Den Aufsatz kommentieren Krise und GeschichteZum Entstehungszusammenhang kritischer Theorievon Marcus Hawel (sopos) Für Leo
Zum »Zeitkern der Wahrheit« traditioneller und kritischer TheorieWahrheit ist »zerbrechlich vermöge ihres zeitlichen Gehalts«[2], schreibt Theodor W. Adorno in seinem Hauptwerk der »Negativen Dialektik«: nichts Festes und Ewiges. Theorien sind allgemein an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort, gleichsam an ihren konkreten Entstehungszusammenhang, der sich als Signatur in die Theorie eingeschrieben hat, gebunden. Nur um den Preis des Verlusts ihrer Wirkmacht wären Theorien im Allgemeinen und Wahrheit im Besonderen von ihren Konstitutionszusammenhängen zu abstrahieren, um sie zu verallgemeinern. Daher ist Wahrheit zerbrechlich, will man sie transportieren oder festhalten. Die kritische Theorie war von Anbeginn eine Theorie der Krise in einem dreifach geschichteten Sinne... Die Wendung vom »Zeitkern der Wahrheit« stammt von Walter Benjamin und findet sich in dessen Passagen-Werk.[3] Angelegt ist die Begrifflichkeit bereits bei Karl Marx und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Dieser hatte in der Vorrede zur »Rechtsphilosophie« geschrieben: »Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt.«[4] Und: »Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodos hinaus.«[5] Jener hatte 1845 in seinen »Thesen über Feuerbach« im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung präzisiert: »[D]as menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum in[ne]wohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«,[6] womit stets die von Ort und der Zeit abhängigen Verhältnisse gemeint sind, somit auch das Bewusstsein und dessen geistigen Erzeugnisse: »Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein«[7] und schreibt sich deshalb auch in die Philosophie ein. Die methodische Überlegung, die mit dem Zeitkern der Wahrheit verbunden ist, wäre heute auf die Kritische Theorie anzuwenden, zumal diese in der Wissenschaft einerseits immer wieder als veraltet und überholt bezeichnet, als toter Hund behandelt wird.[8] Das freilich ist ein ziemlich oberflächliches Urteil, das wenig in die Tiefe geht.[9] Denn trotz der Tatsache, dass die Geschichte nicht auf der Stelle tritt und man deshalb stets zu begrifflichen Umbauten des Theoriegebäudes angehalten ist, so Max Horkheimer 1937, beansprucht kritische Theorie die Aktualität ihrer Inhalte solange, wie Kapitalismus – in welcher Formation auch immer – das vorherrschende Vergesellschaftungsprinzip ist: »Die kritische Theorie hat nicht heute den und morgen einen anderen Lehrgehalt. Ihre Änderungen bedingen keinen Umschlag in eine völlig neue Anschauung, solange die Epoche sich nicht ändert. Die Festigkeit der Theorie rührt daher, daß bei allem Wandel der Gesellschaft doch ihre ökonomisch grundlegende Struktur, das Klassenverhältnis in seiner einfachsten Gestalt, und damit auch die Idee seiner Aufhebung identisch bleibt.«[10] Zum anderen nehmen aber viele, sich der »Frankfurter Schule« verbunden Fühlende, eine Verdinglichung der Kritischen Theorie, das heißt eine Dogmatisierung und Kanonisierung vor; sie behandeln mithin die Kritische Theorie als traditionelle Theorie, indem sie eine historisierende Abkoppelung von der außerakademischen Welt betreiben, und sich gegen die Verschiebungen der »Bedeutung der fachwissenschaftlichen Erkenntnisse für die kritische Theorie und Praxis« wehren.[11] Kritische Theorie reflektiert auf die der Theorie immanenten und außertheoretischen Widersprüche und behandelt diese, sofern sie historisch sind, nicht als Irrtümer oder schlampige Definitionen, sondern versucht, diese aus einem »sich historisch verändernden Gegenstand« zu begreifen, »der bei aller Zerrissenheit doch einer ist«.[12] Gerade auch die außertheoretischen Widersprüche sind wesentlich von Belang für die Reflexion, womit die kritische Theorie im Gegensatz zur traditionellen Theorie eben auch eine außerakademische Wahrheit und Geltung ihrer und im Grunde aller Aussagen in Anspruch nimmt. Es geht um das gesellschaftliche Ganze, mithin darum, Wissenschaft nicht abstrakt, das heißt vom Gesamtzusammenhang isoliert zu betreiben: »Die traditionelle Vorstellung der Theorie ist aus dem wissenschaftlichen Betrieb abstrahiert, wie er sich innerhalb der Arbeitsteilung auf einer gegebenen Stufe vollzieht. Sie entspricht der Tätigkeit des Gelehrten, wie sie neben allen übrigen Tätigkeiten in der Gesellschaft verrichtet wird, ohne dass der Zusammenhang zwischen den einzelnen Tätigkeiten unmittelbar durchsichtig wird.«[13] Dagegen hat die kritische Gesellschaftstheorie die ganzen, also die vergesellschafteten »Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand«.[14] Die sozialen Verhältnisse werden alles andere als unter dem Gesichtspunkt der Gegebenheit und schon gar nicht sub specie aeternitatis, sondern radikal unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit betrachtet. In der kritischen Theorie ruht die Gegenwart nicht in sich. Selbst das Zukünftige steht unter dem Verdikt des Historischen. Die »Realität« steht unter Verdacht, aus Herrschaftsinteressen sich der Veränderung zu verweigern, verkapptes Realitätsprinzip zu sein, gleichsam »repressive Entsublimierung«[15] zu befördern. Gegen den Begriff der »Notwendigkeit« wendet Horkheimer ein, dass es notwendig sei, die Not abzuwenden und dass eben dasjenige notwendig sei, was die Not abzuwenden vermag: »Soweit [Notwendigkeit], vom Menschen unbeherrscht, ihm entgegensteht, gilt sie einerseits als das Naturreich, das trotz der weitreichenden Eroberungen, die noch zu machen sind, nie ganz verschwinden wird, andererseits als die Ohnmacht der bisherigen Gesellschaft, den Kampf mit dieser Natur in einer bewußten und zweckmäßigen Organisation zu führen. Hier sind Kräfte und Gegenkräfte gemeint. Beide Momente dieses Begriffs der Notwendigkeit, die miteinander zusammenhängen, Macht der Natur und Ohnmacht der Menschen, beruhen auf der selbst erlebten Anstrengung der Menschen, sich vom Zwang der Natur und den zur Fessel gewordenen Formen des gesellschaftlichen Lebens, der juristischen, politischen und kulturellen Ordnung zu befreien. Sie gehören zum wirklichen Streben nach einem Zustand, in welchem, was die Menschen wollen, auch notwendig ist, in welchem die Notwendigkeit der Sache zu der eines vernünftig beherrschten Geschehens wird.«[16] Dieser außerakademische Wahrheitsanspruch ist unabweislich auf die vorgegebene »Realität« und die »Tatsachen« verwiesen, kein Wolkenkuckucksheim – aber schon Hegel soll auf den Einwand, dass sein philosophisches System den Tatsachen widerspreche, selbstbewusst zu reagieren gewusst haben: »Um so schlimmer für die Tatsachen.« Horkheimer spürt an den »Tatsachen« und der »Realität« den historischen Charakter und die Geschichtlichkeit dieser sozialen Konstruktionen auf: »Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Organs. Beide sind nicht nur natürlich, sondern durch menschliche Aktivität geformt; das Individuum jedoch erfährt sich selbst bei der Wahrnehmung als aufnehmend und passiv.«[17] Der außerakademische Wahrheitsanspruch der kritischen Theorie rekurriert daher weniger auf die zur Anpassung und zum Stillhalten zwingenden »Tatsachen« als vielmehr auf die Objektivität der Not und des subjektiven Leidens an den Tatsachen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.«[18] Mit anderen Worten, »[d]er Begriff der Notwendigkeit ist in der kritischen Theorie selbst ein kritischer; er setzt den der Freiheit voraus, wenn auch nicht als einer existierenden«.[19] Aber auch die Kritische Theorie hat einen Zeit- und Ortskern der Wahrheit, den es selbstreflexiv zu erinnern gilt, weil der außerakademische und außertheoretische Wahrheitsanspruch nichts Geringeres als die bewahrte Einheit aus Theorie und Praxis ist: In der Praxis muss sich gemäß der zweiten Feuerbachthese die Theorie als wahr erweisen;[20] die Praxis ist daher die Aufhebung, gleichsam die Vollendung der Theorie. Solches Vollendetwerden kann die Theorie an sich selbst nur ermöglichen, wenn sie offen ist, das heißt Bezug zur Praxis hat (nicht aber wie der autoritäre Marxismus-Leninismus diesen mit Krach erzwingt), gleichsam außerhalb der Theorie ein politisches Subjekt vorfindet, welches – worauf es eben ankommt – an der Theorie sich orientiert und aus freiem Willen die Welt verändert. Wenn Kritische Theorie fortleben soll, hat sie sich daher stets zu erneuern und ihre Begriffe, die »Waffen der Kritik« (Marx), an der Gegenwart zu schärfen, über das gewusste Wissen hinauszugehen und gegen das vorherrschende Sicherheitsbedürfnis »gefährliche Erkenntnis« zu unterbreiten: »Im Augenblick, wo dem philosophischen Gedanken nichts passieren kann, das heißt, wo er bereits im Bereich der Wiederholung, der bloßen Reproduktion angesiedelt ist, in diesem Augenblick hat die Philosophie ihren Zweck bereits verfehlt. Und, wenn ich mir das gestatten darf, ich würde sagen, daß der Punkt, an dem heute die Philosophie – mit aller Fragwürdigkeit und Fehlbarkeit, die ihrem Begriff mittlerweile anhaftet – ihre wahre Aktualität, wenn anders sie eine hat, zeigt, darin besteht, daß sie dem herrschenden Sekuritätsbedürfnis, nach dem auch alle Modi der Erkenntnis mehr oder minder zurechtgeschustert sind, widersteht; und daß sie einsieht, daß – mit Nietzsche zu reden – eine Erkenntnis, die nicht gefährlich ist, nicht wert ist, gedacht zu werden. Wobei dieses Gefährlichsein weniger auf nihilistische Bombenattentate oder auf die Zertrümmerung irgendwelcher alter Werttafeln gerichtet ist als ganz einfach darauf, daß eine Erkenntnis, die nicht dadurch, daß sie über das hinausgeht, was das bereits gewußte Wissen ist, in Gefahr steht, selber falsch und unwahr und überholt zu werden – daß eine solche Erkenntnis auch nicht wahr sein kann. Was nur eine andere Form des Ausdrucks dessen ist, worauf ich immer wieder zurückkomme: daß nämlich der Wahrheitsgehalt selber in sich ein Zeitmoment hat, anstatt bloß in der Zeit als dieser gegenüber Gleichgültiges und Ewiges zu erscheinen.«[21] Die Säulen der kritischen TheorieSchon die Entstehung der kritischen Theorie war ein Ausdruck der Erneuerung in Form einer Aufhebung bestimmter Philosophien. Weder Kant, Hegel oder Freud, selbst Marx nicht, werden sui generis, gleichsam werktreu reproduziert und dogmatisch für die kritische Theorie in Anschlag gebracht. Horkheimer und Adorno betreiben keinen Neokantianismus, Neohegelianismus oder Neomarxismus. Das wäre ein ahistorischer Umgang, den sie als »traditionelle Theorie« kritisieren. Die Theorien werden andererseits auch nicht wie ein Steinbruch behandelt – oder als eine Werkzeugkiste, aus der man sich einfach bedienen könnte. Kritische Theorie läuft nicht auf einen Synkretismus aus Kant, Hegel, Marx und Freud hinaus, gleichwohl diese vier die wesentlichen tragenden Säulen ausmachen. Aber auch Max Weber, Georg Lukács, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche: Alle werden sie in einen Zusammenhang gestellt und in Konstellation zueinander gedacht, so dass sich Synergieeffekte ergeben, um blinde Stellen in der Theorie zu kompensieren. Alle gehen sie durch das eine Nadelöhr: Sie gehen durch Marx hindurch. Auch Marx wird durch dieses Nadelöhr gezwängt. Der Begriff des »Zeit- [und Orts-]kerns der Wahrheit« bildet hierbei den Maßstab der immanenten Kritik zum Zwecke der Aufhebung der Philosophie. Mit Aufhebung ist dialektische Aufhebung gemeint, mithin zugleich Aufbewahrung, Liquidation und das Heben auf eine höhere Stufe: »Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es so viel als aufbewahren, erhalten bedeutet und zugleich so viel als aufhören lassen, ein Ende machen. Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem dem äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein entnommen wird, um es zu erhalten. – So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist.«[22] Die Aufhebung läuft über bestimmte Negation: Das Unabgegoltene wird vom Abgegoltenen getrennt, das Unabgegoltene aufbewahrt, schließlich neu zusammengefügt, auf eine höhere Ebene gestellt, gleichsam auf die Gegenwart bezogen. Die neue, höhere Stufe ist die Ebene der kritischen Theorie. Dem Wesen nach ist sie Vermittlung, wie es Kant in seinen Kritiken, und Aufhebung, wie es Hegel in seiner Phänomenologie jeweils als Rekonstruktion des gewussten Wissens betrieben haben. An Kant interessiert dessen Aufklärungsbegriff, um den sich das ganze kritische und selbständige Denken zentriert. Mit dem Phänomen der Kulturindustrie und dem Faschismus als Formen des Massenbetrugs aber steht die Frage im Raum, inwiefern Aufklärung noch der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«[23] ist. Wie viel daran ist fremdverschuldet? Kants Moralbegriff wird mit der materialistischen Geschichtsauffassung konfrontiert, gleichsam auf »ungeschminkt materialistisch[e] Motiv[e]«[24], die sich unter dem »Schleier der Maja«[25] verbergen, zurückgeführt. Aus der Hegelschen Philosophie ist deren Dialektik von besonderem Belang. Aber in ihr kommen ein systemisches Denken und ein daran gekoppelter Vernunftglauben zum Ausdruck, der spätestens nach Auschwitz mit dem Ganzen als vereinheitlichter Identität und dem Allgemeinen nicht mehr ohne Weiteres in Verbindung gebracht werden kann. In Hegels Begriffe legt sich noch die bürgerliche Revolutionseuphorie, gleichsam der ungebrochene Glaube an die Vernunft, die aber vom Allgemeinen ausgeht und durch den Vorgang der Verallgemeinerung aus der sinnlichen Wirklichkeit zu abstrahieren sei.[26] – Auschwitz affiziert allerdings nachträglich auch diesen Glauben: Die gleichgeschalteten Institutionen verhinderten im Faschismus, dass die Vernunft Einzelner das barbarische Joch der Allgemeinheit abschüttelte. Daher stellt Adorno dem Hegelschen Satz von der identifizierenden Logik (»Das Wahre ist das Ganze«)[27] eine Antithese gegenüber: »Das Ganze ist das Unwahre«,[28] weil in ihm das Substrat von Herrschaft enthalten ist. Identität wird zur »Urform von Ideologie«.[29] Die identifizierende Logik, nach der der Prozess der Zivilisation verläuft, hat die Katastrophe mitzuverantworten. Die Dialektik muss umgekehrt werden, sie wird – vor allem bei Adorno – negativ.[30] Sie erhält damit einen anarchischen Charakter, der so bei Hegel allenfalls in jungen Jahren zu finden war,[31] als er noch in jedem real existierenden Staat ein »mechanisches Räderwerk«[32] zu erkennen glaubte, das abgeschafft gehört. Dass der bürgerliche Staat die »Wirklichkeit der sittlichen Idee«[33] sei, das kam bei Hegel erst später. Aus der Marxschen Philosophie wird für die kritische Theorie die Kritik der politischen Ökonomie zentral, wenngleich sie wenigstens bei Adorno weitgehend ein »ausgespartes Zentrum «[34] bleibt. Aber die Methode der immanenten Kritik,[35] der Ideologie- und Entfremdungsbegriff, Marxens Naturverständnis[36] und die materialistische Geschichtsauffassung[37] sowie nicht zuletzt die damit auf das Engste verbundene materialistische Dialektik spielen eine ganz zentrale Rolle. Die materialistische Dialektik, nicht erst die negative Dialektik Adornos, ist bereits ihrer Denkform gemäß wesentlich negativ-kritisch: Während die idealistische Dialektik Hegels sämtliche Kategorien in die bestehende Ordnung zu einem versöhnten Ganzen einfügt, begreift die materialistische Dialektik Marxens das Nicht-Identische als sprengendes Moment in der unversöhnbaren bestehenden Ordnung und weist über dieses falsche Bestehende hinaus, indem sie es bestimmt negiert. Damit ist Marxsche Theorie bereits in ihrer Denkform als »Anklage des Ganzen der bestehenden Ordnung«[38] eine kritische, während die idealistische Dialektik als identifizierende Logik ihrem Wesen nach affirmativ ist und in Hegels monarchischem Staat, der eine verwirklichte Versöhnung der antagonistischen Kräfte bürgerlicher Gesellschaft zu leisten imstande sein soll, stillgelegt wird.[39] An Max Weber interessiert dessen Rationalisierungstheorem,[40] um den Bürokratismus der »verwalteten Welt«,[41] ihr »stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit«[42] und die »Entzauberung«,[43] mithin die Säkularisierung und Entmythologisierung der Moderne begrifflich fassen zu können. Aber zur Erklärung irrationaler Verhaltensweisen, die bei Lichte betrachtet zumindest zweckrational erscheinen, wird das von Freud entdeckte Unbewusste als zentrale Kategorie Marx zur Seite gestellt. Freuds gesamte Psychoanalyse wird als Sozialpsychologie zu einem wichtigen Instrumentarium. Insbesondere dessen kulturtheoretische Schriften[44] erhalten für die kritische Theorie einen besonderen Stellenwert. Von Lukács wiederum geht dessen Verdinglichungstheorem[45] in die kritische Theorie vor allem Adornos ein. Da allerdings Lukács auch auf der subjektiven Seite der Verdinglichung völlig ohne Psychologie auskommt, muss dieser mit Freud konfrontiert werden. Blick zurück: Konstitutionszusammenhang kritischer TheorieRezeption als (un-)produktives MissverständnisDie Rezeption von Theorien – zumal außerhalb ihres Entstehungsortes – findet allzu oft auf der Basis »produktiver Missverständnisse« statt.[46] Rezeption ist ein kultureller Transfer, bei dem es aufgrund von orts- und zeitbezogenen Erkenntnisinteressen zu Verzerrungen kommt, welche das Lesen, Verstehen, Interpretieren und Schlussfolgern – eben auch für die Praxis – gleichsam das Dechiffrieren und Anwenden von theoretischen Texten auf die Wirklichkeit präformieren und anleiten. Keine Erkenntnis ohne Projektion. Keine Erkenntnis mithin ohne Missverständnisse. Selten ist es die Theorie in Reinform, die rezipiert wird, wenn die Ausgangsbedingungen am Ort des Rezipienten ganz andere als diejenigen sind, die den Theoretiker dazu veranlasst haben, etwas aufzuschreiben. Lesarten können bereits am gleichen Ort unterschiedlich ausfallen und im Austausch Spielräume eröffnen, oft genug ausreichend Stoff für Zoff geben. Solch zündelnder Stoff, der zu Missverständnissen führt, ist bereits bei Karl Marx und Friedrich Engels zu entdecken, wenn aus der Gleichgültigkeit von Theorie und Praxis bei jenem in der elften Feuerbachthese ein Praxisprimat mit einhergehender Herabsetzung der Theorie bei Engels durch die schlichte Hinzufügung eines kleinen, nichtig erscheinenden Wortes herauskommt.[47] Allzu oft wächst aus den Missverständnissen etwas Neues, das Substanz und also Bestand hat. Aber diese Missverständnisse müssen nicht immer produktiv sein, vor allem nicht, wenn Macht im Spiel ist. Der Umgang mit Marx dürfte diesbezüglich geradezu ein paradigmatisches Schlaglicht auf die Art und Weise innertheoretischer und außerakademischer Kämpfe um Deutungshoheit werfen. In dieses politische Handgemenge war auch die kritische Theorie involviert, deren Konstitutionszusammenhang und Entwicklung es an dieser Stelle aufzuhellen gilt. Dreifach geschichtete KrisenkonstellationDie kritische Theorie war von Anbeginn eine Theorie der Krise in einem dreifach geschichteten Sinne, das heißt, in ihr verdichtete sich eine mehrdimensionale Krisenkonstellation: Sie reflektierte erstens auf die Krise des Kapitalismus der ausgehenden 1920er und 1930er Jahre, zweitens auf das Scheitern der Arbeiterbewegung und der proletarischen Weltrevolution von 1917/18 sowie drittens auf die parallel einhergehende und sich daran anschließende Krise des Marxismus, welcher aus sich allein heraus nicht imstande war, das Scheitern in der Krise begrifflich zu er fassen und statt dessen in den Sog der Verdinglichung geriet, das heißt – von Moskau ausgehend – zu einer Legitimationswissenschaft transformiert wurde. Die immanente Verarbeitung der Erfahrung dieser dreifach verdichteten Krisenkonstellation rief die kritische Theorie auf den Plan. Kritische Theorie wird mithin als undogmatischer und selbstreflexiver Marxismus vorgestellt, dessen Konstitutionsbedingungen die Erfahrung des Scheiterns in der Krise gewesen war. Nachdem Karl Korsch und Georg Lukács vorgemacht hatten, wie man die materialistische Geschichtswissenschaft auf den Marxismus selbst anwendet,[48] um diesen zu erneuern, haben Horkheimer und Adorno drei entscheidende Wendungen im Geschichtsbegriff als Reaktion auf die dreifach geschichtete Krisenkonstellation vorgenommen, die die kritische Theorie im Rahmen des »westlichen Marxismus«[49] zur avanciertesten Theorie dieser und der kommenden Zeit gemacht haben. Sich diese mehrdimensionale Konstellation zu vergegenwärtigen, folgt alles andere als einem musealen Zweck. Die kritische Theorie, wie sie von Horkheimer und Adorno entwickelt wurde, war ein Ausdruck der Erneuerung der revolutionären Theorie.[50] Sich der Verfahrensweise bewusst zu werden, bedeutet von den spezifischen historischen Bedingungen jener Konstellation auszugehen und zu prüfen, inwiefern die gleiche Verfahrensweise zur Erneuerung auf die gegenwärtige Krise der Gesellschaftstheorie anwendbar ist. Das Prinzip der Selbstreflexivität ist dekonstruktiv und konstruktiv zugleich. Es führt die Wirkmacht der Theorie auf ihre Konstellation zurück, vollzieht den Gestaltwandel der Konstellation nach, um anschließend die Wirkmacht an gewandelten Verhältnissen zu rekonstruieren, gleichsam zu aktualisieren.[51] Weltrevolution... sie reflektierte erstens auf die Krise des Kapitalismus der ausgehenden 1920er und 1930er Jahre... Der historische Ausgangspunkt für den Entstehungszusammenhang kritischer Theorie liegt am Ende des Kaiserreichs und am Beginn der Weimarer Republik. Zum Ende des Ersten Weltkrieges herrschte in Deutschland wie anderswo in der Welt ein revolutionäres Klima. Zwar brach 1917 als erstes in Russland die »proletarische« Revolution aus, das Gelingen der Weltrevolution jedoch hing – da waren sich die führenden Revolutionäre, von Rosa Luxemburg bis Wladimir I. Lenin, einig – von Deutschland ab, wenngleich es sich hier zwar nicht um einen der fortschrittlichsten bürgerlichen, wohl aber kapitalistischen Staaten handelte, jedenfalls mit der größten, stärksten und am besten organisierten Arbeiterbewegung der Welt. In Russland dagegen gab es so gut wie noch keine richtige bürgerliche Gesellschaft; in einigen wenigen Städten wie St. Petersburg gab es Industrieproletariat auf westlichem Niveau, welches nach Marx das politische Subjekt der Weltrevolution sein sollte. In Russland waren es 1917 die Soldaten, die zu revoltieren begannen; die Revolution wurde von einer Avantgarde im Parteigebilde organisiert und hauptsächlich von Bauern getragen. Man schickte sich an, das feudal-aristokratische Zarentum zu überwinden, indem man die bürgerliche Gesellschaft zu überspringen trachtete.[52] Die Frage, inwiefern das überhaupt gelingen kann, wurde im Vorfeld unter dem Stichwort der »Extremitätenthese« durchaus gestellt. Im Februar 1881 wandte sich Vera Sassulitsch im Namen ihrer Genossen in einem Brief an Marx, um sich nach dem Schicksal der russischen Dorfgemeinde, das heißt nach den Perspektiven der kapitalistischen Entwicklung und Revolution in Russland zu erkundigen. Denn wenn alle Länder, mithin auch Russland, zunächst die Phase der kapitalistischen Produktion durchlaufen müssten, dann stünde dort die »Befreiung der Arbeit« noch nicht an. Ganz offensichtlich nahm Marx diese Frage sehr ernst, tat sich aber schwer mit der Antwort, die er dreimal wieder verwarf. Die Briefentwürfe sind erhalten geblieben, so dass sich erkennen lässt, wie Marx um Plausibilität und die richtigen Sätze rang. Die Quintessenz seiner Antwort vom 8. März 1881 ist allerdings umso dezidierter ausgefallen: Die Entstehung der kapitalistischen Produktion sei bis dato einzig auf die Länder Westeuropas beschränkt, die nach dem Muster Englands verlaufen ist. Dort wurden die Produzenten auf radikale Weise von ihren Produktionsmitteln getrennt. Das heißt, die Entstehung des kapitalistischen Privateigentums, welches nicht mehr auf persönlicher Arbeit, sondern auf der »Ausbeutung der Arbeit anderer« beruht, hatte die »Expropriation der Ackerbauern« zur Voraussetzung.[53] – Aber, so Marx weiter, das heiße nicht, dass der russischen Gemeinde dasselbe Schicksal wie derjenigen im Westen bevorstünde. »Der ihr innewohnende Dualismus läßt eine Alternative zu: entweder wird ihr Eigentumselement über das kollektive Element oder dieses über jenes siegen. Alles hängt vom historischen Milieu ab, in dem sie sich befindet.« Die russische Gemeinde stelle allerdings in der Geschichte einen Ausnahmefall dar: »Als einzige in Europa ist [die russische Gemeinde] noch die organische, vorherrschende Form im Landleben eines ungeheuren Reiches. Das Gemeineigentum an Grund und Boden bietet ihr die natürliche Basis der kollektiven Aneignung und ihr historisches Milieu, die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion, bietet ihr fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstabe organisierten kollektiven Arbeit. Sie kann sich also die von dem kapitalistischen System hervorgebrachten positiven Errungenschaften aneignen, ohne dessen Kaudinisches Joch durchschreiten zu müssen. Sie kann den parzellierten Ackerbau allmählich durch eine kombinierte und mit Hilfe von Maschinen betriebene Landwirtschaft ersetzen, zu der die physische Beschaffenheit des russischen Bodens geradezu einlädt. Nachdem sie erst einmal in ihrer jetzigen Form in eine normale Lage versetzt worden ist, kann sie der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, und ein neues Leben anfangen, ohne mit ihrem Selbstmord zu beginnen.«[54] Die russische Revolution konnte mithin durchaus ihren eigenen Weg gehen. Die Weltrevolution aber musste, wenn sie schon nicht im Zentrum des Kapitalismus, sondern an dessen Peripherie begann, wo noch ein eklatanter Mangel an bürgerlicher Zivilisation vorherrschte, ins Zentrum, das heißt nach Westeuropa führen: nach England, Belgien, Frankreich und Deutschland, wo überall bürgerliche Gesellschaften existierten. Der russische Weg konnte diesbezüglich keine Vorgabe für die westliche Welt sein. Spätestens mit Antonio Gramsci ist der Evolutionismus, wie er sich aus einer deterministischen materialistischen Geschichtsauffassung ableitet und worin noch ganz sicher der Einfluss von Hegels Weltgeist aufzuspüren ist,[55] in seine Schranken verwiesen, insofern es zu erkennen gilt, warum gerade in Russland die »proletarische« Revolution losging und (zunächst) erfolgreich verlief, während sie in den kapitalistischen Zentren auf sich warten ließ; aber dort, wo die Völker die Signale hörten und aus den Löchern kamen: zum »Tigersprung«[56] ansetzten und im Flug stolperten. Krise der Arbeiterbewegung... zweitens auf das Scheitern der Arbeiterbewegung und der proletarischen Weltrevolution von 1917/18 ... Nicht der Mangel an bürgerlicher Gesellschaft wirkte sich hinderlich auf die Revolution aus, sondern umgekehrt: Die bürgerliche Zivilisation zähmte die Revolution. Gramsci nennt das »Zivilgesellschaft«. Ihrer realen Gestalt von 1917 sowie ihrer Funktion nach hatte sie bei Gramsci einen repressiven Charakter. Der Begriff war einer Realanalyse der revolutionären Verhältnisse direkt nach dem Ersten Weltkrieg abgewonnen. Gramsci fand auf die Frage, warum im kulturell hoch entwickelten Westen die Revolution scheiterte, im rückständigen osten aber offenbar gelang, folgende Erklärung: »Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallerthaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis, und beim Wanken des Staates entdeckte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand.«[57] Mit anderen Worten: Die zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Westen real existierende Zivilgesellschaft war am Ende des Krieges ein Hindernis für die Revolution. Anders als in Russland existierte mit der Zivilgesellschaft eine Gesamtheit nicht-staatlicher Organisationen, welche als Massenkultur eine kulturelle Hegemonie über die öffentliche Meinung (»Alltagsverstand«) ausübten. Die Zivilgesellschaft funktionierte als Kitt zwischen Staat und Individuum: »Zwischen der ökonomischen Basis und dem Staat mit seiner Gesetzgebung und seinem Zwangsapparat steht die Zivilgesellschaft.«[58] Je weiter sich die Zivilgesellschaft entwickelte, desto freiwilliger geschah die Unterwerfung der Einzelnen unter den kapitalistischen Staat. Die selbständig erscheinende Sphäre der bürgerlichen Zivilgesellschaft vermochte eine proletarische Revolution zum Scheitern zu bringen; auch wenn sie wieder verstaatlicht und wie in den 1930er Jahren vom Faschismus aufgesogen werden konnte, war sie eine Bastion des bürgerlichen Staates, da in ihr Staat und Individuen gegenseitig voneinander durchdrungen sind.[59] Die Zivilgesellschaft ist zwischen Staat und Individuum zugleich vermittelndes und vermitteltes Drittes; sie macht aus den Individuen Staatsbürger und aus dem Staat einen bürgerlichen. Insofern ist eine proletarische Revolution, die über den Staat läuft, deren Ziel es ist, den Staat zu übernehmen, vor klare Grenzen des Machbaren gesetzt: Sie muss die Zivilgesellschaft aufheben, nicht überwinden wollen. Mit anderen Worten: Sie muss etwas konkret erobern, das sie seit der bürgerlichen Revolution abstrakt schon längst besitzt. Sie muss zugleich etwas bewahren (die individuellen Freiheitsrechte), das aber in seiner Formalität den Machtanspruch des Bürgertums untermauert und erst in der Konkretion über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist. Sie hat also die Zivilgesellschaft zugleich als Gegner und Verbündeten und keine klare Trennlinie wie zwischen Freund und Feind. Demzufolge hat sie im Westen einen politischen Kampf und keinen Bürgerkrieg, Putsch oder Staatsstreich zu führen, wenngleich Gramsci diesen langwierigen politischen Kampf missverständlich mit der militärischen Vokabel als »Stellungskrieg« bezeichnet. Jemand wie Ernst Thälmann, von 1925 bis 1933 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands, war genau für derartige unproduktive Missverständlichkeiten empfänglich gewesen. Er hatte den gescheiterten Hamburger Aufstand von 1923 angeführt und zwei Jahre später resümiert: »Unsere Partei als Ganzes war noch viel zu unreif, um diese Fehler der Führung zu verhindern. So scheiterte im Herbst 1923 die Revolution am Fehlen einer ihrer wichtigsten Voraussetzungen: dem Bestehen einer bolschewistischen Partei.«[60] – Aber ein Staatsstreich oder Putsch, bei dem man einfach ein paar Männer kaltstellt und eine Regierung stürzt – ob von rechts oder links –, ist in einer Zivilgesellschaft kaum möglich. Das wusste auch Rosa Luxemburg: »Ich meine, die Geschichte macht es uns nicht so bequem, wie es in den bürgerlichen Revolutionen war, daß es genügte, im Zentrum die offizielle Gewalt zu stürzen und durch ein paar oder ein paar Dutzend neue Männer zu ersetzen. Wir müssen von unten auf arbeiten, und das entspricht gerade dem Massencharakter unserer Revolution bei den Zielen, die auf den Grund und Boden der gesellschaftlichen Verfassung gehen, das entspricht dem Charakter der heutigen proletarischen Revolution, daß wir die Eroberung der politischen Macht nicht von oben, sondern von unten machen müssen.«[61] Die kurzen Wege führen ohnehin sehr selten ins Ziel. oftmals erweisen sie sich als Sackgassen. – Ganz anders im feudalen Russland, das zwar groß und in dem der Zar weit weg war, aber wo der Weg zwischen Individuum und Staat kurz, frontal und osmotisch war: Zwischen beiden existierte eine semipermeable Membran, das heißt, der Staat konnte in den Untertan, der Untertan aber nicht in den Staat eindringen. Daher internalisierte sich keine Norm ohne die Androhung von Strafe, und eine Revolution konnte nur auf das autokratische System gerichtet sein, formierte sich entsprechend autoritär, wie sie gegen das autoritäre Machtzentrum gerichtet war. Mit anderen Worten, die gesellschaftlichen Bedingungen der Emanzipation schreiben sich in den Charakter des Widerstands gegen die Bedingungen ein: »Die Unfreien erstreben die Freiheit, wie der bestehende Zustand sie definiert.«[62] Das ist jeweils keine Frage nach der richtigen Strategie, sondern eine der Notwendigkeit, weshalb man allenfalls sagen kann, dass es falsche orte und Unzeiten für sozialistisch motivierte Revolutionen gibt, wenn sie denn nicht nur ortsbezogenes Elend überwinden, sondern nicht weniger als das Ende der Geschichte einleiten sollen. Mit eherner Notwendigkeit vollzieht sich keine Revolution; wohl aber gibt es historische Konstellationen, die eine revolutionäre Situation wahrscheinlicher machen als andere. Nur sind das nicht zwingend die orte, die für den Sozialismus am meisten reif geworden sind. ohne großartiges Zutun politischer Subjekte kommt nichts in Gang.[63] Was auch immer in Gang kommt, ist allerdings selten bewusst intendiert. Geschichte wird zwar von den Menschen gemacht, aber nicht alle Menschen sind an der Geschichte gleichermaßen beteiligt. Für Hegel waren einzelne »historische Individuen« wie Napoléon oder Caesar Gefäße, gleichsam Marionetten des »Weltgeistes«, der sich ihrer bedient, um sich geschichtlich zu entäußern. Aber auch Caesar hatte im Krieg gegen die Gallier wenigstens einen Koch dabei gehabt, ohne den er auf dem Schlachtfeld vor Hunger alsbald sein Schwert nicht mehr hätte heben können.[64] Wenn auch der Feldherr der größere »Strippenzieher« als dessen Koch ist, so ist die geschichtliche Betätigung eine Frage der Macht. Der Koch hätte Caesar auch vergiften können; dann hätte dieser nicht, aber vielleicht ein Anderer, die Gallier besiegt. Geschichte ist jedenfalls nicht auf den Willen Einzelner zurückzuführen. In den meisten Fällen opponiert gegen den Willen ein Gegenwille, gegen die Macht eine Gegenmacht, so dass Geschichte, in Hegels Worten, ironisch und listig, jedenfalls nicht gradlinig verläuft; es stoßen Entwicklungslinien aufeinander, Verläufe brechen ab, werden umgelenkt und steuern auf andere Zielbestimmungen zu, je nachdem, wo, wann und wer sich durchsetzt. Die theoretische Einsicht in die »richtige« politische Praxis soll, wenn sie schon nicht die Praxis anleiten kann, ihr doch wenigstens Orientierung bieten können. So jedenfalls dachten zu Beginn der Weimarer Republik viele linksgerichtete, marxistisch orientierte Intellektuelle. Zu ihnen zählte auch der Millionärssohn Felix Weil, der sich mit dem Gedanken trug, ein beträchtliches Vermögen für die Gründung und Einrichtung eines Instituts für Marxismus zu stiften. Das Institut sollte die Geschichte und Erfahrungen der Arbeiterbewegung erforschen. Weil spendete das Vermögen in der Hoffnung, dass dieses Institut in absehbarer Zeit einer siegreichen Revolution in Deutschland: einem deutschen Rätestaat übergeben werden könne. Aus der Retrospektive gesehen, handelte es sich allerdings nur um ein sehr schmales Zeitfenster für eine erfolgreiche Revolution, die in Deutschland auf halber Strecke in Richtung einer sozialistischen Republik stehen blieb. Die Revolution führte zu einer demokratischen Republik. Lenin gelangte deshalb zu der Ansicht, dass die organisierte Arbeiterbewegung in Deutschland die proletarische Weltrevolution aus den Augen verliert und sich mit sozialdemokratischen Reformen begnügen wird. Der revisionistische, reformistische Marxismus von Eduard Bernstein und Karl Kautsky gewann die oberhand.[65] Lenin sollte also Recht behalten – nicht aber mit den Konsequenzen, die für den weiteren Verlauf der Revolution in Russland daraus zu ziehen waren. In Russland musste gleichsam mit der proletarischen Revolution die bürgerliche Gesellschaft übersprungen werden. Trotzki hatte mit seinen Überlegungen zur »permanenten Revolution «, die bereits 1906 vorlagen,[66] die treibenden Kräfte der Revolution von 1905 sowie einer bevorstehenden »proletarischen« Revolution analysiert und darauf reflektiert, dass bei Ausbleiben der Weltrevolution jedwede revolutionäre Anstrengung der Arbeiterklassen in den rückständigen Ländern zum Scheitern verurteilt sei. Die Überwindung der feudalen Strukturen in Russland mit Hilfe der Bauernschaft und unter der Führung der Arbeiterklasse als erste Phase einer Revolution mache jedenfalls nur Sinn, wenn im Weltmaßstab die Abschaffung des Privateigentums erfolgreich angegangen werde und mit diesem Rückenwind der Geschichte auch in Russland der nationalen Bourgeoisie, die es 1905 versäumt habe, ihrer historischen Aufgabe: der Schaffung demokratischer Verhältnisse gerecht zu werden, als zweite Phase angemessen entgegnet werden könne. Wenn nun aber nicht mehr davon ausgegangen werden konnte, dass die Führung der Weltrevolution von der Arbeiterbewegung aus einem der fortgeschrittensten Länder des bürgerlich kapitalistischen Zentrums übernommen wird, wollte man die Fortschritte der Revolution in Russland nur noch absichern. Umso mehr würde also die feudale und zaristische Prägung des Landes die Bedingung für eine revolutionäre Praxis diktieren, statt von den Errungenschaften und Freiheiten des bürgerlichen Individuums im Westen zu profitieren. Auf der Basis dieser Grundannahmen gewannen Lenins Überlegungen nach einem neuen Träger der Revolution, das heißt die »Partei neuen Typs«, an Bedeutung, die man als Keim des Stalinismus ansehen darf. Demnach seien die Arbeiter und Bauern nicht imstande, ihre eigenen Interessen selbständig und vollständig zu erkennen.[67] Sie seien zur Ausbildung von politischem Klassenbewusstsein aus sich heraus unfähig. Das politische Klassenbewusstsein müsste in diesen Kreis hineingetragen werden – allerdings nicht so sehr von außen, wie Kautsky meinte: seitens »bürgerlicher Intelligenz«, die in der bürgerlichen Gesellschaft alleiniger »Träger der Wissenschaft« sei,[68] sondern bei Lenin bereits von einer proletarischen Avantgarde, deren Klassenbewusstsein durch die Verbundenheit mit der Partei durch Unmittelbarkeit garantiert sei. Die Partei sei zu alledem imstande; sie wird sogar der alleinige Träger von Erkenntnis und Wahrheit. Aus dieser axiomatischen Annahme, die bereits auf einem unproduktiven Missverständnis beruht, leitet Lenin eine unbedingte Unterordnung der Subjekte unter die »Objektivität « der Wirklichkeit, ihrer Gesetzmäßigkeiten, mithin der »objektiven Wahrheit« ab (Widerspiegelungstheorie). Es geht dabei nicht um die Anpassung der Einzelnen ans Bestehende, das doch überwunden werden soll. Aber die Gefolgsbereitschaft und Autoritätsfixiertheit der durch den feudalen Zarismus geprägten Untertanen kommen der Unterordnung unter die durch die Parteiavantgarde vorgegebene revolutionäre Praxis zupass.[69] Die Wahrheiten der revolutionären Praxis gehen jedenfalls nicht spontan aus den Diskussionen von Meinungen hervor, sondern werden gemäß der Leninschen Widerspiegelungstheorie im Bewusstsein direkt aus den Verhältnissen mechanistisch vorgegeben, gleichsam diktiert und durch die Partei vermittelt. Was hier beobachtet werden kann, ist, wie sich in Russland als Antwort auf die ausbleibende sozialistische Revolution in Deutschland aus der »Diktatur des Proletariats« eine Diktatur der Partei über das Proletariat theoretisch legitimiert. Der Marxismus verdichtet sich zu einer Legitimationswissenschaft.[70] – Mit verheerenden Folgen eines darauffolgenden destruktiv-missverstehenden Reimports dieser autoritären Auslegung des Marxismus von Lenin über Bucharin und Deborin zu Stalin als »stalinistische Philosophie« über die moskauhörigen kommunistischen Parteien der Komintern zurück nach Westeuropa. Dies geschah auch aufgrund eines eher ahistorischen Geltungsanspruchs auf Universalität der Dialektik:[71] »Eine der folgenschwersten Veränderungen, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, zumindest in ihrer Auswirkung auf die Intellektuellen, war die Verlagerung des sozialistischen Gravitationszentrums nach osten. Der unerwartete Erfolg der bolschewistischen Revolution – ganz im Gegensatz zum dramatischen Fehlschlag ihrer Nachahmung in Mitteleuropa – stellte all jene vor ein schweres Dilemma, die bis dahin im Zentrum des europäischen Marxismus gestanden hatten, nämlich die Linksintellektuellen in Deutschland. Ihnen blieben, grob gesprochen, nur folgende Möglichkeiten: Entweder sie unterstützten die gemäßigten Sozialisten und ihre eben gegründete Weimarer Republik, was bedeutete, daß sie sich gegen Revolution wie auch gegen das russische Experiment aussprachen; oder sie akzeptierten Moskaus Führung, schlossen sich der neugegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands an und arbeiteten an der Unterminierung des bürgerlichen Kompromisses von Weimar.«[72] Es ist also nicht verwunderlich, wenn Begriffe wie Idealismus, Subjektivismus, Spontaneität und Opportunismus zu Begriffen des Renegatentums werden, die zur Stigmatisierung von vermeintlichen Konterrevolutionären taugen (jedenfalls von Andersdenkenden und selbständig Denkenden, die von der offiziellen Parteilinie abweichen oder diese zu kritisieren wagen) und für das Ausbleiben der Revolution in den westlichen Zentren: als »bürgerliche Verirrung« und Dekadenz, als Resultat des bürgerlichen Individualismus verantwortlich gemacht werden. Die auf die schiefe Bahn geratene Revolution erheischt sich die Autorität der durch die Dialektik vermeintlich objektivierbaren Natur und verhält sich ähnlich wie die Kirche zu Gottes Wort gegenüber den Ungläubigen. Das ist bereits mehr als die bloße Marxsche »eherne Notwendigkeit«, die den Evolutionismus unter Marxisten hoffähig gemacht hat. Die Autorität der Natur liegt zunehmend in der Definitionshoheit überhöhter »Naturwissenschaften «. In der »stalinistischen Philosophie«, die Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus «[73] ebenso kanonisiert wie Engels »Dialektik der Natur«,[74] muss sich die »Natur« den Naturwissenschaften und diese der Parteidoktrin unterordnen. Derart zugespitzt kann Natur schließlich »konterrevolutionär« sein. Eine sinnentleerte »Dialektik« wird zur naturalisierten Ordnungs»wissenschaft« über das Ganze.[75] Die marxistische Theorie geriet aber schon in Lenins Hand zu einem Mittel, um politische Ziele zu verfolgen, die mit der Marxschen Theorie nicht mehr viel zu tun haben. Vergleichsweise einfach ist es, die Plattitüden des Leninismus hervorzukehren, wenn es denn nur erlaubt ist, das heißt straffrei bleibt. Aber im Fortgang des Marxismus-Leninismus hatte dieser seine Plattitüden gegen Kritiker renitent verteidigt, spätestens unter Stalin jene mit dem Gulag bedroht, was stets ein Armutszeugnis für die Legitimationstheorie ist, wenn sie dies nötig hat.[76] Im Übergang von Lenin zu Stalin wird schließlich aus der Diktatur der Partei über das Proletariat eine Diktatur des Parteichefs über die Partei.[77] Der stalinistische Terror erfüllte auch den Zweck einer schockartigen Modernisierung mit inhumanen Mitteln, galt aber vor allem den Widersachern in der Partei, die wie Leo Trotzki schon gegen Lenin eingewandt hatten, dass sich die objektive Wahrheit in der Partei als deren Träger auf Fraktionen teilen müsse. Die bedeutendste Widersacherin Lenins aber war Luxemburg. Ihr berühmtes Diktum, dass die Freiheit immer die der Andersdenkenden sei,[78] lässt sich als Kritik auf den Anspruch des Leninismus, dass die Partei alleiniger Träger von Wahrheit sei, beziehen und meinte nicht nur die Freiheit der Andersdenkenden innerhalb derselben sozialistischen Partei, sondern allgemein aller.[79] In Russland mochte die Leninsche »Partei neuen Typs« angesichts des weit verbreiteten Analphabetismus und der Autoritätsfixiertheit unter der Bauernschaft noch eine gewisse Plausibilität gehabt haben. Auf Westeuropa war diese revolutionäre Praxis allerdings nicht ohne Weiteres übertragbar. Schon gar nicht gewollt. obwohl Anfang der 1920er Jahre die Revolution in Deutschland gescheitert war, die das ganze Land elektrisierende Rätebewegung niedergeschlagen worden war, die Ikonen einer von Berlin ausstrahlenden proletarischen Revolution, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, 1919 von der Reichswehr ermordet waren, hegten dort noch bis zur Niederschlagung des Hamburger Aufstandes 1923 die führenden Sozialisten die Hoffnung auf eine Internationalisierung der proletarischen Revolution. Diese Hoffnung konnte auch deshalb ungetrübt gehegt werden, weil zu diesem Zeitpunkt die »Bolschewisierung«, gleichsam die Autoritarisierung der proletarischen Parteien noch nicht stattgefunden hatte. Nach dem Hamburger Aufstand, der von Ernst Thälmann angeführt wurde, spätestens 1925, als Thälmann zum Vorsitzenden der KPD gewählt wurde, waren die Hoffnungen weitgehend zerstoben. Die SPD weigerte sich fortan, mit der KPD zusammenzuarbeiten, und Thälmann besorgte die Bolschewisierung, das heißt die Zentralisierung und Autorisierung der kommunistischen Parteistrukturen. Der Druck, der von Moskau aus zu verspüren war, hatte sich zunehmend verstärkt,[80] je länger die Revolution in Westeuropa auf sich warten ließ. Immerhin war die russische Revolution scheinbar erfolgreich verlaufen, und so besaßen die Leninschen Strategien bis zu seinem Tod 1924 eine immer schwieriger zu entkräftende Autorität für eine praktische Orientierung der Weltrevolution. Stalin erklärt den Leninismus schließlich als »Marxismus-Leninismus« zur unhintergehbaren Leitlinie. Die Überlegungen von Luxemburg zu Spontaneität und Organisation, zu Sozialismus und Demokratie waren mithin nicht nur deshalb ins Hintertreffen geraten, weil sie 1919 zusammen mit Karl Liebknecht ermordet wurde, sondern da sie bereits im Streit mit Lenin unterlagen, indem sie durch keine Erfolge in der politischen Praxis getragen wurden. Der Leninismus setzte sich gegen den »demokratischen Sozialismus« Luxemburgs durch, weil jener eine Theorie des Gelingens, gleichsam eine Theorie war, die sich gemäß der zweiten Feuerbachthese von Marx als wahr erwiesen hatte. Auch die Abwandlung der elften Feuerbachthese seitens Engels spielte hier eine Rolle für die Autorität der Praxis, die den Wahrheitsmaßstab an das Kriterium des Erfolges band. Dabei wurde nur allzu selten darauf reflektiert, dass beide Theorien (von Lenin und Luxemburg) je an einen konkreten Ort, an konkrete Verhältnisse gebunden waren. So wenig Lenins Praxis auf Westeuropa, so wenig wäre auch die von Luxemburg vorgeschlagene Praxis auf Russland erfolgreich anzuwenden gewesen. Russland allerdings war der falsche und Westeuropa der richtige Ort für die proletarische Weltrevolution, und daher hätte, aus der Retrospektive betrachtet, Lenin schweigen und Luxemburg sich durchsetzen müssen, sollte es nicht allein ums Fortschreiten in Russland, sondern der Weltgeschichte gehen.[81] Luxemburg gehört nicht von ungefähr zur geistigen Strömung des westlichen Marxismus. Dieser ist eine undogmatische Suchbewegung und verhält sich gegenüber der Marxschen Theorie kritisch,[82] speist sich wie bei Marx aus der humanistischen Tradition und zehrt von den Errungenschaften der bürgerlichen Freiheiten für das Individuum. Engels hat die existentielle Abhängigkeit der Arbeiterbewegung von den bürgerlichen Errungenschaften der politischen Freiheit, die auf dem revolutionären Weg der Emanzipation gebraucht und verteidigt werden müssen, sehr eindringlich erklärt: »Selbst in dem äußersten Fall, daß die Bourgeoisie, aus Furcht vor den Arbeitern, sich unter der Schürze der Reaktion verkriechen und an die Macht der ihr feindlichen Elemente um Schutz gegen die Arbeiter appellieren sollte – selbst dann wird der Arbeiterpartei nichts übrigbleiben, als die von den Bürgern verratene Agitation für bürgerliche Freiheit, Preßfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht trotz der Bürger fortzuführen. ohne diese Freiheiten kann sie selbst sich nicht frei bewegen; sie kämpft in diesem Kampf für ihr eigenes Lebenselement, für die Luft, die sie zum Atmen nötig hat.«[83] Was zur Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft eine notwendige Voraussetzung ist, soll auch nach der Revolution nicht liquidiert, sondern im Gegenteil: konkretisiert, das heißt im Hegelschen Sinne dialektisch aufgehoben und damit erst wahrhaftig verwirklicht werden. Die Freiheit des Kollektivs darf mithin nicht zu Lasten der Freiheiten der Individuen gehen. Zu den Protagonisten eines solchen undogmatischen, westlichen Marxismus dieser Zeit zählten Georg Lukács und vor allem Karl Korsch,[84] die den in dieser Phase der Kommunistischen Internationale noch vorhandenen, freilich immer kleiner werdenden Spielraum für innerparteiliche Auseinandersetzungen sowie für kontroverse theoretische Diskussionen genutzt haben, um die Verdinglichung des Marxismus zu reflektieren. Das Zeitfenster schloss sich allerdings bereits. Krise des Marxismus... sowie drittens auf die parallel einhergehende und sich daran anschließende Krise des Marxismus ... Pfingsten 1923, ein Jahr, bevor das zu gründende Institut für Marxismus seine Arbeit aufnahm, organisierte Felix Weil, der Fabrikantensohn, zusammen mit Korsch in der Nähe von Ilmenau eine »Marxistische Arbeitswoche«. An dieser nahmen neben Lukács auch Karl August und Rose Wittfogel, Friedrich Pollock und andere teil. Viele der Teilnehmer hatten später mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung auf das Engste zu tun. Die Diskutanten der Arbeitswoche verband die Hoffnung auf ein selbstbewusst handelndes Proletariat, das nicht auf sozialdemokratische Reformen (Kautsky, Bernstein), nicht auf Evolution setzt und sich auch der Bolschewisierung widersetzt, das heißt an der Revolution festhält. Theoretischer Bezugsrahmen war der westliche Marxismus, gleichsam die materialistische Geschichtsauffassung, in der die Hegelsche Dialektik noch eine tragende Rolle spielt – im Gegensatz zum Marxismus-Leninismus, in dem diese als idealistisch gebrandmarkt und entsprechend aus der Marxschen Theorie entfernt und wodurch die »Dialektik« bezeichnenderweise sinnentleert wird. Marx hatte die Hegelsche Dialektik lediglich »vom Kopf auf die Füße« gestellt, nicht aber enthauptet; sie ist in der Marxschen Philosophie mithin nicht erledigt, daher war sie für die westlichen Marxisten ein Vehikel, vermöge dessen die materialistische Dialektik wiederzubeleben versucht wurde. Man war sich dessen sehr wohl bewusst, dass der westliche Marxismus gegenüber der autoritären Auslegung des Marxismus, des Marxismus-Leninismus, ins Hintertreffen zu geraten drohte.[85] Die Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung musste also in der Auseinandersetzung mit der Tendenz zur Autoritarisierung erneuert werden, weil nach den gescheiterten Revolutionen in Westeuropa nicht bedingungslos an die Marxsche Theorie und ihren Geist der Revolution angeknüpft werden konnte. – Dies galt noch einmal umso mehr im folgenden Jahrzehnt des heraufziehenden Faschismus und der Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland.
Die nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und des Versagens der Sozialdemokratie der Zweiten Internationale 1923 erschienenen Arbeiten »Marxismus und Philosophie« von Korsch und »Geschichte und Klassenbewußtsein« von Lukács sind die allerersten Versuche der methodischen Selbstreflexion im Rahmen der Marxistischen Theorie.[86] Der Inhalt der beiden Schriften war auch Gegenstand der Diskussion während der marxistischen Arbeitswoche; sie zählen heute noch immer zu den bedeutendsten Werken des kritischen »Neomarxismus«; in der Tradition des westlichen Marxismus stehend, begründen sie methodisch den sogenannten selbstreflexiven Marxismus und dient Horkheimer als Grundlage für die methodische, programmatische Gründung der kritischen Theorie. Korsch und Lukács ging es ausdrücklich um die Wiederherstellung der materialistischen Dialektik in Gestalt einer aktualisierten Marxschen Theorie, das heißt, sie wandten die materialistische Geschichtsauffassung auf die Marxsche Theorie an, betrieben gleichsam – wenn man so will – eine Historisierung des Marxismus, aber im besten Sinne des Begriffs, wodurch es möglich wurde zu erklären, warum an unterschiedlichen orten und zu unterschiedlichen Zeiten eine je spezifische Ausformung des Marxismus entsteht und Wirkmacht entfaltet oder sich verdinglicht. Insbesondere Korsch ging es zunehmend darum, den autoritären Marxismus- Leninismus in Westeuropa in seine Schranken zu weisen, indem aufzuzeigen sei, wie wenig er zu den dort entwickelten gesellschaftlichen Verhältnissen passt. Dazu musste mithin eine Metaebene eingenommen werden, die Selbstreflexivität und Dekonstruktion impliziert. Eine solche theoretische Kampfansage wurde von der marxistischen Orthodoxie der III. Internationale, die kommunistisch war, das heißt von Moskau dominiert wurde und die ihrerseits den Marxismus zu einer Legitimationswissenschaft für die Absicherung der Oktoberrevolution verkürzte, mit Parteiausschlüssen bedroht.[87] Die Weichen waren bereits hin zu einem autoritären Sowjetmarxismus gestellt. Während Lukács dem Druck nicht standhielt und sich von seinem Werk distanzierte,[88] den Marxismus-Leninismus übernahm, blieb der konsequente Antistalinist Korsch standhaft und wurde 1926 dafür aus der Komintern ausgeschlossen. Das von Felix Weil gegründete marxistische »Institut für Sozialforschung« nahm 1924 unter der Leitung des austromarxistischen Kathedersozialisten Carl Grünberg die Arbeit auf. Es sollte zur Verstetigung der in der Arbeitswoche vertieften Diskussion dienen, das heißt die marxistische Diskussion institutionalisieren. Zum Vorbild hatte man sich das Moskauer Marx-Engels-Institut genommen, mit dem man zunächst auch in engem Kontakt stand und zusammenarbeitete.[89] Man muss wissen, dass zu diesem Zeitpunkt die Sozialwissenschaft in Deutschland noch keine etablierte Disziplin an den Hochschulen war und es auf solche private Initiativen ankam. Das Institut für Sozialforschung war nach dem Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften in Köln das zweite wissenschaftliche Institut in Deutschland überhaupt.[90] Als offizielle Zeitschrift des Instituts fungierte zunächst das von Grünberg bereits 1911 gegründete »Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung«, die erste »bedeutende Zeitschrift für die Geschichte der Arbeiterbewegung«.[91] Erst 1932 wurde unter Horkheimers Leitung dieses Organ in die »Zeitschrift für Sozialforschung« umbenannt. 1924 hatte sich das revolutionäre Zeitfenster geschlossen. Lenin war nach zweijähriger schwerer Krankheit gestorben. Stalins Aufstieg an die Parteispitze stand bevor und mit diesem die endgültige Konsolidierung eines erdrückenden Bürokratismus und brutalen Polizeiapparates in Russland.[92] Mitte der 1920er Jahre erklärte Stalin zur Absicherung der Oktoberrevolution das Konzept des »Sozialismus in einem Land«, das schließlich in den 1930er Jahren zur Staatsdoktrin wurde.[93] Stalin erstickte mit seinem Aufstieg aus dem bürokratischen Apparat jedwede kritische Abweichung von der Parteidoktrin, bekämpfte, wie vor ihm auch schon Lenin und Trotzki, sämtliche sozialen Bewegungen, die unabhängig von der bolschewistischen Partei agierten, und verfestigte seine Herrschaft vermöge einer privilegierten Schicht des bürokratischen Apparats. Es folgte auch eine Sabotage sozialistischer Bewegungen außerhalb Russlands, zum Beispiel der kämpfenden Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco. Der Zeitpunkt dieser »bürokratischen Konterevolution« (Mandel) war im Grunde auch der Vorabend der »sozialen Konterrevolution«[94] in Europa, die mit dem Krisenjahr 1929 verbunden ist: die Phase des Aufstiegs der faschistischen Bewegungen, die mit Mussolini 1922 zuerst in Italien Fuß fasste. So formulierte Grünberg die Aufgabe des Instituts denn auch zurückhaltend: Erforschung der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung.[95] Dreieinhalb Jahre leitete er das Institut, bis er im Januar 1928 einen schweren Schlaganfall erlitt und arbeitsunfähig wurde. Im Oktober 1930 übernahm Horkheimer, zunächst kommissarisch, die Institutsleitung, die ihm von seinem Freund Pollock, der als Generalbevollmächtigter, mithin als Weils rechte Hand im Vorstand des Instituts fungierte, herangetragen wurde. Horkheimer war im Gegensatz zu Grünberg ohne die Schwermut des Alters. Er hatte gerade einen Lehrstuhl für Sozialphilosophie bekommen. In seiner Antrittsvorlesung »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung«[96] hält er an dem Gedanken des jungen Marx: der Notwendigkeit der »Verwirklichung der Philosophie durch die befreiende Tat des Proletariats«[97] fest und formulierte das Programm des Instituts, nahm damit wesentliche Weichenstellungen für die von ihm entfaltete kritische Theorie vor. Es war zunächst eine Mischung aus Kontinuität und Bruch mit der von Grünberg anvisierten und geleisteten Programmatik. Horkheimer legte den Schwerpunkt der Forschung aber nunmehr auf die verklärende Ideologie, die den Menschen die Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse erschwert und die Bedingungen einer befreienden Tat vernebeln lässt. Ihm ging es in der Phase eines heraufziehenden faschistischen Europas um die zentrale Frage, wie man Sinn und Vernunft in die Welt bringen kann, gleichsam um den aufklärerischen Impetus, der gemäß der elften Feuerbachthese den Funken von der Theorie auf die Praxis überträgt, ohne jedoch damit die Theorie aus den Augen zu verlieren, sie abzuwerten und einem sinnlosen, weil blinden Praktizismus zu verfallen: Die Verwirklichung der Philosophie, deren dialektische Aufhebung, ist auf die befreiende Tat angewiesen; ohne diese ist sie bloß ein »Philosophischwerden der Welt im Buch«,[98] wie es bei Ernst Bloch heißt. Erste Verschiebung:
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sopos 1/2013
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