Den Aufsatz kommentieren Der Süden im Osten?Osteuropas Peripherisierung und EU-Integrationvon Heiko WegmannIm Osten Europas finden sich relativ reiche Regionen um Prag, Bratislava oder Budapest, umgeben von einem Meer wirtschaftlicher Krisengebiete. Will man sich ein grobes Bild von der wirtschaftlichen Seite der Transformationen in Osteuropa machen, hilft - bei aller nötigen Vorsicht gegenüber der Aussagekraft von Statistiken - ein Blick auf die Entwicklung der Bruttoinlandsprodukte (BIP). Die 90er Jahre waren von äußerst tiefen wirtschaftlichen Einbrüchen gekennzeichnet. Trotz zuvor teilweise wieder positiver Wachstumsraten hatten im Jahr 2002 von 27 Ländern[1] nur sieben ihr BIP-Niveau von 1989 wieder erreicht oder übertroffen. In Moldawien, Georgien, der Ukraine sowie Serbien & Montenegro liegt das Niveau heute lediglich bei 50 Prozent oder weit darunter. Insbesondere die Situation der GUS-Länder und Südosteuropas hat sich gegenüber den EU-Beitrittsländern dramatisch verschlechtert. Daran zeigt sich, daß regionale Durchschnittswerte kaum Aussagekraft für die Entwicklung in einzelnen Ländern haben. Die Spannbreite reicht von der großen Ausnahme Slowenien, das mittlerweile nach OECD-Standard als reiches Industrieland gilt, über Länder "mittleren Einkommens" wie Kroatien und Polen bis zu Moldawien, wo das statistische durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen unter 400 US-Dollar im Jahr liegt. Die 90er Jahre brachten entsprechend auch die Einordnung vieler osteuropäischer Länder in die OECD-Kategorie "Entwicklungsland" mit sich. Lediglich die Indices Bildung und Gesundheit sind in Osteuropa und vielen GUS-Länder derzeitig noch besser als in den meisten Ländern des globalen Südens. Dies liegt in weiten Teilen allerdings an der nachwirkenden Sozial- und Bildungspolitik der ancien regimes. Die Region erhält heute die höchsten staatlichen Netto-Entwicklungshilfe-Zahlungen pro Kopf weltweit. An erster Stelle stehen Albanien und Mazedonien, während Weißrußland, Turkmenistan und Usbekistan kaum ins Gewicht fallen. Für die postsozialistischen Länder insgesamt ergibt sich im Zeitraum von 1991 bis 2003 ein gewichtetes Durchschnittswachstum von -0,77 Prozent und somit alles andere als eine "nachholende Entwicklung" im Sinne der Modernisierungstheoretiker. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt heute im Schnitt deutlich unter dem Lateinamerikas (bei Vergleich der Kaufkraftparitäten fällt die Differenz geringer aus). Zwischen 1990 und 1998 verdoppelte sich die Auslandsverschuldung der postsozialistischen Länder. Der Anteil des Schuldendienstes am BIP verdreifachte sich. Vor allem der Schuldenberg Rußlands ist riesig. Einzig Polen wurde 1991 als erstes Transformationsland von den Gläubigern substantiell entschuldet, um der eingeforderten Schocktherapie zum Erfolg zu verhelfen. Allerdings hat sich auch Polens Außenverschuldung gegenüber 1989 wieder um zwei Drittel erhöht - trotz aller Privatisierungserlöse. Innerhalb der einzelnen Länder nimmt die soziale Spaltung zu. Die Verteilung des so genannten Nationaleinkommens ist in Osteuropa und Zentralasien zwar nicht so extrem ungleich wie in Lateinamerika oder Südasien, doch ist eine drastische Verschiebung zu verzeichnen. Während 1989 noch 7,5 Prozent der Bevölkerung von einem Einkommen leben mußten, das weniger als ein Drittel des Durchschnitts betrug, lag diese Rate 1998 bei etwa 25,6 Prozent. Und gegen den globalen Trend ist die Lebenserwartung in Osteuropa und Zentralasien gesunken. Sie liegt bereits, vor allem aufgrund des Abfallens der GUS-Länder, unter der in Lateinamerika. Angesichts des Scheiterns einer "nachholenden Entwicklung" wird immer wieder die Frage gestellt, ob statt der viel zitierten "Europäisierung" nicht von einer "Lateinamerikanisierung" Osteuropas zu sprechen ist. Katharina Müller verweist darauf, daß ein regionaler Vergleich aufgrund der extremen Unterschiede kaum sinnvoll sei. Es ließen sich allenfalls zwei grobe geographische Metaphern bemühen, zwischen denen die Transformationsdynamiken anzusiedeln seien: "Europäisierung" im östlichen Mitteleuropa und "Afrikanisierung" in den meisten GUS-Ländern und Teilen Südosteuropas. Doch auch diese Kategorisierung erweist sich als hilfloser Versuch, die vielfältigen sozialen, kulturellen und ökonomischen Unterschiede der auch in sich schon extrem heterogenen Regionen "Afrika" oder "Europa" zu nivellieren. Die EU-ErweiterungDie zunehmende Integration der so genannten Transformationsländer in den EU- und Weltmarkt erfolgt auf der Grundlage meist schlechter Ausgangsbedingungen. Daher stellt sich die Frage, was für Konsequenzen dies einerseits für die bald integrierten und andererseits für die außen vor bleibenden Staaten hat. Denn insbesondere mit der EU-Integration werden große Hoffnungen auf Wohlstand und funktionierende bürgerliche Zivilgesellschaften verbunden. Schon die Integration selbst verläuft nicht gerade demokratisch, die Bedingungen werden ziemlich einseitig von der EU vorgegeben. Die Erfüllung wird in Form von Länder-Bewertungen und finanziellen Hilfen sanktioniert. Auf dem Kopenhagener EU-Gipfel 1993 wurden zunächst drei grundlegende Beitrittskriterien definiert: institutionelle Stabilität, eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Verpflichtung, sich die politischen Ziele der Union zu eigen zu machen. Dabei hat die EU (im Verbund mit anderen internationalen Institutionen) wesentlich marktradikalere Reformen gen Osten exportiert, als sie sich selbst auferlegt hat.[2] Und im Gegensatz zu den südlichen wird von den östlichen Kandidaten verlangt, daß sie diese Reformen bereits vor EU-Beitritt durchführen, über lange Zeiträume hinweg ohne jegliche Beitrittsgarantie. Rumänien und Bulgarien sind, weil sie diese Bedingungen nicht erfüllen können, aus der Beitrittsrunde 2004 herausgefallen. Die so genannten "Beitrittspartnerschaften" betreffen Geld- und Haushaltspolitik, Verwaltungs- ebenso wie Sozialversicherungsreformen und natürlich Fortschritte in der Übernahme des rechtlichen Besitzstandes der EU (acquis communautaire). Eine substantielle Abfederung über größere finanzielle Hilfen oder die Freizügigkeit für Arbeitnehmer wurde von Seiten der EU nicht geleistet bzw. immer weiter hinausgezögert. Und in den Assoziierungsabkommen Anfang der 90er Jahre - die grundlegende Weichenstellungen für die ökonomischen Austauschbeziehungen waren - schützte sie ihre Märkte gerade in den Bereichen, in denen die Beitrittsländer Exportmöglichkeiten hatten: Stahl, Textilien, Chemie und Agrarprodukte. Die Öffnung erfolgte dann zwar schrittweise, schlußendlich allerdings erst, nachdem die östliche Konkurrenz übernommen oder zusammengebrochen war. Unter den Beitrittsländern gab es kaum Versuche, durch gemeinsame Verhandlungspositionen das Machtgefälle gegenüber der EU zu verringern. Vielmehr versuchten alle einzeln, aufgrund des Regatta-Prinzips (alle haben die "gleichen" Startchancen, das Beitrittsdatum jedes Kandidaten wird von seinem individuellen Fortschritt abhängig gemacht) einen möglichst guten Platz zu ergattern. Die suprastaatliche Integration in die EU, begleitet von nationalstaatlichen Auflösungsprozessen in Ex-Jugoslawien, der Tschechoslowakei und dem Baltikum, wurde somit als nationalistisches Projekt definiert. Die Reformeliten konnten mit der von Reichtum und Stabilität geprägten Utopie einer "Rückkehr nach Europa" eine realitätsmächtige Leitvorstellung mobilisieren. Die harten Anpassungsmaßnahmen - etwa Rentenkürzungen, die Abschaffung von Lebensmittelsubventionen oder staatlichen Gesundheitsleistungen sowie die massenhafte Schließung staatlicher Betriebe - wurden dabei als notwendiges Übel auf dem Weg zur Westintegration dargestellt und die Verantwortung damit nach außen delegiert. Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus gewannen neoliberale Positionen an Attraktivität, weil sie unter dem Motto "weniger Staat" die scheinbar radikalste Kritik des alten Systems lieferten. Deren Eigendynamik mündete u.a. darin, daß der konservative tschechische Präsident Vaclav Klaus die EU scharf kritisierte, weil diese "zu kommunistisch" sei. Auf wirtschaftspolitischer Ebene wurden teilweise so radikale Maßnahmen ergriffen, daß sie wiederum zum Hindernis für den Beitritt wurden. So gewährt der polnische Staat in den Anfängen der 90er Jahre errichteten "Freien Produktionszonen" transnationalen Konzernen ganz besondere Freiheiten. Mit Fiat wurden beispielsweise Verträge geschlossen, die den Konzern u.a. für zehn Jahre von Körperschaftssteuer und Importzöllen befreien.[3] Da die EU-Kommission dies nun als wettbewerbsverzerrend ansieht, wird der Staat Kompensationen zahlen müssen. Auch Ungarn hat sich durch großzügige Steuerbefreiungen hervorgetan. Es bekommt in der Auseinandersetzung mit dem EU-Wettbewerbskommissar Unterstützung durch den European Roundtable of Industrialists (ERT), der sich gleichzeitig für die Osterweiterung und für die Erhaltung der Privilegien seiner Mitglieder stark macht. Handel durch WandelIm Zuge der ökonomischen Transformation in den Beitrittsländern seit Anfang der 90er Jahre haben vor allem westeuropäische Konzerne ganze Sektoren übernommen. In Tschechien, Polen, der Slowakei und Bulgarien kontrollieren ausländische Unternehmen zwischen 70 und 80 Prozent des Bankgeschäfts. Die alten RGW-Verbindungen Richtung Osten und untereinander wurden gekappt und der Handel auf die EU ausgerichtet. Gingen 1990 nur 31 Prozent der tschechischen Exporte in die EU, waren es 2000 bereits 69 Prozent. Deutsches Kapital spielt dabei eine herausragende Rolle. Durch die Übernahme von 70 Prozent der Anteile von Skoda in Tschechien ist VW dort nicht nur zu einem der größten Unternehmen geworden, sondern bestreitet allein auch fast 10 Prozent der gesamten Exporte. Dabei gibt es unterschiedliche Formen der Einbindung. In Tschechien spielt der intraindustrielle Handel eine wichtige Rolle bei der Integration in transnationale Produktionsketten. Dies wird im allgemeinen als ein Entwicklungsweg angesehen, der mehr Erfolg verspricht als die so genannte Lohnveredelung. Diese ist in Rumänien stark ausgeprägt. Die deutsche Textilindustrie hat in den vergangenen Jahren rund 300.000 Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Gerade in Rumänien läßt sie nun zu extremen Billiglöhnen und unter hohem Arbeitsdruck produzieren. Textilien wurden so zum Hauptexportartikel Rumäniens. Die internationalisierte Textilbranche, in der fast nur Frauen arbeiten, zahlt mit durchschnittlich 78 Euro Monatslohn besonders schlecht. Häufig gelangten ehemalige staatliche Manager in den Besitz der Betriebe, die sich heute ihre Beschäftigten aus einem riesigen Heer an Arbeitslosen aussuchen können. Doch selbst unter diesen Bedingungen unterliegen die rumänischen Betriebe einem enormen Konkurrenzdruck asiatischer Textilbetriebe. Einstieg in den AusstiegDie Landwirtschaft der Beitrittsländer befindet sich in einer schweren Krise. Durchschnittlich 20 Prozent der Beschäftigten (zwischen über 40 Prozent in Rumänien und 5 Prozent in Tschechien) sind hier tätig. Doch die Preise subventionierter deutscher Schweinehälften oder französischer Milch lagen in den 90er Jahren teilweise weit unter den inländischen Produktionskosten. Dies geht sowohl auf die vielfach niedrigere Produktivität meist kleinerer Betriebe als auch auf das Niveau staatlicher Förderung zurück, das dort erheblich niedriger als in der EU ist. Gleichzeitig wurden Ostprodukte durch den Agrarprotektionismus der bilateralen Europaabkommen vom Absatzmarkt EU ferngehalten - sarkastischerweise mit der Begründung, die Produktionskosten seien zu unterschiedlich. Die Realität der Handelsbeziehungen zeichnet das klassische Bild von Zentrum-Peripherie-Beziehungen: Die Beitrittsländer im- und exportieren etwa 50 Prozent ihrer gesamten Agrar- und Ernährungsgüter aus der bzw. in die EU, während der Anteil bei der EU nur etwa 10 Prozent beträgt. Dabei schaffte es die EU, jährliche Handelsüberschüsse von 2 Milliarden Euro einzufahren.[4] Die Folge ist ein massives "Bauernsterben". Mathias Berninger, Grüner parlamentarischer Staatssekretär im deutschen Landwirtschaftsministerium, drückt das moderater aus: Den älteren osteuropäischen Landwirten müsse "ein sozialverträglicher Ausstieg aus der Landwirtschaft ermöglicht werden". Es zeige sich bereits jetzt, daß es bei der Erweiterung "sowohl unter den neuen wie auch den alten Mitgliedsstaaten per saldo nur Gewinner und keine Verlierer gibt"[5]. Semisubsistenzbetrieben werde mittels Beihilfen die Chance gegeben, "sich in einer längeren Anpassungsphase auf die Wettbewerbsbedingungen in Europa einzustellen oder den Ausstieg aus der Landwirtschaft zu wählen". Was sich hinter der Rede von Bei- und Ausstiegshilfen verbirgt, aber nicht ausgesprochen wird: "Millionen von in der Landwirtschaft unbrauchbar Gewordenen werden bei Arbeitslosenraten, die zwischen 13 und 18 Prozent schwanken, auch in der Industrie oder dem Dienstleistungssektor keine Arbeit finden." (Hofbauer). Fakt ist, daß die Höhe der Direktzahlungen der EU nach dem Beitritt über zehn Jahre an die Höhe des Standards für Altmitglieder angeglichen werden, beginnend mit 25 Prozent im Jahr 2004. Manche Länder, die 2004 "draußen" bleiben, streben die Aufnahme später an (Rumänien und Bulgarien), andere kommen - trotz gelegentlich anderslautender Rhetorik - gar nicht in Betracht (GUS-Länder). Rußland nimmt wegen seiner Größe, Rohstoffvorkommen und Militärmacht eine eigenständigere Rolle ein. Doch auch in Rußland herrschen die Zwänge des Weltmarktes und auch dort intervenieren IWF, Weltbank und EU (letztere z.B. über das TACIS-Programm) im Sinne von monetärer Stabilisierung, Liberalisierung und Privatisierung. Der von Rußland angestrebte Beitritt zur WTO mit ihren diversen Freihandelsabkommen würde diesen Weg langfristig festlegen und weiter vorantreiben. Diese Integration in den Weltmarkt nimmt jedoch eine "offenere" Form an, da sie nicht so breit und tiefenwirksam wie das Projekt der EU-Integration ist.[6] Schließlich hat die EU weit mehr souveräne Kompetenzen politischer wie ökonomischer Art. Die meisten neuen EU-Mitglieder werden aufgrund von Übergangsfristen bei der Freizügigkeit, Agrar-, Regional- und Strukturbeihilfen sowie wegen des immensen Gefälles in Einkommen und Produktivität erst einmal Mitglieder zweiter Klasse sein. Anders gesagt: die Peripherie im Zentrum. Die "äußere" Peripherie hingegen ist eher Peripherie im klassischen Sinn, geprägt durch Rohstoffexport und Import von Industriegütern, durch "failed states", korrupte Eliten (in Zentralasien und Transkaukasien noch drastischer als in Rußland), der Rückkehr zu Subsistenz, aber auch durch wenige extrem moderne Inseln. Anmerkungen:[1] Bei der regionalen Betrachtung sind neben den osteuropäischen auch die zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion berücksichtigt. Zahlen in: Müller, Katharina (2003): Transformation als Peripherisierung. Anmerkungen zur Lateinamerikanisierung Osteuropas, in: epd-Entwicklungspolitik, Nr. 14/15, S. 32-36. [2] Bohle, Dorothea (2002): Erweiterung und Vertiefung der EU. Neoliberale Restrukturierung und transnationales Kapital, in: PROKLA 128, S. 353-376. [3] Hofbauer, Hannes (2003): Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integration, Wien. [4] Frohberg, Klaus (2003): Von der Transformation zur EU-Mitgliedschaft, in: entwicklung + ländlicher raum, Nr. 4, S. 4-6. [5] Berninger, Mathias (2003): EU-Erweiterung und Partner in Süd und Ost, in: entwicklung + ländlicher raum, Nr. 4, S. 3. [6] Neunhöffer, Gisela / Schüttpelz, Anne (2002): "Offene" und "geschlossene" Transformation: Von peripheren und noch periphereren Kapitalismen in Osteuropa, in: PROKLA 128, S. 377-398. Heiko Wegmann ist Mitarbeiter im iz3w. Kontext:
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