicht unbefangen anzuknüpfen sei. Vielmehr sei es geboten, sich eindeutig zu den westlichen Werten, zu der Tradition der englischen und französischen Aufklärung und ihren bürgerlichen Revolutionen zu bekennen. Dieses Bekenntnis zu den westlichen Werten konkretisiere sich in einem abstrakten, nicht nationalistischen Verfassungspatriotismus, unter dessen praktizierten Vorzeichen einer zivilen Gesellschaft der citoyen sich die Deutschen einen Anspruch auf Normalität erwerben könnten. Seit der Wiedervereinigung wird Normalität der deutschen Nation aber einfach in Anspruch genommen und die aus ihrer historischen Verspätung (Plessner) resultierende Problematik im Übergang in die europäische Integration gleichsam ad acta gelegt, damit sich auch ein normalisiertes Europa den Anforderungen im 21. Jahrhundert stellen kann.[14] Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler bringt es auf den Punkt: "Seit dem 3. Oktober 1990 gibt es keine deutsche Frage mehr. Dafür haben wir jetzt eine europäische, und sie wird uns in den nächsten Jahrzehnten intensiv beschäftigen."[15] Das wiedervereinigte Deutschland habe sich die politische Form eines postklassischen Nationalstaats gegeben und sei fest eingebunden in die supranationale Gemeinschaft. Jedwede Form des Sonderweges sei damit abgeschlossen worden, denn Deutschland teile mit jedem Nationalstaat innerhalb der Europäischen Union dasselbe Schicksal, welches eben darin bestehe, in der Souveränität zugunsten einer supranationalen Konstellation relativ eingeschränkt zu sein. Die Äußerungen Winklers sind insofern interessant, als er ein Beispiel dafür ist, wie auch von Personen, die eher dem liberalen Spektrum zuzuordnen wären, die Existenz eines deutschen Nationalstaates nach der Wiedervereinigung nicht nur akzeptiert, sondern auch begrüßt werden. Im Historikerstreit hatte Winkler noch geschrieben, daß Deutschland angesichts der Tatsache, für zwei Weltkriege verantwortlich zu sein, einen souveränen Nationalstaat nicht mehr wollen dürfe.[16] 14 Jahre später attestiert derselbe Historiker dem Außenminister Fischer bemerkenswerte Lernfähigkeit, was die Einsicht in die Notwendigkeit des Nationalstaates für Europa anbelangt.[17] Fischer hatte geäußert, daß Deutschland nunmehr in seinem Nationalstaat angekommen sei, ironischerweise aber zu einem Zeitpunkt, als der klassische europäische Nationalstaat nicht mehr in der Lage sei, aus sich heraus die Probleme der Gegenwart und Zukunft zu lösen. Deshalb gehe es darum, sich für ein starkes und politisches Europa einzusetzen, mithin das Prinzip der europäischen Integration zu vollenden.[18] Die Inanspruchnahme deutscher Normalität erfolgt durch eine mythologisierende Enthistorisierung (Zuckermann) der NS-Vergangenheit, die ideologisch für eine Art neuen Staatsmythos instrumentalisiert wird. Die Wiedervereinigung ist nicht als Neugründung der Republik verstanden worden, sondern als Beitritt Ostdeutschlands zur BRD. Dementsprechend hat es auch keine Debatte um eine neue Verfassung gegeben. Die alte wurde einfach beibehalten. Dennoch ist das Provisorium, welches die Bonner Republik dargestellt hatte, mit der Erlangung nationalstaatlicher Souveränität gleichsam aufgehoben worden und hätte in einem demokratischen Staat konsequenterweise eine öffentliche Debatte hinsichtlich der Neuorientierung, der Implikationen und Konsequenzen der durch die Wiedervereinigung erlangten Nationalstaatssouveränität zur Folge haben müssen, zumal nach Art. 146 des vorläufigen BRD-Grundgesetzes eine verfassungspolitische Diskussion im Zuge der Wiedervereinigung geboten gewesen wäre. Die Konservativen haben sicherlich den Einfluß der Linken und Liberalen auf eine öffentlich geführte Debatte gefürchtet und wollten sich das Thema der nationalen Identität nicht madig machen lassen, schließlich lag der Historikerstreit noch gar nicht so lange zurück. Viele Linksliberale haben in diesem Ausbleiben dagegen vielleicht auch einen Vorteil erkennen können, weil in dem Provisorium der Bonner Republik nicht nur eine Verankerung in der EU und NATO-Mitgliedschaft als eindeutige Orientierung am Westen, sondern zugleich auch eine Depotenzierung der staatlichen Souveränität und das Gebot militärischer Zurückhaltung als Folgen der NS-Vergangenheit realisiert waren. Mit dem Provisorium schien sich jedenfalls besser leben zu können als mit einer im Zuge der Verfassungsfrage zu befürchtenden, neu sich etablierenden national-konservativen Staatsideologie. So läßt sich das Ausbleiben der Generaldebatte für eine neue Verfassung vielleicht ansatzweise erklären. - Gleichzeitig sind damit aber auch Chancen vergeben worden. Nach dem Wegfall der ideologisch verhärteten Konfrontation im Kalten Krieg aus Stalinismus und Antikommunismus, wäre es vernünftig gewesen, über eine Demokratisierung Ostdeutschlands sowie über eine Sozialisierung Westdeutschlands nachzudenken. Anzuknüpfen wäre - vermittelt über die sozialistisch-demokratische Tradition der DDR-Opposition und der 68er-Bewegung der BRD - sowohl an den antifaschistischen Geist der frühen DDR (mithin zu einer Zeit als dieser noch lebendig und nicht für einen realsozialistischen Staatsmythos instrumentalisiert wurde) als auch an den kapitalismuskritischen Geist der ersten Nachkriegsjahre in Westdeutschland, der noch Einzug in das Grundgesetz und sogar in das Ahlener Parteiprogramm der CDU hielt, dann aber durch den Antikommunismus zu Beginn der Adenauerperiode verschwand. Das national-konservative Selbstverständnis hat sich seit der Wiedervereinigung statt dessen in Stellvertreterdebatten unter der Hand restauriert, wozu der Reihe nach Themen und Ereignissen wie Golfkrieg, Asylrecht, Regierungsumzug, Berliner Mahnmal,[19] Walser-Bubis-Streit, NATO-Krieg im Kosovo, Staatsangehörigkeitsrecht und Europäische Integration reichlich Anlaß boten. Dabei wurde oft genug die gesellschaftliche Öffentlichkeit aufgrund eines dringlich erscheinenden Handlungsbedarfs meist im Sinne jener normativen Kraft des Faktischen vor mehr oder weniger vollendete Tatsachen gestellt. Gleich nach dem Golfkrieg fand z.B. im Bundestag eine Debatte über die Änderung des Grundgesetzes statt, um zukünftig den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes zu ermöglichen. Die FAZ kommentierte noch zuvor am 18. Februar 1991: "Die Wiedervereinigung hatte der Nation den Wortschatz staatlicher Symbolik zurückgegeben. Jetzt hätte sie zum ersten Mal in dieser Sprache reden müssen. Statt dessen blieb sie stumm und muß nun dafür zahlen." - Habermas bezeichnete den Golfkrieg treffend als Katalysator eines undialektischen Zurück zur Normalität.[20]
Die Nation erwies sich in all dem nicht als tägliches Plebiszit (Renan), sondern die Gesellschaft als Ratifizierungsorgan des vom Staat Vorgegebenen. Jedenfalls ließ sich beobachten, daß die Konservativen - als sie noch die Regierung stellten - wenig dafür taten, ihren Anspruch, der deutsche Staat müsse innerhalb Europas eine Führungsrolle übernehmen, als "deutschen Willen" ideologisch zu maskieren. Sie folgten eher dem Ratschlag der FAZ-Strategen, "den westdeutschen Willen, eine Führungsrolle anzunehmen, weniger durch Worte als durch Taten zu beweisen."[21] Schon mit der Aufgabe des sogenannten Genscherismus[22] durch Genscher selbst, indem er im Alleingang ohne Absprache mit den europäischen Nachbarn Kroatien als unabhängigen Staat anerkannte, begann sich diese Strategie in die Tat umzusetzen. Seitdem hat der Einfluß der Gewalt-Strategen in der Bundeswehr auf die Außenpolitik zugenommen. Große rhetorische Anstrengungen wurden geleistet, um auf eine nationalstaatliche Souveränität auch in militärpolitischer Hinsicht hinzuwirken. Bundeswehreinheiten wurden nach Kambodscha und Bosnien (1992), Somalia (1993), in den Kosovo und nach Ost-Timor (1999) entsendet, um an militärischen Blauhelminterventionen out of area mitzuwirken. Zu erinnern wäre auch an die "Oderflut" im Sommer 1997: Der Einsatz der Bundeswehrsoldaten gegen das Hochwasser wurde von Politikern wie auch von der Presse zu einem heldenhaften Kampf an der Oderfront und darin die Natur zum Feind stilisiert, so daß jeder einsehen sollte, wie hochmotiviert die Bundeswehr bei der Verteidigung des Landes mit effektivsten Mitteln und auch mit Kriegsgerät (z.B. Tornados) bei der Sache war. Die Verlegung der Zapfenstreiche in die Öffentlichkeit sollte ähnliches bewirken. Ein Jahr später konnte die Bundeswehr von ihrem aufgebesserten und nationalisierten Image zehren und auf größere Akzeptanz in der Bevölkerung hoffen, als es um die militärische Beteiligung Deutschlands im NATO-Krieg gegen Serbien ging. Etwas ironisch mutet in diesem Zusammenhang die Haltung der
europäischen Nachbarn an, die eine Führungsrolle Deutschlands
in Europa geradewegs zu akzeptieren scheinen. Während der deutsche
Drang nach einer solchen - abgeleitet aus der geographischen Mittellage -
in zwei angezettelten Weltkriegen nicht realisiert werden konnte, wird
nunmehr ein Führungsanspruch Deutschlands innerhalb Europas aus
seiner ökonomischen Potenz abgeleitet und von den europäischen
Nachbarn scheinbar als logisch akzeptiert. Mit der EU-Osterweiterung
würde Deutschland nicht nur das ökonomisch potenteste Land in
Europa bleiben, sondern auch seine geographische Mittellage
innerhalb der EU anschaulicher werden, aus der zusätzliche Argumente
bezüglich einer Führungsrolle sich ableiten ließen. Auch
die Reform der Abstimmungsmodalitäten innerhalb des EU-Rates, nach
der Deutschland als bevölkerungsreichstes Land zukünftig das
größte Stimmengewicht erhielte, verliert in diesem Kontext
seinen harmlosen Anschein. Angesichts all dessen stellt sich erneut die Frage, was eine adäquate Auseinandersetzung und Aufarbeitung der NS-Vergangenheit überhaupt bedeuten kann, wenn staatliche, d.h. allgemein kollektive Erinnerungsarbeit per se einer interessegeleiteten Instrumentalisierung[23] zum Opfer zu fallen scheint, zur ideologisierenden Ausbildung von Kodes neigt,[24] in denen sich die historische Wahrheit verklärt. Jürgen Habermas begründet sein emphatisches Projekt eines abstrakten Verfassungspatriotismus, der die deutsche Identität zukünftig ausmachen soll, als moralisch-politische Konsequenz aus der NS-Vergangenheit. Eben weil das geschehene Unrecht nicht wirklich wieder gutgemacht werden könne, komme es um so mehr darauf an, jene wenn auch schwache Kraft einer sühnenden Erinnerung zu mobilisieren, die es möglich machen soll, mit einer den Opfern geschuldeten Sensibilität eine reflexive Distanz zu den "abgründigen Ambivalenzen der Überlieferungen, die unsere eigene Identität geformt haben", einzunehmen, um jene vorgefundene Tradition bewußt anders fortzusetzen als sie aus sich heraus kontinuierlich sich fortsetzen würde.[25] Die Kraft der sühnenden Erinnerung erscheint aber als derart schwach, daß sie sich kaum durchzusetzen vermag gegen die fortgesetzten Anforderungen einer kapitalistischen Realität, in der politisch-ökonomische Interessen den Hintergrund bilden für einen angestrengten Kulturkampf um Hegemonie in der Öffentlichkeit (Gramsci), dem deshalb nicht mit den moralischen Prinzipien einer Diskursethik beizukommen ist. Als demokratische Diskursethik faßt Habermas eine moralisch-praktische Verfahrensrationalität, die sich an die Regeln eines fairen Ausgleichs von Interessen, quasi an eine Ethik des Kompromisses hält.[26] Die Diskursethik von Habermas ist im wesentlichen voluntaristisch, weil sie den Klassenantagonismus ausblendet, der die demokratischen Diskurse nicht egalitär ablaufen läßt, Kompromisse zu erzwungenen, erpreßten Zugeständnissen macht und letztlich das gesamte moderne Zeitalter der Aufklärung als eine Geschichte erscheinen läßt, in dem das vernünftige Argument - wenn überhaupt - nur in Zusammenhang vermittelter Autorität und Macht sich durchsetzen konnte: auctoritas, non veritas facit legem, hatte Thomas Hobbes zum Beginn der Moderne treffend erkannt. Eine adäquate Erinnerung an Auschwitz ist also vor ein doppeltes Problem gestellt. Denn "wie an dem Mitte der achtziger Jahre entbrannten Historikerstreit deutlich geworden sein sollte, läßt sich Auschwitz auch gerade vermittels eines in bestimmter ideologischer Absicht historisierenden Ansatzes seines spezifischen historischen Kontextes solcherart entkleiden, daß es ein die reale deutsche Vergangenheit entsorgendes, das deutsche Selbstbild dabei entschuldendes Konstrukt einer geschichtlich verfahrenen Enthistorisierung zeitigen kann."[27] Die Frage, die Habermas aufgeworfen hat, wie die Tradition fortgesetzt, welche Konsequenzen aus Auschwitz gezogen werden sollen, hängt von dem hegemonialen Geschichtsbild ab, um das deshalb konservative und links-liberale Kreise im Historikerstreit 1986, wenige Jahre nach dem konservativen Regierungswechsel, öffentlich gestritten haben. Der Historikerstreit ereignete sich im Laufe des Jahres 1986. Insofern ist er eine genau zeitlich einzugrenzende Debatte. In diesem Streit ist andererseits nur aufgebrochen, was längst zuvor schon zur Sprache kam, und was auch nach der Wiedervereinigung nicht zur Ruhe gekommen ist. Insofern hat dieser Streit eine Vorgeschichte und ihre Fortsetzung. Es ist deshalb allgemein von einem hegemonialen Kampf um das Geschichtsbild zu sprechen, der sich von der Gegenwart bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zurückverfolgen ließe,[28] aber 1986 seinen Höhepunkt gefunden hatte. Ende 1986 resümierte Joachim Perels, daß der "Versuch, die Behandlung des NS-Systems dadurch zu verändern, daß schmerzende Fragen durch entlastende Deutungen ersetzt wurden, (...) vorerst gestoppt worden" sei.[29] Gestoppt werden konnte dieser Versuch nicht endgültig, der Kampf um das Geschichtsbild wurde fortgesetzt, und im Fortlauf gelang es vor allem seit der deutschen Einheit immer erfolgreicher, auf die umgedeutete Vergangenheit einen nicht mehr belastenden, sondern das nationale Selbstbewußtsein affirmierenden Staatsmythos aufzubauen. Vor allem spielt hierbei das Schweigen sowie allzuhäufig auch die Übernahme konservativer Geschichtsbilder seitens vieler links-liberaler Politiker, Journalisten und Wissenschaftler seit 1989 eine entscheidende Rolle für das Gelingen. Der rot-grüne Regierungswechsel 1998 hat denn auch keine wesentliche qualitative Veränderung im staatsoffiziellen Geschichtsbild nach sich gezogen; lediglich die Rhetorik hat sich gewandelt: die offizielle Staatsideologie der Berliner Republik erscheint als versöhntes Gemälde liberaler und konservativer Ansichten. Der Kampf um das Geschichtsbild erfolgt nicht aus Selbstzweck. Das Eingreifen der um historische Wahrheit bemühten Intellektuellen erfolgt nicht aus berufsnotorischer Rechthaberei, sondern hat unmittelbar einen gesellschaftspolitischen Hintergrund. Denn aus dem hegemonialen Geschichtsbild leiten sich schließlich die politischen Konsequenzen für die Gegenwart und Zukunft ab. Schon die Art des Rückblickes auf das 20. Jahrhundert, die Weise, wie Auschwitz einsortiert wird in die umfassenden historischen Abschnitte, ist ausschlaggebend. Wird Auschwitz und der deutsche Faschismus wie der Gulag und Stalinismus in eine totalitäre Epoche eingeordnet und als Zeitalter der Ideologien (Hildebrand) interpretiert, gegen das sich der liberale und demokratische Westen zur Wehr gesetzt habe, oder gar als Abwege von der Weltdemokratie verstanden, die mit der russischen Revolution und mit Lenin begonnen haben und in Auschwitz als irrationale Verzweiflungstat aus Angst vor dem Bolschewismus (Nolte) gemündet haben soll, wären daraus andere politische Konsequenzen zu ziehen als etwa aus einem marxistischen Verständnis der Geschichte, das die sozialen und ökonomischen Ursachen aus der Faschismusanalyse nicht ausblendet. Die rechts-konservative Geschichtsauslegung, wie sie im Historikerstreit deutlich zum Vorschein kam (E. Nolte, J. Fest, M. Stürmer, A. Hillgruber), hätte die Apologie, bzw. Restauration der bürgerlichen Gesellschaft mit einem autoritären Staat zur Folge. Den Gegenpol dieser politischen Konsequenzen einer rechtskonservativen Geschichtsinterpretation bildete die an der materialistischen Geschichtsauffassung der Marxschen Theorie orientierte frühe kritische Theorie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, in der die Genese des Faschismus eben aus dem Liberalismus, der zu schwach gewesen war, den Faschismus abzuwehren, abgeleitet und mit einer schonungslosen Kapitalismuskritik verbunden war. Habermas bewegt sich mit dem von ihm ins Zentrum seiner politischen Schriften gerückten Begriff des abstrakten Verfassungspatriotismus zwischen diesen Polen. Seine Implikationen laufen auf eine zivile Gesellschaft liberaler Prägung hinaus, die auch von der deutschen Sozialdemokratie seit ihrem Regierungsantritt 1998 mit ihrem Ideal eines Dritten Weges favorisiert wird. Tendenziell stimmt sich das sozialdemokratische Konzept mit den bürgerlich-konservativen Ansichten versöhnlicher als mit Adornos kategorischen Imperativ, der schon von Habermas nicht mehr in seiner vollständigen Dimension gedacht wird, sondern von Marx abgeschnitten und auf Kantische Moralphilosophie reduziert zu sein scheint.
Während die von Habermas gezogenen Schlußfolgerungen weitgehend voluntaristische Implikationen in sich tragen, ginge es vielmehr darum, zunächst die sozio-ökonomischen und -kulturellen Verhältnisse zu betrachten, dem Wesen der historischen Situation zu gedenken, "die wehrlose Opfer hat entstehen lassen, um daraus zu folgern, daß es solche Situationen niemals mehr geben darf, und das heißt: daß Gegengewalt überflüssig geworden ist, wie Gewalt selbst."[30] Es leitet sich aus der Fortexistenz der Bedingungen, die Auschwitz möglich gemacht haben und deshalb wieder möglich machen können,[31] nicht gleich eine Schuld der Nachgeborenen ab, wohl aber eine kollektive Verantwortung jedes einzelnen sowie die Aufgabe der politischen Reflexion, woraus das an der theoretischen Einsicht orientierte praktische Primat erwächst, nicht nur Auschwitz und das ihm ähnliche für alle Zeiten der Vergangenheit angehören zu lassen, sondern auch seine gesellschaftlichen Voraussetzungen weltweit zu überwinden. Damit die aus Auschwitz zu ziehenden Konsequenzen deutlich werden, muß der zivilisierte Massenmord an den Juden aus der Geschichte heraus erklärt werden. Die kategorische Behauptung der Inkommensurabilität von Auschwitz, mit allem, was danach kommt, nimmt Auschwitz als einmaliges Ereignis, quasi als historischen Unfall, aus der Geschichte. Von Auschwitz als von einer historischen Einmaligkeit zu sprechen, wäre ebenso problematisch wie auch seine Verallgemeinerung. Auschwitz darf nicht als Maßstab genommen werden, an dem die Schwere gegenwärtiger Gewaltverbrechen blaß erscheinen muß, solange es sich nicht um eine tatsächliche Wiederholung von Auschwitz oder ihm ähnlichen handelt; solche Vergleiche können nur relativieren und verharmlosen. Auschwitz ist das permanent Vorwaltende (Zuckermann), das solange als Warnsignal auf unserer Zivilisation lastet, wie die gesellschaftlichen Bedingungen fortexistieren, die es einmal möglich gemacht haben. "Gerade wegen seiner einzigartigen Erscheinung in der Weltgeschichte darf der Holocaust nicht mythologisierend enthistorisiert, vor allem aber nicht durch Ideologie partikular vereinnahmt werden, sondern muß zum nie mehr wegzudenkenden historischen Warnsignal werden, das als solches eben nicht als vergleichbares Phänomen 'ausharrt', sondern unentwegt auf die Möglichkeit menschlicher Barbarei verweist."[32] Adornos kategorischer Imperativ, alles dafür zu tun, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe,[33] steht nicht zufällig in einer Linie mit Kant und Marx. In Adornos kategorischem Imperativ ist aufgehoben, daß der Mensch den Menschen nie allein als bloßes Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck behandeln soll, und daß dies nur in einer Welt möglich ist, in der die objektiven Verhältnisse, die den Menschen zu einem geknechteten, verlassenen und verächtlichen Wesen machen, umgestürzt sind. Dann erst hätte man alles dafür getan, damit Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe. Für die Gewähr des Kantischen Imperativs ist demnach die Kritik der politischen Ökonomie von Marx eine notwendige Voraussetzung. Oder anders gesagt: Wer den Kapitalismus nicht kritisieren will, sollte über Auschwitz schweigen. Moral für sich ist eine stumpfe Waffe, die gegen die politische Ökonomie, von der sie maßgeblich beeinflußt wird, allein nichts wirklich zu verändern vermag. Die moralische Aufarbeitung der Katastrophe ist gelenkt von den politisch-ökonomischen Interessen der Gegenwart. Diese Interessen sind, gepaart mit der psychischen Abwehr von Schuld, derart einflußreich, daß die Vergangenheit zum Spielball der Gegenwart wird, die sich die Traditionen neu erfindet bzw. instrumentalisiert. In diesem Sinne geriet zum Beispiel die gescheiterte (!) deutsche Revolution von 1848 zu einem positiven Anknüpfungspunkt des wiedervereinigten Deutschlands. Das 150. Jubiläum von 1848 wurde als identitätsstiftendes Moment für die deutsche Nation instrumentalisiert und beiläufig post festum zum Erfolg gemacht, obwohl gerade aus dem Scheitern von 1848 der weitere Verlauf zum völkischen Nationalismus der Nazis zu erklären wäre. Da aber in der Gegenwart alles darauf angelegt wird, Deutschland als normalen, normalisierten Nationalstaat darzustellen, wird der Nationalsozialismus als Unterbrechung der Tradition von 1848 und das wiedervereinigte Deutschland als die Fortsetzung dieser gehandhabt. Ideologiekritik muß an solchen Verzerrungen der Geschichte
ansetzen, um sich - mit Walter Benjamin gesprochen - der Erinnerung zu
bemächtigen, damit sie sich nicht länger als Werkzeug der
Herrschenden hergeben muß und dadurch die historische Wahrheit als
Opfer von Geschichtspolitik: des Mißbrauchs von Geschichte für
politische Zwecke, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. Dies ist ein
neuralgischer Punkt bezüglich der Möglichkeit oder
Unmöglichkeit zukünftiger Emanzipation. Anmerkungen[1] Siehe Jürgen Habermas: Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a.M. 1998. [2] Vgl. Bayernkurier vom 9.2. und 4.5.1985. [3] Vgl. Moshe Zuckermann: Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands, Göttingen 1998, S. 178 f. [4] Vgl. Ernst Nolte: Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte, in: "Historikerstreit". Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 39-47. [5] Ernest Renan formulierte in seinem Vortrag "Was ist eine Nation?" an der Sorbonne 1882, daß das Vergessen historisch zurückliegender Gewaltereignisse eine wichtige Voraussetzung für die nationale Identität sei. Jeder Franzose müsse z.B. die Bartholomäusnacht vergessen haben, sich jedenfalls zu ihr gleichgültig verhalten, weil andernfalls alte affektive Bindungen - etwa die konfessionellen - der Nation als Entzweiungspotential gegenübertreten. (Ernest Renan: Was ist eine Nation? In: Ders.: Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, übersetzt durch Henning Ritter, Wien, Bozen 1995, S. 45) - Auschwitz hat in der Folge die affektive Bindung an die Nation sehr stark erschüttert, so daß es National-Konservativen schon immer ein Dorn im Auge gewesen ist, wenn Kritiker gegen die Normalisierung der NS-Vergangenheit Erinnerungsarbeit leisten und damit das Vergessen und die affektive Einheit der Nation verhindern, weshalb sie genauso als Störenfriede behandelt werden wie oftmals auch die Opfer des Nationalsozialismus. [6] Vgl. Streitgespräch Joseph Fischer contra Jean Pierre Chevènement, Die Zeit, Nr. 26/2000: "Die Deutschen sind nach einer 150-jährigen tragischen Geschichte, der Suche nach dem eigenen Nationalstaat, der Verführung zur Hegemonie und schließlich dem Absturz ins Verbrechen endlich bei sich selbst angekommen: politisch und auch kulturell. Heute sind die Deutschen genauso mit sich selbst im Reinen wie die Franzosen. Auch mit ihrer Geschichte. Nur ist unsere Geschichte leider anders. Zu uns gehört die anhaltende Auseinandersetzung mit und die moralisch-historische Verantwortung für Auschwitz. Das ist Teil unserer Nationalgeschichte." [7] Der Begriff Verfassungspatriotismus stammt ursprünglich von Dolf Sternberger, dem es dabei hauptsächlich um einen republikanischen Bezug auf das Vaterland ging. Bei Sternberger ist Verfassungspatriotismus ein Synonym für die von ihm bereits früher reklamierte Staatsfreundschaft. In beiden Begriffen kommt bei Sternberger eine deutliche Abgrenzung zum von ihm sogenannten Protest-Patriotismus der Linken zum Ausdruck. Wichtig ist ihm ein freundschaftliches Verhalten zum Vaterland sowie Loyalität gegenüber dem Staat. (Vgl. Dolf Sternberger: Der Begriff des Vaterlandes, in: ders., Staatsfreundschaft, Schriften, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1980, S. 9 ff. - Vgl. auch ders.: Verfassungspatriotismus, Schriften, Bd. X, Frankfurt a.M. 1990) - Bei Habermas erlangt der Begriff des Verfassungspatriotismus allerdings eine andere Bedeutung. Er löst den Patriotismus aus seinem nationalen Rahmen. Erst dadurch läßt sich von einem abstrakten Verfassungspatriotismus sprechen. - Vgl. dazu allgemein Jürgen Seifert: Verfassungspatriotismus im Licht der Hegelschen Verfassungstheorie, in: ders., Politik zwischen Destruktion und Gestaltung. Studien zur Veränderung von Politik, Hannover 1997, S. 67 ff. - Vgl. auch ders.: Kampf um Verfassungspositionen, Frankfurt a.M. 1974. [8] Vgl. "Deutschland ist eine Nation westlichen Typs geworden", Interview mit dem Koordinator für eine deutsch-französische Zusammenarbeit, Rudolf von Thadden, Frankfurter Rundschau, 10. Juni 2000. [9] Vgl. Joseph Fischer: Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Rede am 12. Mai 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin. - Die Rede Fischers wird von Rudolf von Thadden folgendermaßen zusammengefaßt: "Der Kern seiner Rede ist der Wunsch, das nationale und das post-nationale Denken in Europa zu versöhnen. Er sagt, Deutschland hat seine nationale Identität wiedergefunden, ohne in die nationalistischen und ethnischen Traditionen des 19. Jahrhunderts zurückzufallen. Er verbindet Bürgersein und nationale Zugehörigkeit." (Ebd.) [10] Auch der Berliner Historiker Heinrich August Winkler kommt zu diesem Resümee. An jener sogenannten Adenauerschen Linken kritisiert er ihr apologetisches Verhalten gegenüber den Regierenden, nachdem diese zunehmend Ansätze gefunden hat, sich mit der Realpolitik der Bundesregierung identifizieren zu können. (Vgl. Ulrich Herbert: "Vom Reich zur 'postklassischen Nation' - Heinrich August Winklers 'Deutsche Geschichte', Neue Zürcher Zeitung, 25./26. November 2000, S. 51 f. - Vgl. auch Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd. II: Deutsche Geschichte vom 'Dritten Reich' bis zur Wiedervereinigung, München 2000.) [11] "Die Linken ihrerseits sind pragmatisch geworden. Die Allerweltsformel von der sozialen und ökologischen 'Bändigung' des Kapitalismus ist sogar in ihrer dynamischen Lesart vom 'Umbau' der Industriegesellschaft auf allen Seiten akzeptiert. Nachdem der Streit um Eigentumsformen schon - längst - seine dogmatische Bedeutung verloren hat, verlagert sich der Wettstreit der politischen Ideen weitgehend von der Ebene der gesellschaftspolitischen Ziele auf die Ebene ihrer Operationalisierung." (Jürgen Habermas: Europas zweite Chance, in: Vergangenheit als Zukunft. Das alte Deutschland im neuen Europa? Ein Gespräch mit Michael Haller, München 1993 (Zürich 1991), S. 207.) [12] Jürgen Habermas: Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: Die postnationale Konstellation, a.a.O, S. 116. [13] Vgl. Jürgen Habermas: Der Golf-Krieg als Katalysator einer neuen deutschen Normalität?, in: Vergangenheit als Zukunft, a.a.O., S. 41 f. [14] "Normalität heißt nicht, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen - da wäre ich völlig mißverstanden worden. Aber europäische Normalität, das heißt angekommen sein in festen Grenzen. Im eigenen Nationalstaat, mit all den Brüchen, aber auch der Verantwortung, die sich aus den Brüchen der Nationalgeschichten ergibt." (Streitgespräch Fischer contra Chevènemnet, Die Zeit, a.a.O.) [15] "Die Sonderwege sind zu Ende", Interview mit dem Berliner Historiker Heinrich August Winkler, Spiegel 40/2000, S. 85. [16] Vgl. H. A. Winkler: Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen, in: "Historikerstreit", a.a.O., S. 262 f.) [17] "Es gibt auch bemerkenswerte Lernprozesse, etwa bei Außenminister Joschka Fischer, der über die Rolle des Nationalstaats in Europa heute sehr viel realistischer spricht als vor zehn Jahren." Spiegel-Interview mit H.A.Winkler, a.a.O. [18] Vgl. Streitgespräch Joseph Fischer contra Jean Pierre Chevènement, a.a.O. [19] Das Mahnmal in Berlin sei "keine Absage, sondern eine Bejahung unserer Nation." (Streitgespräch Fischer contra Chevènement, a.a.O.) [20] Vgl. Habermas: Der Golf-Krieg als Katalysator einer neuen deutschen Normalität?, in: Vergangenheit als Zukunft, a.a.O., S. 42. - Siehe auch das Nachwort, S. 191: "Mithilfe eines kooperationsbereiten Bundesverfassungsgerichts, das sich auf der Grundlage eines streng prozeduralistischen Verständnisses seiner Normenkontrollbefugnisse hätte zurückhalten müssen, betreiben Kohl, Schäuble und Rühe unverhohlen eine Politik der schleichenden Militarisierung unserer Außenpolitik - sie vertrauen auf die normative Kraft des Faktischen." [21] Siehe FAZ vom 7.2.1987. [22] Genscherismus bedeutete eine Politik der Rücksichtnahme auf die Interessen und sensiblen Befindlichkeiten der europäischen Nachbarn aufgrund der NS-Vergangenheit, aus der eine Hypothek der Zurückhaltung für die Nachkriegszeit abgeleitet wurde. [23] Vgl. Zuckermann, a.a.O., S. 177. [24] Vgl. Zuckermann, a.a.O., Einleitung. [25] Vgl. Habermas: Grenzen des Neohistorismus, in: Ders.: Die nachholende Revolution, Frankfurt a.M. 1990, S. 155: "Wir können uns unsere Traditionen nicht aussuchen, aber wir können wissen, daß es an uns liegt, wie wir sie fortsetzen." [26] Vgl. Habermas: Was Theorien leisten können - und was nicht, in: Vergangenheit als Zukunft, a.a.O., S. 143. [27] Zuckermann, a.a.O., S. 175. [28] Siehe Reinhard Kühnl: Ein Kampf um das Geschichtsbild: Voraussetzungen - Verlauf - Bilanz, in: Ders. (Hg.): Streit ums Geschichtsbild. Die "Historiker-Debatte". Dokumentation, Darstellung und Kritik, Köln 1987. [29] Joachim Perels: "Wer sich verweigerte, ließ das eigene Land im Stich. In der Historiker-Debatte wird auch der Widerstand umbewertet", Frankfurter Rundschau vom 27.12.1986. [30] Zuckermann, a.a.O., S. 176 f. [31] "Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen." (Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a.M. 1971, S. 88.) [32] Zuckermann, a.a.O., S. 179. [33] Vgl. Th. W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1975, S. 358. Kontext:
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