Den Aufsatz kommentieren "The Piper at the Gates of Dawn"Situation und Kritik der Partei DIE LINKEvon Stefan Janson, Marcus Hawel und Gregor Kritidis (sopos) "Die Emanzipation der Arbeiter ist das unmittelbare Ergebnis der moralischen Emanzipation; erstere wird nicht erlangen, wer weiterhin moralisch Sklave eines anderen ist. Und Sklave ist, wer nicht eigenständig denkt, wer nicht spontan in Übereinstimmung mit seiner Vernunft und kraft eigener Anstrengung handelt." Mit der Gründung einer Partei links von der SPD sind wichtige politische Themen der Linken aus ihrer Tabuisierung gelöst worden. Es war höchste Zeit, dass sich die linken reformistisch-etatistischen Strömungen aus der "babylonischen Gefangenschaft" in der westdeutschen Einheitspartei der Arbeiterschaft befreit und in der Partei Die Linke eine Plattform gefunden haben. Mit dieser organisatorischen Trennung ist jedoch kein theoretischer Bruch mit dem Erbe des Etatismus erfolgt. Ohne diesen Bruch wird eine unkritisch "am Staat" orientierte linke Reformagenda zu kurz greifen und letzten Endes - von innen und außen - mit dem möglichen Scheitern des neuerlichen Versuchs einer parteiförmigen Organisation auch die Arbeitsbedingungen für soziale Bewegungen verschlechtern.[1] Mit einer solidarisch-kritischen Diskussion wollen wir dazu beitragen, dass sich in einer Zeit verstärkter Formierung der politischen Eliten zu einer kollektiven Oligarchie Partei und soziale Bewegungen produktive Zugänge zueinander aufrechterhalten. Die Kraft der linken Sozialdemokratie und der Hartz-IV-Bewegung hat zur Bildung einer neuen, im Kern sozialdemokratischen Partei ausgereicht, die im Schwerpunkt die alte etatistische Positionierung der SPD der 1970er Jahre repräsentiert. Aber es ist nicht wie erhofft eine "Neue Linke" entstanden. Programmatisch wird nicht einmal das Niveau des Berliner Programms der SPD von 1990 erreicht, mit dem der Höhepunkt einer rot-grünen Projektierung erreicht war und der anschließend durch die SPD-Rechte in der Defensive der Einheitseuphorie kassiert wurde. Die Ansprüche bedeutender Teile der Bevölkerung sowie deren Bereitschaft, für diese Ansprüche zu kämpfen, werden in Zukunft deutlich ansteigen. Genauer: die weitere Offensive des Kapitals wird zu zunehmendem Widerstand führen, weil sich mit der "Subprime"-Krise nicht nur in den USA, sondern auch in Europa ein weiterer Kern neoliberaler Freiheitsversprechen buchstäblich in Luft auflöst. Diese Krise schlägt nun auch auf die "produktiven" Sektoren der Ökonomien insbesondere in den exportorientierten Industrien durch. Es ist nicht zu erkennen, dass sich Die Linke auf diese Situation in ausreichendem Maße inhaltlich und strukturell vorbereitet, um in der Lage zu sein, in dieser Situation in die Offensive zu gehen und die Ansprüche der Lohnabhängigen in eine dezidiert linke Reformagenda umzusetzen. Wir befürchten deshalb, dass sich in Deutschland die parteiorganisierte Linke in ihrer bestehenden Form unter Bedingungen einer sich zuspitzenden gesellschaftlichen Krise nicht dauerhaft wird behaupten können. Wenn massenhaft ins Bewusstsein dringt, dass Die Linke über das Parlament nicht wirklich etwas bewegen kann oder will, wird sich die Düne roter Wahlstimmen genauso schnell abtragen, wie sie entstanden ist. Über viele Funktionäre in den Institutionen und Parlamenten zu verfügen, hat mit Organisierung wenig zu tun. Die Fortsetzung der alten Stellvertreterpolitik aus der sich dem Ende neigenden Ära der "Volksparteien" wäre eine fatale Illusion über Chancen und Reichweite einer vorwiegend parlamentarisch basierten "linken Politikwende". Transformation der rechtstaatlichen Demokratie in einen autoritären StaatEs ist mit einer tiefen, lang anhaltende Rezession mit wachsender Arbeitslosigkeit zu rechnen, die sich bis in die "respektablen Milieus" hinein entwickelt und deren individualistische´ Bewältigungsstrategien obsolet macht. Das Versagen der hegemonialen neoliberalen Freiheits- und Aufstiegsversprechen wird die politische Polarisierung, aber auch die Desorientierung verschärfen. Bei wachsender Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Machtblöcken werden diese versuchen, mit Feinderklärungen die soziale Unzufriedenheit für ihre imperialistischen Strategien zu kanalisieren. Die herrschenden Eliten antizipieren ein solches Szenario und bewegen sich geistig zunehmend auf die traditionellen Vorstellungen der "konservativen Revolution" zu. Diese Spielart des politisch-ideellen Nationalkonservatismus aus der Zeit der Weimarer Republik, die nach 1945 etwa in der Springer-Presse massenwirksam blieb, kannte zwei antiliberalistische Staatsmodelle, die nacheinander dem Niedergang der Weimarer Republik folgten, bzw. diesen ausmachten: den autoritären Staat und den "sozialen Nationalismus". Während dieser sich auf den Willen zur Gewinnung der Massen stützte, war jener vom Elite-Denken getragen. Wolfgang Schäuble mit seinem Konzept eines autoritären "Sicherheitsstaates" ist der herausragende Vertreter dieser an Carl Schmitt orientierten Tradition, zu der auch der Altbundespräsident Roman Herzog gehört, ein Schüler des an obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen orientierten Theodor Maunz. Herzog hat vor seiner Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts mit seiner Polemik gegen die "Rentnerdemokratie" das gleiche und freie Wahlrecht Aller in Frage gestellt. Dieser autoritäre Geist lässt sich auch bei den zukünftigen Eliten erkennen, wenn etwa aus den Reihen des RCDS der Vorschlag gemacht wird, ein Mehrklassenwahlrecht einzuführen bzw. Hartz IV-Empfängern das Wahlrecht zu entziehen - und dieser Vorschlag nicht nur von der Springer-Presse, sondern auch von der ARD aufgegriffen wird, anstatt den RCDS dafür zu kritisieren, Verfassungsfeinde in seinen Reihen zu dulden. Bei den Angriffen auf das Koalitionsrecht im Zusammenhang mit dem Streik der GDL kam eine verfassungswidrige Rechtssprechung zur Geltung, die erst in höherer Instanz annulliert worden ist. Dies zeigt, dass der Rechtsstaat bereits im professionellen Bewusstsein des juristischen Personals erschüttert ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die höheren gerichtlichen Instanzen nicht mehr als Garanten der Verfassung erweisen werden. Der Angriff auf die Koalitionsfreiheit verweist historisch auf die Krise der Weimarer Republik und die Praxis der Notverordnungen sowie auf die Notstandsgesetzgebung von 1968. Heute geht es darum, zu verhindern, dass die herrschenden Eliten ihre Reichtumsquellen gegen die sozialen Ansprüche von Zweidrittel der Bevölkerung in Deutschland abdichten können und damit die rechtstaatliche Demokratie dem Prozess der Involution vollends anheim fällt. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es uns, als stehen wir tatsächlich davor, einen Autoritarismus zu bekämpfen, der sich vom Faschismus des 20. Jahrhunderts darin unterscheidet, dass er die demokratische Fassade nicht abstreifen wird. Die faktische Beseitigung der "Habeas Corpus"-Garantien der englischen Revolution unter Blair und mit dem "Home Security Act" unter Bush weisen in diese Richtung. Die Vorbereitungszirkel und Entscheidungszentren für parlamentarische Gesetzgebungsverfahren sind auch in Deutschland spätestens unter Rot-Grün offen in so genannte Expertenzirkel außerhalb parlamentarischer Kontrolle oder aber direkte Agenturen von Lobbyisten in den ministeriellen Apparaten verlagert worden. In Verkehrung der demokratischen Motive wurde eine theoretische Grundlage für diese Entwicklungen in den Modellen der Mediation und der "Runden Tische" gelegt, die in der Spätphase der Bürgerinitiativbewegung der 1980er-Jahre Konjunktur hatten. Für einen veritablen Faschismus fehlt derzeit zum einen bei den herrschenden konservativen Eliten die Notwendigkeit zur aktiven Gewinnung der Massen. Das könnte sich im Verlauf der Krise ändern. Die "Lega Nord" in Italien könnte das Vorbild sein, und das entsprechende Potenzial könnte sich z.B. aus den "Freien Wählern" entwickelt, die - zunächst in Bayern - ein radikalisiertes Kleinbürgertum organisieren. Wenn die politische Linke die allgemeine gesellschaftliche Krise den antidemokratischen Eliten aus Bürokratie, Wirtschaft, Politik und Militär überlässt, dann könnte es sein, dass diese sich abermals verbünden und auf ihre Weise das bestehende System parlamentarischer und rechtstaatlicher Demokratie überwinden. Diese Gefahr wird in der Linken bisher kaum reflektiert. Das Problem liegt dabei jedoch nur sekundär am intellektuellen Vermögen, sondern vielmehr daran, dass gerade in der Linken die Mehrheit Fragen grundlegender Art für obsolet hält, da mit der Lösung der Organisationsfrage im Prinzip alles wesentliche geklärt scheint. Dies ist aber ein Erfolg für die Strategie der herrschenden Eliten, Zusammenhänge zu fragmentieren und zu verhindern, dass sowohl auf theoretischer wie auch auf praktischer Ebene Zusammenhänge hergestellt werden. Es erscheint uns in diesem Kontext kaum verwunderlich, dass sich Anzeichen von Autoritarismus auch innerhalb der Linken wieder finden, weil sie als gesellschaftliche Agentur umso mehr gegen solche Prozesse nicht immun ist, je weniger sie ihre Organisationspraxis selbstkritisch reflektiert. Es ist durchaus problematisch, dass in der Wahrnehmung auch der Partei solche durchaus kritikwürdigen Personen wie Lafontaine und Gysi die Gründungsaktivisten der ersten Stunde aus der WASG fast vollständig verdrängt haben und Anzeichen von Personenzentrierung vorhanden sind. Die vorherrschende Organisationspraxis ist weitgehend blind, weil die verschiedenen Strömungen an die Belastbarkeit ihrer nur implizit thematisierten Organisationskonzepte glauben und es für zu riskant halten, offene Fragen zu formulieren. Die Krisen innerhalb der Partei werden sich daher in dem Maße zuspitzen wie die gesellschaftlichen Widersprüche insgesamt. Die Linke ist mental und praktisch politisch auf die Grenze fixiert, die sie von den antizipierten Apparatinteressen der Ost-Eliten und Gewerkschaftsapparate gesetzt sieht. Die Bindung an diese Form von Interessen ist selbst nach Maßstäben aufgeklärter Fraktionen in den Gewerkschaften und ihren Funktionärskörpern nicht mehr aufrechtzuerhalten.[2] Es ist deshalb kein Zufall, dass GDL, Ärzte und Beschäftigte im öffentlichen Dienst die Vorreiter für neue Kämpfe und neue demokratische Aktionsformen sind und zunehmend selbstbewusster vom DGB unabhängig agieren. Wir vermissen diesbezüglich in der Linken die Diskussion der Frage, wie man die "neuen Arbeitnehmerschichten" anspricht, da sie in der Partei deutlich unterrepräsentiert sind, aber unbedingt integriert werden müssen. In der Linken werden Positionen wie auch in den anderen Parteien von oben nach unten durchgesetzt. Die innerparteiliche Demokratie ist mehr Folge realer Kräfteverhältnisse denn politisches Programm. Das Klima innerhalb der Partei ist für die geistige Auseinandersetzung nicht gerade förderlich. Die Kraft des besseren Arguments und der Kritik im Allgemeinen ist schwach. Wenn sich daran nichts ändert, ist zu befürchten, dass die von der neoliberalen Politik Betroffenen sich von der Linken genauso abwenden, wie diese sich von SPD und Grünen bereits abgewendet haben. Bedingungen für eine reformatorische PolitikSind die internationalen und nationalen Bedingungen für eine emanzipatorische, libertäre Ausrichtung der Linken nicht besonders günstig, so ändern sich auch die Konstellationen, unter denen und in denen die anderen Apparate im politischen Feld operieren. Bei den Grünen vollzieht sich zurzeit eine Wende zur weiteren Einbindung in das bürgerliche Lager: Die Parteiführung wendet sich in einer Mischung von Kalkül und Opportunismus von dem numerisch möglichen Projekt einer rot-rot-grünen Koalition ab. Sie opfern für ihre Beteiligung am Staatsapparat eine linke Basis aus Massenintelligenz und Bildungsbürgertum. Die von grünen Linken organisierte, in ihrer Reichweite aber nur begrenzt wirksame Kampagne gegen die Koalitionsvereinbarung von CDU und GAL in Hamburg hat gezeigt, dass die Linke innerhalb der Grünen trotz guter programmatischer Ansätze und einer gewissen kritischen Basis gegen die Regierungs-, Partei- und Staatsmilieus, in die Grüne mittlerweile integriert sind, nur begrenzte Chancen haben, sich durchzusetzen. Diese Schwäche ist nicht nur eine politische. Viele kritische Leute haben die Partei der Grünen längst verlassen, nachdem diese 1998 zur Kriegspartei geworden ist und zudem die von Gerhard Schröder eingeleitete neoliberale Reformagenda 2010 mitgetragen hat. Einige haben in der Linken eine neue politische Heimat gefunden. Der weitaus größere Teil aber dürfte sich ins Privatleben zurückgezogen haben. Die Partei der Grünen ist heute fast genauso überaltert wie die Linke. In ihren Anfängen repräsentierten die Grünen immerhin noch die emanzipatorische Hoffnung auf eine mit der Umwelt versöhnte egalitäre Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft hätte man durchaus als sozialistisch bezeichnen können. Dieses Projekt ist mit der Integration grüner Milieus zu einem technokratischen Sample kleingeschreddert worden, das sich mit grüner Energieproduktion und technizistischer Detailprogrammierung gegen den Klimawandel von der Emanzipation der Menschen in und mit der Natur lange verabschiedet hat. Dieses grüne Projekt ist bereits Bestandteil der ideologischen bürgerlichen Hegemonie, wenn auch ihr kritischer, operierender Teil. Die SPD ist als Partei zwar politisch gespalten, unterliegt aber wieder der harten Hegemonie der Neoliberalen um Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier, wie der fast widerspruchlos hingenommene Putsch gegen Beck gezeigt hat. Die Hessen-SPD unter der Führung von Andrea Ypsilanti ist ein gutes rot-grünes Reformprojekt im klassischen Sinne. Dieses Projekt einer "sozialen Moderne" ist politisch in einer kombinierten Anstrengung von Schröderianern und Mainstreampresse gegenwärtig paralysiert worden. In der Linken wird sich der Widerspruch zwischen gewerkschaftsfreundlicher und sozialstaatlicher Programmatik und dem ideologisch-politischen Nachvollzug der Haushaltskonsolidierungspolitik, wie sie in Berlin unter der Mitwirkung der Linken betrieben wird, zuspitzen. Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass Staatsverschuldung dem Finanzkapital und Anlegern arbeitsloses Einkommen beschert, aber es ist die Kurzsichtigkeit der Linken, sich in eine Regierung hineinbegeben zu haben, die objektiv nicht viel mehr machen kann, als der hegemonialen Logik der strikten Haushaltskonsolidierung zu folgen. Johannes Agnoli hatte bereits 1966 festgestellt, dass die Entkernung emanzipatorischer Ansätze durch die Übernahme von Regierungsverantwortung voranschreitet.[3] Dies lässt sich auch gut an der immer seichter ausfallenden Kritik des WASG-Flügels um Oskar Lafontaine an der Politik des Berliner Senats beobachten: ein Prozess, der prospektiv zeigt, wohin die Entwicklung gehen könnte. In diesem Kontext sehen wir auch das - bislang noch rhetorische - Angebot Oskar Lafontaines an die SPD, schon morgen mit ihr regieren zu wollen, wenn sie bestimmten Minimalbedingungen ("Raus aus Afghanistan", "Weg mit der Rente mit 67" und "Weg mit Hartz IV") eingehen wolle. Der antizipierte Verzicht von Bodo Ramelow auf das Amt des Ministerpräsidenten in Thüringen im Falle einer rot-roten Mehrheit weist in die gleiche Richtung. Die Linke wird mit der Orientierung auf dieses politische Feld mittelfristig keine dynamisch-emanzipatorische Rolle spielen können, insbesondere wenn die Berliner Regierungsbeteiligung die Maßstäbe für die LINKE setzt. Antikapitalistisch mit der "Sozialistischen Linken" oder freiheitlich-sozialistisch mit dem "Forum Demokratischer Sozialismus" zu sein - das ist aus unserer Sicht eine falsche Alternative, weil es sich in beiden Fällen um etatistisch orientierte Strömungen handelt; dies ist aber nur der Ausdruck der Wahrnehmung und Analyse der real existierenden sozialen und theoretischen Bewegungen. Das kann man Abgeordneten nicht vorwerfen, wohl aber, dass diese Positionen nicht ausreichend genutzt werden, Bildungs- und Organisationsprozesse an der Basis zu fördern. Damit ist kein Motor für ein emanzipatorisches "cross over"-Projekt in der politischen Sphäre vorhanden. Die Dynamik des Parteibildungsprozesses zur Linken der Jahre 2005/2006 scheint vorerst stillgestellt. Eine rot-rot-grüne Koalition könnte bestenfalls die gröbsten Schweinereien der Schröder-Fischer und Merkel-Steinmeier-Administration beseitigen. Ein emanzipatorisches Projekt würde daraus aber noch nicht. Nicht nur, dass ein linkes Regierungsprojekt durch den fortschreitenden Involutionsprozess unter Druck kommt, weil - zumindest gegenwärtig - keine stabilen linken Wahlmehrheiten erzielt werden können. Darüber hinaus werden die Chancen für die parlamentarische Durchsetzung von zumindest sozialstaatlichen Positionen geringer, weil wir längst wieder gleichsam bei einem Drei-Klassen-Wahlrecht angekommen sind: In den reichen Elbvororten und Walddörfern von Hamburg, in denen die so genannten respektablen Milieus wohnen, lag etwa die Wahlbeteiligung bei 70-80%, während z.B. in Wilhelmsburg, Billstedt, Altona nur 40-50% der Wahlberechtigten zur Wahlurne gegangen sind. Das Beispiel hat exemplarischen Charakter. Die städtische Armut geht nicht mehr wählen. Allerdings wächst auch der Unmut der "arbeitnehmerischen Mitte" an den herrschenden Repräsentanten, wenn auch noch nicht durchgreifend am repräsentativen System.[4] Wir sind der Überzeugung, dass es dennoch eine Chance gibt, in der Linken bzw. mit ihr diese drängenden Fragen und Probleme aufzuwerfen und hoffen, dass der wachsende Druck der Verhältnisse und der außerparlamentarischen Bewegungen dazu ausreichen werden. Denn die Linke ist hier Stellvertreter und im Sinne einer partizipativen-emanzipatorischen Perspektive "Platzhalter" für eine radikaldemokratische Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit. Der Focus der Selbstorganisation und -verwaltung ist in der Linken vor allem als Organisationskultur kaum entwickelt. Unseres Erachtens kann man dieses Thema aber nur dann wirklich diskutieren, wenn wir offen und ehrlich auch bestehende Zweifelsfragen aufwerfen. Es reicht nicht, die "Rätedemokratie", "direkte Demokratie" oder "demokratischen Sozialismus" wie eine Monstranz vor sich herzutragen, ohne genauer ausführen zu können, was jeweils damit eigentlich gemeint ist. Diese Begrifflichkeiten sind keine reinen Heilsbringer, weshalb es dringend geboten ist, sich dialektisch mit ihrer immanenten Dynamik und Ambivalenz in theoretischer wie historischer Perspektive auseinanderzusetzen. Wir dürfen Demokratie nicht beiläufig zu einem Adjektiv machen; der demokratische Sozialismus ist nicht die Alternative zu einer sozialistischen Demokratie oder umgekehrt; beides muss Hand in Hand gehen, um die Risiken eines neuerlichen Versagens der Linken von der Qualität eines 1932 zu minimieren. Hier stellen sich für uns z.B. folgende Fragen: Insofern erblicken wir auch hier eine "Agenda der Abschaffungen", die sich u.a. an diesen Fragen festmacht: - Was muss an Vernetzung, was muss an politischer Bildung der Beschäftigten vorlaufen? Das in der LINKEN organisierte politische Feld und seine programmatischen OrientierungenyDie Linke besteht im Kern aus zwei großen Kernmilieus: Zum einen aus dem durch die Schwächung bzw. Zerstörung sozialstaatlicher Regulierungsmechanismen funktionslos gewordenen Gewerkschaftsmilieu der mittleren Funktionärsebene. Dieser Flügel hat eine Perspektive der Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts durch eine offensivere Lohn- und Sozialpolitik im Blick. Zum anderen aus den depravierten politischen Eliten der ehemaligen SED. Dieser Flügel regiert bereits auf kommunalpolitischer Ebene mit, sitzt seit langem in den Landtagen und hat dort Regierungserfahrung gesammelt. Wir fassen diese Praxis unter dem Stichwort des Kampfes um Anerkennung durch die herrschenden politischen Eliten zusammen. Beide Flügel sind damit unter den gegebenen Umständen mental auf Defensive eingestellt. Was fehlt, ist die Perspektive der Aneignung: Die gewerkschaftlichen Trägermilieus der Linken reagieren auf die jahrzehntelange Defensive der organisierten Lohnabhängigen mit der Neuauflage eines um einige ökologische Elemente angereicherten keynesianischen Projekts, dessen Realisierungschancen selbst auf transnationaler Ebene zweifelhaft sind. Verwunderlich ist, warum angesichts der langjährigen Erfahrungen insbesondere der betrieblichen und basisgewerkschaftlichen Aktivisten mit Co-Management und Sanierungsplanungen die nach Art. 15 Grundgesetz mögliche demokratische Sozialisierung der Unternehmen überhaupt keine Rolle spielt und Selbstverwaltung nirgendwo gefordert und zum Kernstück einer breiten radikaldemokratischen Mobilisierungskampagne gemacht wird.[5] Stattdessen ist es abermals der Staat, der zur vornehmsten Adresse linker Politik gemacht wird: er soll sanieren und stützen, das heißt aber kapitalistische Ausbeutungsstrukturen erhalten. Daneben werden diese Kernmilieus durch eine minoritäre linke Strömungen ergänzt, die sich aus ehemaligen DKP-Mitgliedern und Grünen, einigen Linkskatholiken, Attacis, jüngeren Aktivisten, Trotzkisten u.v.a.m. zusammensetzt und sogleich zahlreiche Plattformen mit mehr oder minder großem Anhang gebildet haben. Der Druck zu mehr Kooperation hat dazu geführt, dass theoretische und praktische Differenzen nicht mit Ausschluss oder durch Spaltung, sondern durch Diskussion gelöst werden sollen. Aber: die sich daraus notwendig ergebenden Widersprüche müssen produktiv und dialektisch gewendet werden, statt Anlass für zerfleischende und von der Sache ablenkende Strömungskämpfe zu sein. Stattdessen sind diese Auseinandersetzungen nach unserer Wahrnehmung unausgesprochenes Resultat des immer noch vorhandenen leninistischen Irrglaubens, die Linke sei eine Plattform, von der aus mit richtiger Führung organisierte Arbeiterklassenmilieus organisiert werden könnten. Unser Eindruck ist, dass eine solche Diskussion in der Linken faktisch nicht stattfindet. Wir reden nicht den üblichen Strömungskämpfen das Wort, die auf der Tagesordnung stehen und als identitätspolitische Kompensation für nicht stattfindende inhaltliche Auseinandersetzungen dienen. Es fehlt daran, dass die Strömungen miteinander um die gemeinsame Sache und den besseren Weg nach dorthin streiten, und dies auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung und nicht in den Kategorien von Freund und Feind. Insofern deuten die Strömungskämpfe auf politische und theoretische Orientierungslosigkeit hin, im Rahmen derer sich innerhalb der Partei autoritäres Gebaren, d.h. politische Programmierungen von oben nach unten zu dekretieren, noch schneller und geschmeidiger durchsetzen können. Es fehlt eine geistige Suchbewegung, die massenhaft nur von jüngeren Aktivisten getragen werden kann. Angesichts der altersmäßigen Zusammensetzung der Linken könnte dies nur von der Jugendorganisation oder den Studenten ausgehen. Davon kann aber nicht einmal im sich neu formierten Studierendenverband des SDS die Rede sein, der immerhin symbolisch das Erbe der sozialrevolutionären Strömung der späten 1960er Jahre angetreten, aber bisher nicht einmal annähernd auf deren theoretischen Niveau ist. So erreicht keine der in der Linken lokalisierbaren Strömungen oder Gruppen die Milieus, die habituell libertär, fundamentaldemokratisch, internationalistisch und emanzipativ und damit gleichsam die eigentlichen Erben der 68er-Bewegung sind. Damit ist ein theoretisches Problem bezeichnet: Wie entsteht aus sozialen Milieus heraus politisches Handeln? Um auf diese Frage eine theoretische Antwort zu bekommen, die auch eine Umsetzung in der politischen Praxis erfährt, bedarf es "organischer Intellektueller", also Personen aus den verschiedenen Milieus, die selbsttätig sich geistig orientieren und politische Organisierungs- und Bildungsprozesse vorantreiben. Solche Personen wären vor allem auch aus einzelnen Berufsgruppen in die Partei zu integrieren, die Erfahrungen mit Streik- oder Protestbewegungen gemacht haben. Wir stellen jedoch fest, dass vielerorts in der Linken gegen die theoretische Reflexion ein gleichsam Intellektuellen-skeptischer Impuls vorherrscht, selbst, wenn diese nicht im akademischen Feld tätig sind. Das Verhältnis der Linken zu gewerkschaftlichen Kämpfen und außerparlamentarischen BewegungenSeltsam unvermittelt erscheint der Aufschwung der Tarif- und sozialen Abwehrbewegungen mit dem Wachsen und der Konsolidierung der Linken. Insbesondere die Kämpfe der Eisenbahner und der Angestellten im öffentlichen Dienst haben durchaus beachtliche Erfolge erzielt. Von der Linken war nur wenig Solidarisierung zu vernehmen, die Partei hat zuwenig getan, die Streikbewegungen offensiv zu unterstützen. Die Streikbewegungen der letzten Jahre sind allerdings ebenfalls von Illusionen gekennzeichnet. Hier zeigen sich die Widersprüche aber wesentlich schärfer. Und die Beschäftigten merken auch deutlicher, welche Teilerfolge, die auch immer Teil-Misserfolge sind, erzielt wurden. Allerorten wird mit neuen Formen des Arbeitskampfes experimentiert. Diese Experimente werden getragen von kleinen Gruppen, die es mit der gewerkschaftlichen Idee ernst meinen. Aber hat das politisch eine Perspektive? Den Streikbewegungen lag zumindest eine teilweise günstigere Arbeitsmarktsituation zugrunde: Man traut sich mehr, zumal die Sympathie der breiten Masse gewiss ist. Unter Bedingungen der Rezession werden dagegen viele Gewerkschafter an der Basis einem Frontalangriff der herrschenden Klasse nicht standhalten können - zumindest nicht, wenn es keine politisch organisierte Unterstützung gibt. Wer soll das leisten, wenn nicht die Linke? Das Versagen der Linken ist diesbezüglich beim Lokführerstreik deutlich geworden: Dieser wurde erst nach einem halben Jahr verbal unterstützt - von einer organisierten Solidarität einmal ganz zu schweigen. Seltsam unbeachtet bleibt auch die globalisierungskritische Bewegung, die mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm wieder in Fahrt gekommen ist, sowie eine sich langsam formierenden kritischen Schüler- und Studentenbewegung, die zumindest in einigen ihrer Teile auch die theoretische Durchdringung des modernen Kapitalismus versucht. FazitGeschichte wiederholt sich nicht. Das aber, was nicht zur Geschichte wurde, sagt Ernst Bloch, wiederholt sich durchaus. Wir müssen einen langen Atem beweisen, wenn wir in der Partei und mit der Partei in der Bundesrepublik und in der Welt etwas bewegen wollen. Wie schon Max Weber sagte, bedeutet Demokratie das Bohren dicker Bretter. Wenn wir also etwas bewegen wollen, sollten wir zielgerichteter und bewusster mit dem Bohren anfangen. Wir rufen daher dazu auf: Demokratischer und rechtsstaatlicher Sozialismus muss mehr Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit ermöglichen. Anmerkungen:[1] Eine solche Gefahr sehen wir auch darin, dass ein Helmut Holter aus seiner Sicht Kritisches zur "Umverteilung" und "Wertschöpfung durch Unternehmertum" auf der Website des FDS von sich gibt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Debatte um den positiven Beitrag des kapitalistischen Unternehmertums schon in der PDS eine Tradition hatte. [2] Siehe das Vorwort von Huber in: Michael Vester, Christel Teiwes-Kügler/Andrea Lange-Vester, Die neuen Arbeitnehmer. Hamburg 2007. [3] Vgl. Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie. Berlin 1967. Vgl. auch Ders.: Zwanzig Jahre danach. Kommemorativabhandlung zur "Transformation der Demokratie". In: Ders., Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften. Hamburg 2004. S. 137-192. [4] Vgl. Michael Vester/Christel Teiwes-Kügler, Unruhe in der Mitte. Die geprellten Leistungsträger des Aufschwungs. In: WSI-Mitteilungen 5/2007, S. 231ff. [5] Sozialisierung und noch andere Programmatiken, die von gegnerischer Seite der Linken als verfassungsfeindliche Einstellung vorgeworfen werden, sind tatsächlich verfassungskonform, wie zuletzt Prof. Dr. Richard Stöss in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung überzeugend ausgeführt hat: Die Linke. Zur Beobachtung der Partei durch den Verfassungsschutz. Stefan Janson ist Jurist und lebt in Hannover. Dr. Marcus Hawel ist Soziologe und lehrt Politikwissenschaften an der Universität Hannover. Dr. Gregor Kritidis ist Politikwissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an derselben Universität. Alle drei sind in der Rosa Luxemburg Stiftung Niedersachsen aktiv. Kontext:
sopos 11/2008 | ||
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