Den Aufsatz kommentieren Das gemeinsame Haus Europa – Die Ukrainekrise als Abrissbirne?Betrachtungen und Positionierungenvon Christine Schweitzer Auch 25 Jahre nach dem Fall der Mauer ist das gemeinsame Haus Europa, von dem Gorbatschow gesprochen hatte[1], nicht entstanden. Russland ist in der Rolle eines potenziellen Gegners des Westens geblieben. Es ist eine Rolle, die bis mindestens ins 19. Jahrhundert zurückreicht, so dass die Zeit der ideologisch erklärten[2] Blockkonfrontation letztlich im Rückblick nur als eine neue Ausprägung einer viel älteren auf Konkurrenz basierenden Gegnerschaft gesehen werden kann. Nach 1990 entstanden verschiedene Kooperationen zwischen dem Westen und Russland, von der G8 bis zur NATO Partnership for Peace. Trotzdem blieben die Spannungen bestehen, wofür beide Seiten gleichermaßen die Verantwortung tragen dürften. Es gab eine lange Kette von Konflikten, angefangen mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien in der ersten Hälfte der 1990er Jahre über den Kosovo bis hin zu Georgien und jüngst Syrien, wo sich die beiden Seiten nicht als Partner, sondern als Gegnern gegeneinander positionierten. Und Russland verzichtete genauso wenig wie der Westen auf militärische Gewalt, wenn es opportun schien. Dies gilt nicht nur für die Regionen unter direkter Kontrolle Moskaus, wie in Tschetschenien, sondern auch im Falle Georgiens für eine Militärintervention über internationale Staatsgrenzen hinweg. Der Hinweis darauf, dass die NATO-Staaten Zusagen gegenüber Russland brach, nicht an die russischen Grenzen heranzurücken, sofern die Sowjetunion der deutschen Wiedervereinigung zustimmen werde, die 1990 gegeben worden waren, ist richtig.[3] Von der EU war allerdings nie die Rede, was manchmal übersehen wird. Diese Erweiterung wurde von Russland geduldet, wohl auch weil NATO und EU intensive Gespräche mit Russland geführt hatten.[4] Die Ukraine zwischen Ost und WestOberflächlich gesehen, ist die Ukraine einfach einer von zahlreichen Staaten, die nach 1989 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erzielten, und einer von mehreren, bei denen der politische Prozess in den vergangenen 25 Jahren durch politische Konflikte, Nationalismus, Rückbesinnung auf rechte Bewegungen vergangener Zeiten und durch Regierungswechsel, die durch Volksaufstände erzwungen wurden, gekennzeichnet war. Aber die Ukraine ist trotzdem aufgrund ihrer geografischen Lage und ihrer Größe ein Sonderfall. Für den Westen ist die Ukraine sowohl geopolitisch in Bezug auf Russland als Durchgangsweg von russischem Erdgas, als auch ökonomisch - zumindest potenziell - als Billiglohnland, Produzent eigenen Gases, Weizenanbaugebiet und Importeur westlicher Güter interessant. Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung (Tübingen) zitiert Theo Sommer: "Machen wir uns nichts vor: Die Nato hat ihre Ostgrenzen auch nicht aus bloßer Menschenfreundlichkeit oder Demokratie-Begeisterung weit nach Osten vorgeschoben, sondern aus handfestem geopolitischem Interesse – und dies trotz der gegenteiligen Zusage, die der amerikanische Außenminister James Baker dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow im Februar 1990 gab. [...] Das Streben nach Einflusssphären ist sehr wohl ein Merkmal auch unserer Gegenwart. Die Geopolitik, um den nach Hitlers Expansionskrieg zeitweise verpönten Haushoferschen Begriff zu verwenden, ist in Wahrheit nie aus der Mode gekommen. Sie prägt wie eh und je das außenpolitische Handeln der Mächte."[5] Zwischen der Ukraine und Russland besteht eine gegenseitige Abhängigkeit: Russland ist Hauptabnehmer von Industriegütern aus der Ukraine (während in die EU vorwiegend Rohstoffe exportiert werden), und die Ukraine bezieht ihr Erdgas aus Russland. Zu den für Russland wichtigen Industrieanlagen gehören die Fabriken, in denen Russlands Atomraketen produziert werden, und auch zahlreiche andere rüstungsrelevante Güter.[6] Damit ist Russlands Interesse an der Ukraine wirtschaftlicher und auch militärischer Natur und nicht nur auf die Marinebasis auf der Krim am Schwarzen Meer beschränkt. Zum zweiten ist die Ukraine mit ihrer langen gemeinsamen Grenze zu Russland von strategischer Bedeutung für Russland – als Vorfeld und Puffer zu den Staaten, die sich nach 1991 der EU und NATO angeschlossen haben. Und zum dritten sind die BürgerInnen beider Länder eng verbunden (gewesen), besonders - aber nicht nur - in der Ostukraine; Russisch ist die Muttersprache vieler UkrainerInnen, beinahe unabhängig davon, ob Menschen sich in Volkszählungen als ethnische UkrainerInnen oder RussInnen bezeichneten. Die Entwicklung der KrisePhase 1: Der Aufstand 2013-2014Die gegenwärtige Krise mit ihrem großen, weit über die Ukraine hinausreichenden Eskalationspotenzial, sah ihre erste Phase mit dem Aufstand gegen die seit 2010 im Amt befindliche Regierung unter Janukowitsch. Die Proteste in Kiew richteten sich anfänglich gegen den Beschluss von Präsident Janukowitsch, ein seit 2005 verhandeltes und seit 2012 unterschriftsreifes, 1.200 Seiten starkes Assoziierungsabkommen[7] mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Es ist ein umfassenderes Abkommen als frühere seiner Art und umfasst neben Bestimmungen zum Freihandel auch eine Heranführung der Ukraine an die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP). Assoziierungsabkommen werden von der EU als erster Schritt zu einer eventuellen Mitgliedschaft gesehen und waren es auch in etlichen Fällen, z.B. Kroatien und Slowenien. Ob sie, wie Jürgen Wagner meint[8], allein die Funktion haben, die Länder, mit denen solche Abkommen geschlossen werden, ohne "eine realistische Beitrittsperspektive zu eröffnen", "dauerhaft in eine großeuropäische Wirtschaftszone" zu integrieren und "neoliberale Wirtschaftsreformen" zu forcieren, scheint mir eine These, für die es keine Belege gibt. Aber auch wenn Jürgen Wagner hier vielleicht über das Ziel hinausschießt: Auf jeden Fall kann festgehalten werden, dass solche Assoziierungsabkommen auch den EU-Staaten viele Vorteile bringen, z.B. die entsprechenden Länder für europäische Produzenten öffnen. Und für die Ukraine, deren Wirtschaft von einem Handel mit West wie Ost abhing, würden wohl auf jeden Fall Nachteile entstehen, egal ob es sich an die EU assoziiert oder, wie von Moskau gewünscht, einer jüngst (2012) geschaffenen Zollunion mit Russland sowie Belarus und Kasachstan anschließen würde. Bei anderen neuen EU-Mitgliedern konnte beobachtet werden, wie die Mitgliedschaft den Menschen nicht nur Vorteile brachte, um es vorsichtig auszudrücken. Trotzdem richten viele Menschen in der Ukraine große Hoffnungen auf die Europäische Union und die Weiterentwicklung von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat, Mobilität und neue Perspektiven, die sie zu versprechen scheint. Der Aufstand gegen die Regierung wurde schnell zur Massenbewegung und griff von Kiew auf andere Städte über, wobei er auch von Anfang an von Gegendemonstrationen der AnhängerInnen der Regierung begleitet wurde. Treibendes Motiv für viele Menschen, gegen Janukowitsch auf die Straße zu gehen, so haben AktivistInnen des Maidan immer wieder bezeugt, war eine grundsätzliche Verdrossenheit mit den politischen Parteien und ihrer Korruption. Auch die jetzt regierende Übergangsregierung wird im Übrigen deshalb von vielen Maidan-AktivistInnen kritisch beäugt. Diese Proteste waren Ausdruck echter Empörung von BürgerInnen. Den Aufstand als "Putsch" zu bezeichnen, wie es manche Linke heute tun, ist genauso verfehlt wie die Behauptung, die Bewegung sei vom Westen (oder dem CIA) gesteuert gewesen. Politische Stiftungen und ähnliche Institutionen unterstützen und fördern Organisationen in vielen Ländern mit Geld und Angeboten politischer Bildung. Von einer finanziellen Förderung auf Steuerung zu schließen, ist fragwürdig, und in jedem Falle waren die Missstände, gegen die die Menschen 2013 auf die Straße gingen, sehr real. Korruption, die Macht von neureichen Wirtschaftsoligarchen und antidemokratische Tendenzen unter der Regierung von Janukowitsch waren die treibende Kräfte, nicht die National Endowment for Democracy oder die Konrad Adenauer Stiftung. Der Aufstand wird auch nicht dadurch insgesamt delegitimiert, dass sich Rechte ihm anschlossen – die offen rechtsextremische Swoboda und der sog. "Rechte Sektor". Allerdings sollte man sich auch davor hüten, ihn als Modell eines zivilen Aufstandes von BürgerInnen gegen eine Diktatur zu verherrlichen. Zum einen war die Regierung Janukowitsch wie ihre Vorgängerregierung gewählt[9], und der Vorwurf der DemokratInnen auf dem Maidan richtete sich eher gegen alle Parteien als gegen eine bestimmte. Und zum anderen waren der gewaltsame Charakter, den der Aufstand annahm, und die bedeutende Rolle der RechtsextremistInnen Faktoren, die zu der heutigen Eskalation in der Ukraine wesentlich beigetragen haben. Die Gewaltbereiten auf dem Maidan wurden größtenteils von den zivilen Protestierenden unterstützt. Es war und ist vielfach in Interviews mit Maidan-AktivistInnen zu hören, dass ja nichts anderes übrig blieb, als zu Gewalt zu greifen, als die Regierung Janukowitsch anfing, zu schießen. Aus der Sicht von Menschen, die von der Wirksamkeit gewaltfreier Aufstände überzeugt sind, ist diese Reaktion verhängnisvoll und war genauso ein Fehler, wie dass Aktivistinnen in Syrien 2011 der FSA gestatteten, sie zu "verteidigen". Die neue Regierung in der Ukraine ist eine Übergangsregierung, die nach dem Sturz von Janukowitsch gebildet wurde, und ihre Zusammensetzung sollte deshalb vielleicht nicht überbewertet werden. Doch zum Einen muss die Frage gestellt werden, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn diese Übergangsregierung eine Einheitsregierung aus allen politischen Kräften, einschließlich der Anhänger des gestürzten Präsidenten, gewesen wäre. Vielleicht wäre es dann nicht zu den Unruhen im Osten des Landes gekommen. Und zum Zweiten ist es erschreckend, wie kritiklos von den Regierungen der EU und der USA – zumindest scheinbar, was hinter verschlossenen Türen beredet wird, weiß man nicht – hingenommen wurde, dass sich mit der Swoboda[10] eine offen rechtsextremistische Partei an ihr beteiligt. "Die Website von Swoboda ist eine wahre Fundgrube an völkischer Ideologie. Die sind getrieben von Russen-Hass, von Juden-Hass und Polen-Hass. Es ist schierer Nationalismus, überzogener und exzessiver Nationalismus. Sie rufen nach Atomwaffen für die Ukraine. Sie halten auch die Europäische Union übrigens nicht für ein erstrebenswertes Ziel, sondern sie halten die Europäische Union für ein künstliches Gebilde, das sowieso zum Absterben verurteilt ist", soweit der ehemalige EU-Kommissar Verheugen zu dieser Partei.[11] Phase 2: Die KrimDie Halbinsel Krim gehörte seit 1783 zu Russland, als sie von Zarin Katharina annektiert wurde, und war schon zur Zeit des Zarenreichs ein wichtiger Marinestützpunkt Russlands. Der nach dem 2. Weltkrieg wieder hergestellten Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) wurde 1954 die bis dahin Russland angehörige autonome Krim überlassen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurde die Krim 1992 zur Autonomen Republik innerhalb der Ukraine erklärt, nachdem zuvor Forderungen nach Unabhängigkeit der Krim (und nach einem Referendum) abschlägig beantwortet worden waren. Für April dieses Jahres war ein neues Referendum auf der Krim geplant, bei dem es um den Ausbau von Autonomierechten (nicht um die Unabhängigkeit) gehen sollte. Als Janukowitsch gestürzt worden war und nach Russland floh, erhob sich auf der Krim eine Bewegung, getragen von ethnischen RussInnen, die die Mehrheit der Bevölkerung der Krim ausmachen. Sie forderten die Abspaltung von der Ukraine und den Anschluss an Russland. Russland unterstützte diese Bewegung aktiv, wobei das Ausmaß, in dem Russland, das um seine Marinebasis am Schwarzen Meer fürchtete, den Ton angab, von BeobachterInnen unterschiedlich beurteilt wird. Manche westlichen Medien sprachen von einer ‚russischen Besetzung‘ und übersahen dabei völlig, dass diese ‚Besetzung‘ die sich seit Jahrzehnten legitim in der Ukraine aufhaltenden russischen Truppen waren.[12] Andere wiederum, nicht nur in Russland, übernahmen blind die Ergebnisse des Referendums Mitte März, wie sie von der Regierung Putin (und nur von ihr) publiziert wurden: 96,2 Prozent Zustimmung bei 83 Prozent Beteiligung. Diese Zahlen können und dürfen angesichts der ethnischen Zusammensetzung der Krim und den Erklärungen von Seiten der Vertreter der Krimtartaren und Ukrainer auf der Krim (die zusammen 37% der Bevölkerung ausmachen)[13], dass sie bei der Ukraine bleiben wollten, in Zweifel gezogen werden. Andererseits ist plausibel, dass es eine Mehrheit für die Sezession gegeben hätte. Die auf das Referendum folgende einseitige Sezessionserklärung der Krim und der direkt darauf folgende Anschluss an Russland sind weitere Dissenspunkte in der Analyse der Ereignisse. Besonders Linke berufen sich gerne auf den Hamburger Völkerrechtler Reinhard Merkel, der sie als völkerrechtskonform dargestellt hat. Seine Argumentation: "Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts). Hätte aber Russland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt der Krim nicht ablehnen müssen? Nein; die ukrainische Verfassung bindet Russland nicht. War dessen Handeln also völkerrechtsgemäß? Nein; jedenfalls seine militärische Präsenz auf der Krim außerhalb seiner Pachtgebiete dort war völkerrechtswidrig. Folgt daraus nicht, dass die von dieser Militärpräsenz erst möglich gemachte Abspaltung der Krim null und nichtig war und somit deren nachfolgender Beitritt zu Russland doch nichts anderes als eine maskierte Annexion? Nein." Und etwas weiter unten: "Sezession, Referendum und Beitritt schließen eine Annexion aus, und zwar selbst dann, wenn alle drei völkerrechtswidrig gewesen sein sollten. Der Unterschied zur Annexion[14], den sie markieren, ist ungefähr der zwischen Wegnehmen und Annehmen."[15] Nach Merkels Auffassung handelte es sich um einen Sezessionskonflikt mit Referendum, Sezession von der Ukraine und Beitrittserklärung. Sezessionskonflikte aber seien "eine Angelegenheit innerstaatlichen, nicht internationalen Rechts. Diesen Status quo des Völkerrechts hat der Internationale Gerichtshof vor vier Jahren in seinem Rechtsgutachten für die UN-Generalversammlung zur Sezession des Kosovo bestätigt." Die meisten anderen VölkerrechtlerInnen vertreten eine andere Auffassung, derzufolge eine einseitige Sezession ohne Zustimmung des Staates, von dem sich ein Gebiet loslöst, nicht erlaubt ist: "Der Anschluss, die Annexion der Krim kann völkerrechtlich nicht anerkannt werden. Volksabstimmungen über die Regelung territorialer Statusfragen sind nur legitim, wenn sie auf Vereinbarungen mit dem betroffenen Staat beruhen und international überwacht werden"[16], so Urs Saxer, ein Schweizer Völkerrechtler. Dieser Einschätzung stimmen auch die ExpertInnen der IALANA zu. Allerdings ist auffällig, dass bei der völkerrechtlichen Debatte, abgesehen von diesem Punkt der Sezession, ansonsten extrajuristische Argumente eine entscheidendere Rolle als juristische spielen, nämlich die Beurteilung der Frage, wie unabhängig oder wie von einer äußeren Macht erzwungen der Prozess auf der Krim war. Nochmals Saxer als Beispiel: "Die Präsenz russischer /russisch gesteuerter Truppen, ursprünglich gedeckt durch ein Stationierungsabkommen, mutiert so zur militärischen Bedrohung und Besatzung, was das Gewaltverbot der UN-Charta, eine Zentralnorm des internationalen Systems, verletzt." Das ist kein juristisches Argument per se, sondern betrifft die Beurteilung dessen, was auf der Krim passiert ist. Die Folgerung für völkerrechtliche Laien kann angesichts solcher Dissense unter VölkerrechtlerInnen nur lauten: Die Sache ist umstritten, und man tut gut daran, auf genau diese Tatsache hinzuweisen, wenn behauptet wird, die Sezession der Krim und ihr Anschluss an Russland seien eindeutig völkerrechtswidrig oder völkerrechtskonform. Phase 3: Die OstukraineNach dem Krim-Referendum und dem Anschluss an Russland kam es Ende März 2014 dann zur dritten, gegenwärtigen Phase der Krise: Die Unruhen in immer mehr Orten der Ost- und jetzt auch Südukraine, mit Besetzung von Regierungsgebäuden, bewaffneten Gruppen, die Straßensperren errichteten usw. Sie nehmen immer mehr den Charakter eines Bürgerkriegs an, seitdem die Regierung in Kiew sich dazu entschlossen hat, mit Waffengewalt gegen die pro-russischen AktivistInnen (und gegen anscheinend rein kriminelle Banden, die sich die Unruhe zu Nutze machen) vorzugehen. Für manche westliche BeobachterInnen scheinen die Unruhen zu bestätigen, was man schon bei der Krimkrise fürchtete: Den Griff Russlands nach der Ostukraine, ja sogar eine militärische Invasion durch russische Truppen. (Ob russische Militärangehörige verdeckt bereits in der Ukraine operieren, kann nur vermutet, aber nicht bewiesen werden; unbezweifelt ist, dass 40.000 Soldaten auf der russischen Seite der Grenze stehen, sie aber nicht übertreten haben.) Die erste Erklärung des Bund für Soziale Verteidigung[17] wies u.a. auf die Gefahr hin, dass sich ein ethnisch-nationalistischer Konflikt anbahnen könnte. Sie wurde damals noch von einem Kenner der Ukraine kritisiert, der sagte, dass ethnische Kategorien in der Ukraine nicht anwendbar seien. Leider hat sich inzwischen bestätigt, dass die Befürchtung, die hier nochmal zitiert werden soll, doch nicht so weit hergeholt war: "Schnell werden Konflikte, egal was ihre eigentlichen Ursachen sind, in ethnisch-nationalen Kategorien erklärt und es wird entsprechend politisch mobilisiert. Wo versucht wurde, mit Gewalt Fakten zu schaffen, hat dies gewöhnlich zu Flucht und 'ethnischen Säuberungen' geführt. Ein Wechsel der Herrschaftsverhältnisse ist hier keine Lösung, sondern allein die behutsame Schaffung von Regierungsformen, die Minderheitenrechte stärken und ethnische Spannungen abbauen." Die Lesarten des KonfliktesDie Interpretation des Konfliktes in der EU und den USA lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: In der Ukraine habe ein demokratischer Aufstand ein oppressives Regime hinweggefegt, das unter dem Einfluss Russlands stand und eine Assoziierung an die EU nicht wollte. Der sich anschließende Aufstand auf der Krim und die Proteste in der Ostukraine seien von Moskau ferngelenkt, auch mit Hilfe russischer Truppen, die lediglich ihre Rangabzeichen abgelegt haben, und seien deshalb unrecht und die Referenden unwirksam. Kurz: Die neuen Regierenden in der Ukraine sind "die Guten" und alle, die sich gegen sie auflehnen, von Russland ferngesteuert und "die Bösen". Russland wird mit Sanktionen belegt und Militärmanöver der NATO in der Ostsee sollen die militärische Macht der NATO zeigen. Wieso ist eigentlich die Reaktion des Westens so viel schärfer als sie vor rund sechs Jahren (2008) bei der Krise in Georgien war, als Georgien versuchte, Süd-Ossetien militärisch zurückzuerobern und das russische Militär eingriff und das verhinderte? Auch Georgien hatte eine Revolution. Auch Georgien hatte und hat Interesse an EU und NATO. Zwei Gebiete mit ethnischen Minderheiten spalteten sich de facto ab und sind nicht mehr unter der Kontrolle von Tiflis; ihr völkerrechtlicher Status ist bis dato ungeklärt. Es kam dort nicht zu einem formalen Anschluss an Russland, aber de facto besteht ein starker russischer Einfluss, EinwohnerInnen von Abchasien und Südossetien haben teilweise russische Pässe, und russischer Truppen sind präsent. Die Antwort kann nur der Verweis auf die geopolitische Lage der Ukraine sein. In Teilen der (linken) Friedensbewegung wird die Last der Schuld praktisch einfach umgekehrt, so z.B. in dem von Matthias Jochheim (IPPNW) übersetzten und herumgeschickten Artikel von Umberto Mazzei (Uni Florenz): "Es ist wahrscheinlich, dass es irgendeine Koordination zwischen dem State Department und Chevron für den Staatsstreich in Kiew gegeben haben mag, ... Der Staatsstreich in der Ukraine zielt offensichtlich stärker auf die Durchdringung der Ukraine mit angloamerikanischen Interessen als mit solchen der EU, denn Europa ist nicht souverän; es wird von Marionetten-Regierungen gelenkt, die Anordnungen aus New York und London gehorchen; es befindet sich unter militärischer und finanzieller Besetzung." In dieser Lesart war der Aufstand von den USA und/oder der EU organisiert und gelenkt, um die Ukraine dem westlichen Block einzugliedern und Russland weiter in die Enge zu treiben. Beide Lesarten sind nicht hilfreich und spiegeln nicht nur die jeweils eigenen politischen Interessen, sondern auch die verhängnisvolle Tendenz wider, Konflikte nach dem Schema von "gut" und "böse" zu erklären. Komplexe Sachverhalte können aber nicht einfach dermaßen reduziert werden, dass sie in Schwarz-Weiß-Denken münden. Wie so oft gibt es mehr als eine Wahrheit, zu der die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen von "West" und "Ost" ebenso gehören wie die verschiedenen Interessen der EinwohnerInnen der Ukraine. Wer jetzt nach möglichen Lösungen der Krise sucht, sollte dies als allererstes anerkennen. Wie gefährlich ist die Situation?Droht wirklich ein internationaler Krieg in der Ukraine? Oder plant Russland sogar, wie gelegentlich besonders von PolitikerInnen aus Osteuropa geäußert wird, die Sowjetunion wiederherzustellen? Die Situation ist in der Tat gefährlich und ein Bürgerkrieg hat – wenngleich bislang räumlich eng begrenzt – eigentlich schon begonnen, seitdem die neue ukrainische Regierung das anfing, was sie einen "Antiterroreinsatz" nennt. 40.000 russische Truppen an der Grenze zur Ukraine sind beunruhigend, und wohl kaum zur Verteidigung Russlands dort stationiert, außer Präsident Putin sollte jeden Realitätssinn verloren haben. Ob sie Teil eines Drohmanövers sind – ähnlich wie die NATO-Manöver in der Ostsee -, oder ob sie tatsächlich evtl. in der Ostukraine eingreifen sollen, ist schwer zu beurteilen. Aber trotzdem sollten die Medien, und sollten auch wir in der Friedensbewegung aufhören, das Szenario eines Dritten Weltkriegs an die Wand zu malen. Weder Putin noch Obama noch irgendein anderer verantwortlicher Politiker oder Politikerin in Europa sind zu einer solchen direkten Konfrontation bereit, und es gibt auch keine Indizien, dass Russland plane, andere Länder in Osteuropa anzugreifen. Von einem Dritten Weltkrieg zu reden, ist in meinen Augen unverantwortliches und letztlich auch gefährliches Gerede, denn es macht das Undenkbare denkbar. Und wir haben schon einmal, Anfang der 1980er Jahre, erleben müssen, wie eine Regierung begann, die Möglichkeit eines solchen Krieges nicht länger auszuschließen, sondern sich konkret darauf vorzubereiten. Wie es weitergeht, ist derzeit schwer vorhersagbar. Nur ein Faktor soll hier angesprochen werden, der sehr selten erwähnt wird: Russland und die russische Regierung sind zweierlei Dinge. Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung hinter Putin steht oder zu stehen scheint, so gibt es auch in Russland eine Opposition, die sich gegen Autokratie und Korruption wehrt. Putin selbst hat das erkannt und vorsorglich schon mal behauptet, dass alle, die ihn kritisieren, vom Gegner gesteuert seien: "Wir werden es mit Sicherheit auch mit äußeren Gegenmanövern zu tun bekommen, doch wir müssen für uns selbst entscheiden, ob wir dazu bereit sind, unsere nationalen Interessen konsequent zu verteidigen, oder ob wir sie mehr und mehr aufgeben und uns wer weiß wohin zurückziehen. Manche westlichen PolitikerInnen schrecken uns bereits nicht nur mit Sanktionen, sondern auch mit der Perspektive einer Verschärfung der inneren Probleme. Es wäre interessant zu erfahren, was sie damit meinen: Aktivitäten einer gewissen "Fünften Kolonne" – also verschiedener "Vaterlandsverräter" – oder rechnen sie damit, dass sie die soziale und wirtschaftliche Lage Russlands verschlechtern können und damit eine Unzufriedenheit der Menschen hervorrufen? Wir betrachten solche Verlautbarungen als unverantwortlich und offen aggressiv, und werden entsprechend darauf reagieren. Dabei werden wir selbst niemals nach einer Konfrontation mit unseren Partnern – weder in Ost, noch in West – streben; ganz im Gegenteil, wir werden alles Notwendige unternehmen, um zivilisierte, gutnachbarliche Beziehungen aufzubauen, so, wie es sich in der heutigen Welt gehört."[18] Was nun?Es gibt von verschiedenen Seiten Vorschläge, wie eine alternative Politik gegenüber der Ukraine aussehen könnte. Einige von ihnen sollen hier aufgezählt werden. Kurzfristig
Mittelfristig
Langfristig
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin des Bundes für soziale Verteidigung (Schweitzer(at)soziale-verteidigung.de). Der Text ist eine leicht veränderte Version vom 11.5.2014, die am 22.5.2014 im Aachener Friedensmagazin erschienen ist. Anmerkungen[1] In seinem 1987 erschienenen Buch "Perestroika und neues Denken für unser Land und die ganze Welt" prägte Gorbatschow die Formulierung "Europa, unser gemeinsames Haus", die bald von vielen PolitikerInnen aufgegriffen wurde und zur Formulierung einer Vision eines nicht in West und Ost geteilten Europas wurde. [2] Die Betonung liegt hier auf "erklärten" - tatsächlich ging es wohl auch in dieser Zeit letztlich um wirtschaftliche Konkurrenz (Hinweis von Andreas Buro). [3] Siehe Grobe a.a.O., der Wörner, Baker und Genscher zitiert. Von einem Verzicht auf Ausweitung der EU war übrigens bei diesen Erklärungen nie die Rede. [4] Interview mit EU-Kommissar Verheugen. http://www.deutschlandfunk.de/verhaeltnis-eu-russland-gefahr-einer-spirale-nach-unten.694.de.html?dram:article_id=280378. Für den Hinweis danke ich Clemens Ronnefeldt. [5] Wagner a.a.O., Quelle des Zitats von Sommer: Zeit Online, 18.03.2014 [6] Otfried Nassauer, 'Generationswechsel – Die Zukunft nuklearer Waffen', in Friedensforum 3/2014 (im Erscheinen), http://www.tagesschau.de/wirtschaft/ukraine1108.html [7] Das Assoziierungsabkommen mit der EU. www.tagesschau.de/ausland/assoziierungsabkommen106.html [23.4.2014] [8] Jürgen Wagner, Ukraine: Ringen um die Machtgeometrie. Neoliberales Assoziationsabkommen und europäisch-russische Machtkonflikte, in: Ausdruck 2/2014, www.imi-online.de [9] Nach meiner Kenntnis ohne schwerwiegende Vorwürfe der Manipulation der Ergebnisse, siehe http://www.kas.de/wf/de/33.19184/ [10] Welche Rolle diese Faschisten während der Proteste auf dem Maidan gespielt haben, dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Aus Reihen der Friedensbewegung wird immer wieder behauptet, dass sie ihn, zumindest seitdem der Aufstand in Gewalt umgeschlagen war, gesteuert hätten. AktivistInnen widersprechen dieser Auffassung vielfach und sagen, die Rechten hätten es „nur“ verstanden, sich medienwirksam zu präsentieren. (Zum Beispiel auf dem Webinar des International Center for Nonviolent Conflict am 9.4.2014, Ukrainian Struggle Explained: The Maidan Revolution, Resistance to Military Intervention and Citizens’ Organizing). Wirklich handfest beweisbar ist keine der Lesarten. Wie auch anderes unklar ist und wohl auch noch lange unklar bleiben wird, z.B. was in der Nacht vom 20. Februar wirklich geschehen ist. Ermittlungen in der Ukraine selbst legen, so der WDR, nahe, dass die Urheberschaft für die Todesschüsse, denen mindestens 30 Menschen zum Opfer gefallen sind, nicht eindeutig ist und dass u.U. nicht nur Regierungstruppen sondern auch andere geschossen haben (http://www.wdr.de/tv/monitor/presse/2014/pressemeldung_140410.php5 ), auch wenn die ukrainische Staatsanwaltschaft allein der Sondereinheit der Berkut der Janukowitsch-Regierung die Verantwortung gibt. [11] Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD) im Interview mit dem Deutschlandfunk am 18.3.2014, http://www.deutschlandfunk.de/verhaeltnis-eu-russland-gefahr-einer-spirale-nach-unten.694.de.html?dram:article_id=280378 [12] Allerdings haben nach Presseberichten "in den zwei Wochen vor dem Referendum vom 21. März ein Teil dieser russischen Soldaten den Marinestützpunkt und ihre Kasernen verlassen und sich an der militärischen Übernahme von öffentlichen und Verwaltungsgebäuden, an der Sperrung von Verkehrswegen , an der Vertreibung ukrainischen Soldaten aus ihren Stellungen etc. beteiligt. Zum zweiten wurden zusätzliche russische Truppen auf die Krim verlegt." (Quelle: Andreas Zumach in einer Mail an die Autorin.) [13] Karl Grobe, Zündeleien und Roll Back, in Friedensforum 3/2014 (im Erscheinen) [14] "'Annexion' heißt im Völkerrecht die gewaltsame Aneignung von Land gegen den Willen des Staates, dem es zugehört, durch einen anderen Staat. Annexionen verletzen das zwischenstaatliche Gewaltverbot, die Grundnorm der rechtlichen Weltordnung. Regelmäßig geschehen sie im Modus eines 'bewaffneten Angriffs', der schwersten Form zwischenstaatlicher Rechtsverletzungen. Dann lösen sie nach Artikel 51 der UN-Charta Befugnisse zur militärischen Notwehr des Angegriffenen und zur Nothilfe seitens dritter Staaten aus - Erlaubnisse zum Krieg auch ohne Billigung durch den Weltsicherheitsrat." [15] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-krim-und-das-voelkerrecht-kuehle-ironie-der-geschichte-12884464.html. [16] http://www.nzz.ch/meinung/debatte/der-krim-konflikt-und-das-voelkerrecht-1.18265005. Ich danke Andreas Zumach für den Hinweis [17] http://www.soziale-verteidigung.de/fileadmin/dokumente/international/Ukraine_BSV20140305.pdf [18] Rede von Putin vom 18. März 2014, zitiert nach: Albrecht Müller: Die neue Konfrontation West-Ost. Wie geht es vermutlich weiter? Gedanken zur Ukraine, zu Putins Rede vom Dienstag, zu unseren Medien, etc. (Teil I), 20. März 2014, http://www.nachdenkseiten.de/?p=21147. (Hinweis Clemens Ronnefeldt) [19] Shuttle-Mediation ist eine Form der Mediation, wo der/ die VermittlerIn zwischen den Parteien hin- und herfährt, anstatt dass die Parteien an einem Tisch sitzen. [20] Für die Ukraine wurde dies auch von zwei Mitwirkenden des International Center for Nonviolent Conflict vorgeschlagen: Maria Stephan and Maciej Bartkowski, Ukraine: Nonviolent resistance best hope for thwarting Russian occupation, Foreign Policy, April 10, 2014. http://www.nonviolent-conflict.org/index.php/news-and-media/featured-news-stories/3713-ukraine-nonviolent-resistance-best-hope-for-thwarting-russian-occupation Kontext:
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