Den Aufsatz kommentieren Alles beim Alten: Die SPD blinkt am ScheidewegDie Neuauflage der Inszenierung des Lehrstücks der Sozialdemokratievon Sven Oliveira Cavalcanti
Die VorgeschichteKarl Marx schrieb über Parteiprogramme, daß sie „Marksteine“ [1] seien, an denen die „Höhe der Parteibewegung“ gemessen werden könne. Als die deutsche Sozialdemokratie 1869 in Eisenach gegründet wurde, hatte sie sich programmatisch als der deutsche Arm der in London ansässigen IAA (Internationale Arbeiter Assoziation) verstanden, deren „Provisorische Statuten“ von niemand geringerem als Marx selbst verfaßt worden waren. Stoß- und Zielsetzung der damaligen SDAP war nicht weniger als die Überwindung des Kapitalismus selbst. Doch im Laufe der Geschichte wurde die SPD immer mehr Ausdruck ihrer Zeit, als daß sie es verstanden hätte, ihren ursprünglichen Ausdruck auf ihre Zeit auszuüben. Der erste Meilenstein der institutionalisierten Sozialdemokratie auf dem Weg die Kritik des Ganzen zugunsten der Apologie des Bestehenden zu verlassen, war die Bewilligung der Kriegskredite als Teilschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Diese Teilschuld hat die heutige SPD in ihrem Parteiprogramm von 1989 teilweise anerkannt: „Dennoch ist ihre Geschichte [die Geschichte der Sozialdemokratie, S.C.] nicht frei von Fehlern und Irrtümern: Im Ersten Weltkrieg enttäuschte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung Europas viele in der Hoffnung, sie könne den Frieden erzwingen. Sie entzweite sich über das Verhältnis von nationalen zu internationalen Aufgaben der Arbeiterklasse.“ [2] Nach dem Ersten Weltkrieg stand die SPD erneut vor einer Grundsatzentscheidung: Am 9. November 1918 um 16 Uhr wollte Karl Liebknecht die „freie sozialistische Republik Deutschland“ ausrufen – um ihm zuvorzukommen rief Phillip Scheidemann um 14 Uhr von einem Fenster des Berliner Reichstags die „Republik“ aus. Die SPD hatte damit das Kunststück fertig gebracht, als Arbeiterpartei die bürgerliche Demokratie in Deutschland einzuführen – sie war dabei den Kern ihrer Utopie zu verwirklichen. Die einzige „Revolution“ des deutschen Bürgertums fand jedoch 15 Jahre später statt, nachdem es erneut die Arbeiter waren, die 1920 durch einen Generalstreik die Weimarer Republik am Leben erhielten. Eine beliebte Abiturfrage heutiger Tage lautet: „Warum wurde die Weimarer Republik als Demokratie ohne Demokraten bezeichnet?“ Die erwartete Antwort: „Die Menschen hatten damals noch kein ausreichend demokratisches Bewußtsein“. Wohl war eher das Gegenteil der Fall: Die Gefahr, daß München in den nächsten Jahren vor dem Sprung in die Räterepublik steht, kann getrost ignoriert werden. Der zentrale Grund für das Scheitern der Weimarer Republik lag darin, daß das Bürgertum sie mehrheitlich nicht wollte. Der zentrale Grund für das Scheitern der Weimarer Republik lag darin, daß das Bürgertum sie mehrheitlich nicht wollte. Unterfüttert von der größten Wirtschaftskrise des Kapitalismus, dem wirtschaftlichen Abgrund der 20er Jahre mit seinen Inflationen, verloren die Mittelschichten alle monetären Werte, die sie brav zur Sparkasse getragen hatten. Die Inflation machte Europa reif für den Faschismus, und es begann die lange Geschichte des Scheiterns des sozialdemokratischen Konzeptes, das dafür eintrat langsam in den Sozialismus „überzutreten“. Der letzte Versuch, der auf ähnlich abrupte Weise endete, war der Versuch Salvador Allendes in Chile. [3] Mit Noskes Einsatz gegen die Münchner Räterepublik war klargeworden, wohin sich die deutsche SPD entwickelte. Zu Gute halten, konnte man der Sozialdemokratie wenigstens noch, daß sie – wenn auch nur in der Theorie – das Ziel der Veränderung des Ganzen, noch in ihren Programmen und Festtagsreden hatte. Als die Sozialdemokraten durch die Nazis verfolgt und ermordet wurden, war der historische Tiefpunkt der Theorie vom friedlichen Übergang in den Sozialismus erreicht. Man hätte zu jener Zeit sagen können, daß das sozialdemokratische Konzept in Deutschland endgültig gestorben war. Die deutschen Sozialdemokraten wurden in den KZ der Nazis umgebracht, sie lebten im Untergrund, der inneren Emigration oder mußten Deutschland verlassen. Auch im internationalen Maßstab wurde das sozialdemokratische Modell von immer weniger Regierungen für ein probates Mittel im Umgang mit dem entfachten Kriege gehalten. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollte sich die Popularität des sozialdemokratischen Modells wieder erhöhen. In der orthodoxen kommunistischen Theorie dieser Zeit nahm die Sozialfaschismustheorie einen breiten Rahmen ein - das sozialdemokratische Konzept galt vielen als blanker Verrat. Doch die Kommunisten jener Tage verlernten unter Moskaus aufsteigendem Stern das dialektische Denken. Denn schon die Sozialdemokratie der 20er Jahre war weniger der Verräter, denn Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse. Ein zentrales Moment des marxschen Denkens bestand darin, den zukünftigen sozialistischen Staat im Hinblick auf die tatsächlichen Subjekte, die ihn konstituieren sollen, zu behandeln und nicht im Hinblick auf spezifische Institutionen. Dabei kam den Begriffen Subjekt und Objekt eine exponierte Stellung zu. Das Proletariat blieb bis zur Revolution Objekt kapitalistischer Herrschaft und als solches Bestandteil des kapitalistischen Systems. Dem Sozialismus kam als gesellschaftlichem Übergangsmoment zur freien Gesellschaft eine widersprüchliche Rolle zu: „Die erste Phase des Sozialismus kettet den Arbeiter noch an seine spezifische Funktion, behält die »knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit« noch bei, und damit den Automatismus zwischen Rationalität und Freiheit; die rationale Weise die Gesellschaft zu entwickeln, widerstreitet der Selbstverwirklichung des Individuums. Das Interesse des Ganzen erheischt noch das Opfer der Freiheit, und Gerechtigkeit für alle schließt noch Ungerechtigkeit ein.“ [4] Ein elementares Problem kam dabei dem verdinglichten Bewußtsein zu, das beispielsweise der junge Lukács analysierte - jenem Moment, da das Bewußtsein der Arbeiter noch über die Revolution hinaus durch die Struktur der bürgerlichen Herrschaft geprägt ist. Die historische Wirklichkeit des Westens bestand nach 1945 jedoch darin, daß der Kapitalismus als ein erfolgreiches Geschäft fortbestand und den Lebensstandard seiner arbeitenden Klassen sogar noch erhöhte, womit sie selbst zum Bestandteil des kapitalistischen Systems wurden. Dem Kapitalismus war es trotz aller Krisenhaftigkeit möglich den Lebensstandard der Arbeiter zu erhöhen – ironischerweise durch die Konkurrenz zur UdSSR, der gegenüber er sich als Alternative zu präsentieren hatte. Die Erbschaft der Zeit fiel anders aus, als von vielen Sozialisten erhofft. So waren die verschiedenen Sozialdemokratien mehr organischer Ausdruck der realen ökonomischen Verhältnisse und dem daraus resultierenden Bewußtsein der Arbeiterschaft, als denn „Verräter“ an der Idee des Marxismus. Doch neu war diese Beobachtung nicht: Bereits 1858 schrieb Engels an Marx, daß „das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert. So daß diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen.“ [5] Auch Lenins Festhalten am „revolutionären Proletariat“ hatte sich von Anfang an unzulänglich erwiesen. Durch die „Zusammenarbeit der Klassen“ drohte der Begriff des Proletariates als „revolutionärem Subjekt“ ungültig zu werden. Dem hatte Lenin die „Strategie der Avantgarde“ entgegengestellt: Sie „anerkannte faktisch, was sie in der Theorie leugnete, daß nämlich ein grundlegender Wandel in den objektiven und subjektiven Bedingungen der Revolution eingetreten war.“ [6] So waren die verschiedenen Sozialdemokratien mehr organischer Ausdruck der realen ökonomischen Verhältnisse und dem daraus resultierenden Bewußtsein der Arbeiterschaft, als denn „Verräter“ an der Idee des Marxismus. Die RenaissanceEs war kein Zufall, daß nach dem Zweiten Weltkrieg und dem golden age die weltweite Renaissance der verschiedenen Sozialdemokratien anbrach (ein Konzept welches so erfolgreich sein sollte, daß sogar eine Sozialdemokratisierung der konservativen Partein stattfand) – es brauchte neben den Gewerkschaften einen politischen Mittler zwischen Kapital und Arbeit. Vorraussetzung für dieses Konzept war der Bruch mit der Kritik am Ganzen. In der Geschichte der deutschen SPD markierte diesen das Godesberger Programm. Entgegen der wunderschönen Einleitungslyrik war der folgende Passus der entscheidende des Programms: „Freie Konsumwahl und freie Arbeitsplatzwahl sind entscheidende Grundlagen, freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative sind wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik. Die Autonomie der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände beim Abschluß von Tarifverträgen ist ein wesentlicher Bestandteil freiheitlicher Ordnung. Totalitäre Zwangswirtschaft zerstört die Freiheit. Deshalb bejaht die Sozialdemokratische Partei den freien Markt, wo immer wirklich Wettbewerb herrscht. Wo aber Märkte unter die Vorherrschaft von einzelnen oder von Gruppen geraten, bedarf es vielfältiger Maßnahmen, um die Freiheit in der Wirtschaft zu erhalten. Wettbewerb soweit wie möglich Planung soweit wie nötig!“ [7] Die SPD war zu einer antikommunistischen Partei geworden. Die Begriffe „Soziale Gerechtigkeit“ und „Demokratischer Sozialismus“ waren als Gegenbegriffe zum real existierenden Kommunismus konzipiert. Das Godesberger Programm nahm Stellung: „Die alten Kräfte erweisen sich als unfähig, der brutalen kommunistischen Herausforderung das überlegene Programm einer neuen Ordnung politischer und persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung, wirtschaftlicher Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit entgegenzustellen.“ [8] Die SPD benötigte eine Doppelstrategie: Zum einen den lyrischen Humanismus der besseren Welt und zum anderen ein pragmatisches Angebot ans Kapital. Dieses sollte die neue Aufgabe der Sozialdemokratie werden, die sie nach dem Godesberger Programm erfolgreich verfolgte. Die Drohung des Kommunismus saß in den 50er Jahren noch mit am Verhandlungstisch über Lohnerhöhungen und die politische Gestaltung des jungen Deutschlands. Mit der SPD waren verläßliche Antikommunisten in tragenden Positionen, die ihre Ambitionen auf die Revolution in den verschiedenen historischen Perioden verläßlich aufgegeben hatten – getragen von einer Arbeiter- und Angestelltenschaft, deren Treue zur neuen Republik einfacher zu erklären war, als ihre einstige Partizipation am Faschismus. Mit der SPD konnten Arbeiter und Kapital rechnen und eine Zeitlang schien es, daß die alte Herr-Knecht-Dialektik ihrer dialektischen Sprengkraft beraubt war. Gewerkschaften und Sozialdemokraten waren als kartellierte Arbeiterschaft ein geschätzter Bündnispartner des Kapitals geworden. [9] Um diese Rolle erfolgreich zu spielen, benötigte die SPD eine Doppelstrategie: Zum einen den lyrischen Humanismus der besseren Welt und zum anderen ein pragmatisches Angebot ans Kapital. Im Godesberger Programm laß sich dies wie folgt: "Zu Unrecht berufen sich die Kommunisten auf sozialistische Traditionen. In Wirklichkeit haben sie das sozialistische Gedankengut verfälscht. Die Sozialisten wollen Freiheit und Gerechtigkeit verwirklichen, während die Kommunisten die Zerrissenheit der Gesellschaft ausnutzen, um die Diktatur ihrer Partei zu errichten." [10] Heute müßte man hinzufügen: Zu Unrecht berufen sich die Sozialdemokraten auf sozialistische Traditionen. In Wirklichkeit haben sie das sozialistische Gedankengut verfälscht. Die Sozialisten wollen Freiheit und Gerechtigkeit verwirklichen, während die Sozialdemokraten die Zerrissenheit der Gesellschaft ausnutzen, um die Kluft zwischen Arm und Reich zu verewigen. Die Sozialdemokraten hatten die marktwirtschaftliche Lektion gelernt. Sie hatten etwas anzubieten – dem Kapital das Verstummen der Revolution und den Arbeitern und Angestellten eine reale Verbesserung ihres Lebens. So verwundert es nicht, daß das 1989er Parteiprogramm auf genau diesem Spagat aufsetzte: „Die politischen Machtverhältnisse, die unterschätzte Dynamik des Kapitalismus, aber auch die mangelnde Fähigkeit der Sozialdemokraten, Mehrheiten zu mobilisieren, verhinderten, daß sozialdemokratische Reformpolitik undemokratische Grundstrukturen des überkommenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems tiefgreifend verändern konnte. Die Macht der Großwirtschaft, das Übergewicht der Kapitaleigner und Unternehmensmanager konnten eingeschränkt, aber nicht überwunden werden. Die Einkommens und Vermögensverteilung blieb ungerecht. Das Godesberger Programm zog aus den geschichtlichen Erfahrungen neue Konsequenzen. Es verstand Demokratischen Sozialismus als Aufgabe, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität durch Demokratisierung der Gesellschaft, durch soziale und wirtschaftliche Reform zu verwirklichen. Die Sozialdemokratische Partei stellte sich in Godesberg als das dar, was sie seit langem war: die linke Volkspartei. Sie wird es bleiben.“ [11] Dabei dokumentierte auch die SPD ganz im Geist der 89'er Bewegung ihren Wandel von Klasse zum Volk und der damit einhergehenden Akzeptanz der mythischen Homogenität des Deutschtums bei gleichzeitigem Versprechen auf sozialen Ausgleich gegenüber dem Kapital. Die Strategie der SPD läßt sich mit einem Witz, der sich in Ägypten erzählt wurde, verdeutlichen: „Nasser steigt in ein Taxi. Der Taxifahrer fragt ihn: 'Wohin soll es gehen?' Nasser antwortet: 'Heftig links blinken und dann heimlich rechts abbiegen.' Jahre später. Sadat steigt in das Taxi. 'Wohin soll es gehen?' Sadat: 'Heftig rechts blinken und wenn es keiner sieht links abbiegen.' Wieder Jahre später: Mubarak betritt das Taxis. 'Wohin fahren wir?' fragt der Fahrer. Mubarak antwortet: 'Blinke kräftig rechts und dann blinke kräftig rechts. Dann steigen wir aus und gehen zu Fuß weiter.'“ Die große politische Strategie der SPD besteht im Beherrschen aller drei Modelle. Im links Blinken („Mehr Demokratie wagen“) und rechts Abbiegen („Berufsverbote“), im Rechts Blinken („Antikommunismus“) und halblinks Abbiegen („Koalition mit der PDS“). Manchmal blinkt sie nach beiden Seiten und geht ein Stück zu Fuß um den Blinker neu zu justieren. Ihre Stärke besteht darin, daß sie nach beiden Seiten blinken kann. Die NeuformierungMit dem Wegfall der bipolaren Weltordnung brauchte nach links nicht mehr geblinkt zu werden. Nach 1989 und der Wahlniederlage Lafontaines war das Angebot ans Kapital entscheidender als die Ausgleichsfunktion gen Osten. Der real existierende Sozialismus hatte nichts mehr zu bieten. Wahrscheinlich währe der Kurswechsel der SPD schon früher erfolgt, hätten die westlichen Analysten – sozialdemokratischer, liberaler oder konservativer Färbung – den Zusammenbruch der UdSSR schon früher geahnt. Erst in den letzten Jahren hat sich nennenswerten Widerstand gegen den Wegfall alter sozialdemokratischer Errungenschaften herausgebildet. Doch auch gegen solchen Unmut ist die SPD gewappnet. Der programmatische Spagat zwischen Modernisierung, Rationalisierung, Innovation sowie weiterer Euphemismen, die nichts anderes als die Verschlimmerung der Lebenssituation der unteren Klassen bedeuten, und dem großen Slogan der SPD vom „Schlimmeres Verhindern“ trägt auch weiter [12]. Der Unmut des Bochumer Parteitages, der den Generalssekretär Olaf Scholz mit einem schlechten Wahlergebnis abstrafte, dokumentiert erst einmal nichts anderes, als das Funktionieren der sozialdemokratischen Selbstheilungskräfte. Gegenüber dem „Vorwärts“ antwortete Schröder am 30. September auf die Frage: „Warum ist es gerade heute wichtig, Sozialdemokrat zu sein?“ folgendes: „Ohne Sozialdemokratie wäre dieses Land ein anderes Land, weniger gerecht, weniger tolerant. Wir haben unser Land sozialer und moderner gemacht. Und darauf sind wir stolz. Aber die Wertvorstellungen, die Sozialdemokraten seit jetzt 140 Jahren haben, können ohne ständiges Engagement nicht realisiert werden. Wir müssen unsere Werte immer wieder neu mit Leben erfüllen. Die Instrumente ändern sich mit der Zeit, aber die Werte sind unverändert gültig. Nur müssen wir erkennen, wenn das Engagement abnimmt, geht auch der Anteil sozialdemokratischer Gestaltung in der Gesellschaft zurück.“ [13] Keine andere Partei hat eine solch fundamentale Basis um das Aufkommen kleinerer Krisen des Kapitalismus zu meistern – nicht im ökonomischen Sinne, da dies keine Partei vermag; sonst wäre es kein Kapitalismus. Den krisenfreien Kapitalismus gibt es nicht. Was Schröder hier als „Engagement“ ansieht ist in realitas nicht mehr als die Entwicklung der politischen Ökonomie selbst. Wenn er davor redet, daß „das Engagement abnimmt“ bedeutet dies nicht viel mehr, als daß die SPD dem Kapital nicht mehr anzubieten hat. Im Klartext: Macht soziale Bewegung, dann holen wir beim Kapital mehr raus – macht ihr zuviel Bewegung, dann werden wir im Sinne des Kapitals ausgleichen. Das Angebot kartellisierter Arbeit für die einen, „Schlimmeres Verhindern“ für die anderen steht seit der Renaissance der Sozialdemokratie auf den Fahnen. In diesem Kontext erscheinen die Vorschläge des Olaf Scholz den Passus der „Sozialen Gerechtigkeit“ und des „Demokratischen Sozialismus“ aus dem Parteiprogramm zu streichen lobenswert, weil sie der tatsächlichen Politik der SPD Rechnung tragen. Bei einer historischen Betrachtung der SPD läßt es aber keinen Spielraum mehr für „links blinken“ und deshalb wird der Passus – der Autor ist bereit, darauf hohe Geldsummen, wenn er sie hätte, zu verwetten – garantiert nicht gestrichen; die antikommunistische Entstehungsgeschichte der Formulierungen ist Referenz genug. Zur Zeit steht die Stimmung in Bochum auf links blinken und rechts abbiegen. Die Agenda 2010 kommt durch, und am Ende des Parteitages wird „Wann wir schreiten Seit' an Seit'“ [14] gesungen. Arbeit und Freizeit – die vertonte Doppelstrategie der SPD. Schröder hat begriffen, daß er den linken Blinker öfter betätigen muß. Abgebogen wird zur Zeit immer noch rechts – auch wenn Teile der SPD ihre Integration als repressive empfinden. Und wenn es ums gesellschaftliche Ganze geht, dann – dies zeigt die Geschichte des SPD - sowieso. Die Aufgabe der Sozialisten heutzutage wird nicht zu guter Letzt darin bestehen, der SPD beim links blinken das rechts Abbiegen zu verstellen. Dario Fo hat es in einem Theaterstück herrlich vermocht die Doppelstrategie der Sozialdemokratien zu karikieren – man kann ihn gar nicht oft genug zitieren: „Die Menschen wollen Gerechtigkeit? Wir befriedigen sie mit etwas weniger Ungerechtigkeit! Sie verlangen die Abschaffung des Staates? Wir geben ihnen einen etwas liberaleren Staat! Der Arbeiter ruft: Schluß mit der Ausbeutung! Da muß man sich ja schämen! In Ordnung: wir geben ihm einen Arbeitsplatz, an dem er die Ausbeutung nicht so spürt, und sorgen dafür, daß er sich nicht mehr so zu schämen braucht, wenn er ausgebeutet wird! Wenn ein Arbeiter nicht durch einen Betriebsunfall ums Leben kommen will, verbessern wir die Unfallverhütungsvorschriften und setzen die Witwenrenten rauf. Ihr wollt die Abschaffung der gesellschaftlichen Klassen? In Ordnung, wir sorgen dafür, daß sie nicht mehr so ins Auge fallen! Ihr wollt die Revolution: Wir geben Euch Reformen dafür ... entsetzlich viele Reformen. Wir ersäufen euch in einem Meer von Reformen oder genauer gesagt: in Reformversprechen, denn echte Reformen gibt es nicht.“ In diesem Sinne: Nichts Neues aus Bochum.
Fußnoten[1] Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 14 [2] http://www.spd-berlin.de/fa1/Dokumente/SPDPro89.pdf - Seite 8 [3] Der Ironie der Geschichte ist zuzurechnen, daß Allende ausgerechnet mit jener Waffe um sein Leben kämpfte, die ihm Fidel Castro bei einem Staatsbesuch schenkte. [4] Marcuse, Herbert: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied und Berlin, 1964, S. 240f, S. 40 [5] Engels an Marx, 7. 10. 1858, in: MEW 29, Berlin /Ost, 1973, S. 358 [6] Marcuse, Herbert: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, a.a.O. , S. 49 [7] http://www.glasnost.de/pol/god1.html#Grundwerte des Sozialismus [8] Ebd. [9] Erwähnt werden muß, daß die Geschichte der Integration der SPD in die bürgerliche Gesellschaft über weite Strecken – insbesondere in den 50er Jahren – eine repressive Integration war. Die Widersprüche in der SPD waren damals größere, als die der heutigen Sozialdemokratie. [10] http://www.glasnost.de/pol/god1.html#Grundwerte des Sozialismus [11] http://www.spd-berlin.de/fa1/Dokumente/SPDPro89.pdf - Seite 8 [12] Das Pendant der Grünen lautet „Dilemma“. [13]http://www.vorwaerts.de/allother.php/rubrik/schlaglicht/iAid/5949 [14] Vertonte SPD-Doppelstrategie von
Arbeit und Freizeit von Mathias Claudius Urenkel, Hermann Claudius,
im Ersten Weltkrieg vaterlandsliebend gesinnt und später nicht immer
gegen Führerjubel gefeit: Wann wir schreiten Seit' an Seit' Eine Woche Hammerschlag, Birkengrün und Saatengrün: Wann wir schreiten Seit' an Seit' Kontext:
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