Den Aufsatz kommentieren Nekropolis der GegenwartÜber das Verschwinden der bürgerlichen Gesellschaft im Spätkapitalismusvon Marcus Hawel
I.Selbst unter den aufrichtigsten Linken verhallten die Zitate. Allzu voreilig wurde das scheinbar veraltete zu Grabe getragen. Im Gegenzug überlebte ein Marx der dogmatischen Sekten. Der Untote dreht sich indes lebendig im Grab. Das Jahr 1989 leitete das Ende des Realsozialismus ein. Seitdem wird der Marxismus allgemein als ein toter Hund behandelt. Der Schock sitzt tief und lädt zu politischem Konvertitentum ein, selbst bei denen, die zuvor noch im Sowjetimperium keinen Sozialismus hatten entdecken können und Marx vor seinen selbst ernannten Duzfreunden verteidigten. Beides: Konvertitentum und Marx-Sekten sind das Abbild geistiger Blindheit, die 1989 nicht beginnt, sondern lediglich einen ihrer Höhepunkte hat. Das Defizit des theoretischen Nachvollzugs gesellschaftlichen Wandels beginnt viel früher: am Anfang des von vielen Linken sehr hartnäckig bestrittenen Verschwindens der bürgerlichen Gesellschaft. Die Epoche der bürgerlichen Gesellschaft ist historisch vergangen. Mit der englischen Revolution begann ihre Vorgeschichte in Mitteleuropa. Die eigentliche Phase der bürgerlichen Gesellschaft ist eingegrenzt durch die Französische Revolution von 1789 und durch den Beginn des Ersten Weltkrieges 1914. Eric Hobsbawm bezeichnet diese Zeitspanne als das long century, das Zeitalter des Liberalismus. Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft tauchte als inhaltliche Neuprägung zum ersten Mal in Hegels Rechtsphilosophie auf; er war vielschichtig von Anfang an. Für Marx umfaßte die bürgerliche Gesellschaft "den gesamten materiellen Verkehr der Individuen innerhalb einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte."[1] Konstitutiv für die bürgerliche Gesellschaft war der Übergang vom bloßen Handwerk und Handel zur industriellen Produktion zunächst vermöge der fortgeschrittenen Manufaktur, später durch Maschinen. Aber der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft ging nicht allein in seiner ökonomischen Bestimmung auf: die Struktur der Öffentlichkeit, der politische und kulturelle Bereich, wenn auch z.T. als Anhängsel der Zirkulationssphäre, sind genauso ihre Wesensmerkmale gewesen.[2] So ließe sich von bürgerlicher Gesellschaft nur im Zusammenhang einer von der Bourgeoisie beherrschten, d.h. dominierten Öffentlichkeit und Kultur sprechen.[3] Es war die Dynamik der kapitalistischen Produktion selbst sowie die geistige und praktische Auseinandersetzung mit ihren Widersprüchen, welche die bürgerliche Gesellschaft einmal in permanenter Bewegung hielten und sie zu keiner Zeit mit sich identisch werden ließen. Ihre Antagonismen konnte die bürgerliche Gesellschaft nicht aufheben, ohne dabei über sich selbst hinauszutreiben. Von einer bestimmten Entwicklungsstufe an verlor sich ihr spezifisch bürgerlicher Charakter, und die Gesellschaft ging allmählich in eine totalitäre Ordnung über. Die bürgerliche Gesellschaft ging ihrem Ende entgegen, der Kapitalismus aber blieb bestehen. Diese Entwicklung zeichnete sich bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert ab. Zu dieser Zeit war die Einführung der maschinellen Fabrikarbeit in fast allen europäischen Ländern abgeschlossen. In den neu entstandenen Industriezweigen der Stahl- und Chemieproduktion kam es zu einem horrenden Aufschwung in allen fortgeschrittenen Industrieländern der Welt. Aufgrund des Konkurrenzkampfes und beschleunigter naturwüchsiger Kapitalkonzentration bildeten sich in den einzelnen Zweigen der Wirtschaft Kartelle heraus, die dort die freie Konkurrenz einschränkten und die Preise der Produkte durch Absprachen willkürlich festlegen konnten. Die einzelnen Großkapitalisten und Cliquen aus den oberen Kommandoetagen der Wirtschaft erhielten dadurch einen direkten Einfluß auf den Staat, so daß eine Verquickung mit den politischen Führungsschichten und Militärs zu rackets sich unausweichlich herauskristallisierte. Die liberale Wirtschaftsordnung transformierte sich damit zunehmend in einen organisierten, autoritären Staatskapitalismus.[4] Der Staat hatte nicht mehr allein die Funktion, das politische System, Eigentum und die Regeln des Wirtschaftsverkehrs zu garantieren, sondern übernahm über diese Ordnungsfunktionen hinaus die Aufgabe der gesellschaftlichen Gestaltung. Der Einfluß des inzwischen stark organisierten Proletariates sollte in seine Schranken gewiesen werden. Hierzu wurden Militär- und Polizeigewalt, die Exekutivorgane des Staates, verstärkt und die individuellen Freiheiten der Einzelnen weiter eingeschränkt. Der Staat konnte aber nicht allein über seine Autorität die soziale Sicherheit gewährleisten, sondern mußte, wenn auch verhalten, Politik für die proletarischen Massen machen, um sie zu deckeln. Unter dem Druck der organisierten Arbeiterschaft wurden deshalb in Deutschland bereits unter Bismarck in den Jahren 1881 bis 1889 Krankenversorgungs- und Versicherungssysteme staatlich verordnet und Schutzgesetze gegen sozial Schwache eingeführt. Bismarck tat dies aber nicht aus Mitleid, sondern um der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben.[5] In etwa zeitgleich schränkten die Sozialistengesetze von 1878 bis 1890 die Versammlungs- und Pressefreiheit der organisierten Arbeiterschaft stark ein. Der Einfluß der proletarischen Volksmassen auf den Staat wurde nicht nur durch die Erweiterung der Exekutivorgane verringert, sondern ebenso durch eine Depotenzierung der Volksvertretung mittels einer Ausweitung des bürokratischen Apparates. Technokraten und Berufspolitiker begannen unter dem Druck der sogenannten ökonomischen und bürokratischen "Sachzwanglogik", die sich aus der Finanzknappheit des Staates aufgrund des unangetasteten Privateigentums logisch ergab, die Politik zu gestalten. Nationalismus und Rassismus erfüllten den ideologischen Zweck der Verschleierung der Klassengegensätze. Als in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts der Imperialismus zu seinem Höhepunkt gekommen war, begannen die kapitalistischen Industriestaaten sich gegenseitig ernsthaft zu bedrohen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhinderte kurzzeitig ein weiteres Erstarken des revolutionären Proletariates. Wilhelm II. wie auch andere Monarchen und Staatsmänner nutzten die Gunst der Stunde, "nationale Identitäten" über Klassen hinweg herzustellen, indem sie ein Wir-Gefühl durch die Bedrohung eines äußeren Feindes heraufbeschworen. Jeder Deutsche sollte sein Vaterland verteidigen, statt es im Klassenkampf zu schwächen. Wilhelm II. verkündete: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche". Die enthusiasmierte Arbeiterklasse aller am Krieg beteiligten Nationalstaaten zog gegeneinander in den Kampf, um das Eigentum und die Ehre ihrer nationalen Ausbeuter zu verteidigen. Trotzdem wurden die Klassenkämpfe dadurch nur kurzzeitig eingefroren. Zum Ende des Krieges brach 1917 in Rußland die Oktoberrevolution aus, die das Weltgefüge nachhaltig veränderte. Diese Revolution führte zu einer erhöhten Aktivität des revolutionären Proletariates auch in den anderen Ländern Europas. Die Völker hörten die Signale aus Rußland. Aus Angst vor dem Kommunismus einerseits und den Großkapitalisten andererseits radikalisierte sich das europäische Kleinbürgertum, weil es um den Verlust seines beschränkten Eigentums bangte. Es trieb somit auch politisch die totalitäre Gesellschaftsordnung voran, in der die bürgerliche Vernunft tendenziell ausgelöscht wurde. Hatte einmal dem aufsteigenden Bürgertum der Begriff der Nation zur Herstellung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes im Kampf gegen den Feudalismus gedient, so waren nunmehr die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Gänze hinter dem Begriff einer nationalen Volksgemeinschaft verblaßt, in der sich alle - selbst die untersten und ausgebeuteten sozialen Schichten - zum auserwählten Volk zählen durften. Der Rassismus erfüllte diese Funktion ebenso nach innen wie nach außen. Die Entstehung des Faschismus in Europa war das Zerfallsprodukt bürgerlicher Gesellschaft.[6] II.Der Versuch der Restauration bürgerlicher Gesellschaft nach den gescheiterten Revolutionen, nach dem Faschismus in Europa, nach Auschwitz erweckte den Anschein, als könne die Gesellschaftstheorie bedingungslos an Marxens Geist der Revolution anknüpfen.[7] Aber dem war nicht so. Es kam nunmehr darauf an, die Begriffe in den gewandelten Verhältnissen, die von der kritischen Theorie mit dem Terminus Spätkapitalismus benannt wurden, auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. "Mißt man die Marxschen Begriffe nicht an der Entwicklung des Kapitalismus und zieht man daraus nicht die entsprechenden Konsequenzen für die politische Praxis, so erstarrt die Marxsche Theorie zum mechanisch wiederholten 'Grundvokabular', zu einer versteinerten Rhetorik, die kaum noch Bezug zur Realität hat."[8] - Den Bezug zur Realität verliert die Theorie dann deshalb, weil die Realität sich verändert hat und viele der alten Begriffe klappern, wenn man sie bedingungslos auf die Gegenwart bezieht. Was klappert, kann keinem näher gebracht werden. Solche Begriffe erscheinen leblos und verstaubt und dienen allenfalls als Religionsersatz zur Sektenbildung. Die Abneigung gegen die Terminologie ist um so größer, je mehr die Menschen an die kulturindustriell geprägte Sprache der hegemonialen Öffentlichkeit gebunden sind und jene von dieser abweicht. Die Veränderung der Gestalt des Kapitalismus muß sich in den dialektischen Begriffen einer kritischen Theorie, mit denen die Wirklichkeit erfaßt wird, niederschlagen, oder die Theorie, die mit veralteten Begriffen hantiert, bleibt in einem Dogmatismus verfangen, der die veränderten Verhältnisse kaum auf den Begriff bringen und deshalb wenig emanzipatorischen Einfluß auf den weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Verhältnisse nehmen kann. Die veränderte Erscheinung des heutigen Kapitalismus gegenüber der des 19. Jahrhunderts ist nicht damit abzutun, daß es sich um eine bloß akzidentielle Veränderung handelt. Man muß schon ein sehr hohes Abstraktionsniveau aufrechterhalten, um die Substanzbestimmungen des Allgemeinen kapitalistischer Produktionsweise und bürgerlicher Gesellschaft als unumschränkt gültig auch für die gegenwärtige Gesellschaft zu behaupten. Solche Hypostasierung von abstrakta in der Wirklichkeit - das wußte bereits Hegel - zerstört die Wirklichkeit. Der Blick auf Gesellschaft ist dann zudem so allgemein, daß er kaum als wissenschaftlich bezeichnet werden kann: er plaudert zu Platitüden gewordene Wahrheiten aus und überläßt die differentia specifica dem Zufall, über den man keine weitere wissenschaftliche Aussage fällen kann als diese: daß im Zufall nichts Allgemeines steckt. Frühkapitalismus und Spätkapitalismus sind aber nicht bloß zwei Seiten derselben Medaille, und die Wahrheit der Kritik der politischen Ökonomie trifft auf beide gleichermaßen zu, sondern die unterschiedliche Benennung verweist auf zwei unterschiedene Vergesellschaftungsweisen, deren Differenz in der Konkretion größer ist als ihre abstrakte Gleichheit. Die politische Ökonomie ist heute viel weniger politisch als ökonomisch. Ihr Recht auf Geltung verschafft sich die Marxsche Philosophie dennoch zuweilen im Bewußtsein der Beherrschten, weil die Philosophie sich am Leben erhält, wie Adorno schreibt, da "der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward."[9] Aber Marx konnte noch von der "Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten"[10] schreiben. Das Bürgertum produzierte seine eigenen Totengräber: die ständig größer werdende Klasse des Proletariates, deren bloße Existenz bereits die Negation des Bestehenden darstellte, weil sie qua ihrer Stellung in den Produktionsverhältnissen kein objektives Interesse an der Aufrechterhaltung des Bestehenden entwickeln konnte und nichts zu verlieren hatte außer ihren Ketten. Das Proletariat war deshalb revolutionäres Subjekt in der Marxschen Theorie, das "mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses" die "Stunde des kapitalistischen Privateigentums" schlagen lasse.[11] Die Lohnabhängigen sind aber heute keineswegs mehr die Negation des Bestehenden. Die Disziplinierung der Einzelnen durch Institutionen ist zu einer bürokratischen Herrschaftstechnologie zur Aufrechterhaltung des status quo geworden, die eingesetzt wird, um soziale Kämpfe zugunsten der herrschenden Ordnung zu entscheiden. Durch diese Herrschaftstechnologie kam das zustande, was Marcuse als Verbürgerlichung der Arbeiterklasse bezeichnete.[12] Die Verbürgerlichung ging einher mit der Veränderung in der Gestalt der Ausbeutung, worin allemal der Grund dafür verborgen liegt, warum heute die Revolution nicht an der Tagesordnung steht. "Die Proletarier haben mehr zu verlieren als ihre Ketten. Ihr Lebensstandard hat sich gegen die englischen Zustände vor hundert Jahren, wie sie den Autoren des Manifests vor Augen standen, nicht verschlechtert sondern verbessert. Kürzere Arbeitszeit, bessere Nahrung, Wohnung und Kleidung, Schutz der Familienangehörigen und des eigenen Alters, durchschnittlich höhere Lebensdauer sind mit der Entwicklung der technischen Produktivkräfte den Arbeitern zugefallen."[13] Aber auch wenn es so erscheint, als wären die Proletarier zu Menschen geworden, kann die Philosophie nicht als anscheinend verwirklichte sich dem Dornröschenschlaf hingeben. III.Der Schein von Gleichheit und Freiheit ist ein korrumpierter, der nur deshalb so hartnäckig an der Oberfläche klebt, weil er sich in der hegemonialen Öffentlichkeit durch die Kulturindustrie als die ultima ratio ausgeben darf, ohne seine Infragestellung ernsthaft befürchten zu müssen. Die Gesellschaften Europas sind im Faschismus einem Transformationsprozeß ausgesetzt worden, durch den sie auch nach der Phase der unmittelbaren technisierten Barbarei in der Formation totalitärer Gesellschaftsordnungen geblieben sind. Die Entstehung der Kulturindustrie stellte den Nerv dieser Transformation dar.[14] Die kulturellen Unterschiede wurden eingeebnet. Im Spätkapitalismus werden die sozialen Atome mit konformistischer Gleichheit geschlagen.[15] Heute haben wir es mit der bürgerlichen Gesellschaft nur noch als ihrer Nekropolis zu tun. Die politische Sphäre, die von der Freiheit in der Notwendigkeit zehrte, ist depotenziert, und damit ist ein wesentliches Moment der bürgerlichen Gesellschaft, das sie mit zu der gemacht hatte, was sie nicht mehr ist, verschwunden. "Die Ideologie zieht sich aus dem Überbau zurück (wo sie durch ein System dreister Lügen und durch Unsinn ersetzt wird) und verkörpert sich in den Gütern und Dienstleistungen der Konsumgesellschaft, die das falsche Bild vom guten Leben aufrechterhalten."[16] Die Kultur der herrschenden Klasse, die einmal Hegemonie über die gesamte Gesellschaft beanspruchen konnte, ist in dem kulturindustriellen Prozeß in die Manigfaltigkeit von Lebensstilen transformiert, die nebeneinander gleichgültig bestehen und bürgerlichen Charakter nicht mehr aufweisen. Die Kulturindustrie hat die gesellschaftliche Totalität eingenommen und verdrängt die Ansätze kultureller Erzeugnisse Einzelner, wo sie ihr Aufkommen nicht behinderte, ins ungefährliche Abseits, in den Subraum, oder sie heimst sie sich ein, indem sie diese vermöge der industriellen Vermarktungsmechanismen ins Affirmative transformiert. - Ihre angehäufte Machtfülle und das verklärte Bedürfnis der Konsumenten geben ihr die Möglichkeit dazu. Die Gegenwart ist ein einziger Massenbetrug unter dem Diktat der Ökonomie, die nahezu ohne Rechtfertigungen auskommt. Die gegenwärtige Gesellschaft schillert nicht mehr; sie ist eindimensional geworden. "Inzwischen haben fast alle Organisationsformen, die der Emanzipation des Bürgertums dienten, ihren genuin politischen Charakter verloren und sind entweder zu geselligen Vereinen oder zu reinen Interessentenorganisationen herabgesunken."[17] Die vereinzelt Einzelnen bewegen sich in den institutionellen Ruinen der bürgerlichen Gesellschaft. Des Nichtidentischen: der Idee der Freiheit, hat sich die Gesellschaft weitgehend entledigt; an allen Orten wird den Menschen ihr nicht zu überbietendes Maß an Freiheit - das Ende der Geschichte - vorgegaukelt, ohne sich allgemein der Lächerlichkeit preiszugeben. Schließlich habe alles, was über Kapitalismus und bürgerliche Demokratie hinausging, damit auch seine Mangelhaftigkeit bewiesen. Weiterreichende alternative Gesellschaftsmodelle, die als Vergleich taugen könnten, sind weggefallen oder geschichtlich als untauglich denunziert. In der Folge gibt es weder ernst genommene Infragestellungen des Bestehenden und folglich auch keine ernstzunehmenden Apologien. Die Ideologie dieser Verhältnisse hat sich objektiv verändert. War das Verhältnis von Ideologie und Bürgerlichkeit konstitutiv für den Ideologiebegriff, so wandelte sich Funktion und Struktur der Ideologie selbst, als die Bürgerlichkeit entfiel.[18] Ideologiekritik findet kaum einen Gegenstand, an dem sie sich abarbeiten könnte; niemand der Herrschenden ist in die Bedrängnis versetzt, sich rechtfertigen und darüber Herrschaft verschleiern zu müssen. Das Bestehende ist affirmiert durch seine bloße und scheinbar alternativlose Existenz. - "Die Ideologie ist keine Hülle mehr, sondern nur das drohende Antlitz der Welt."[19] - Eine Welt, in der die Taten der ökonomisch Herrschenden sich weitgehend mit ihren geistigen Ansprüchen decken. Man muß ihnen nur zuhören: 150 Jahre nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifest von Marx und Engels feiert die liberal-bürgerlich-konservative Öffentlichkeit die Schrift als Meisterwerk, in der die Globalisierung von ihrem Beginn an schon auf den Begriff gebracht wurde, und vereinnahmt die Kritik der politischen Ökonomie für die Affirmation der als Globalisierung euphemisierten, imperialistischen Kapitalakkumulation.[20] In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist etwas von dem guten Gewissen der bürgerlichen Apologeten zu spüren, vom Gutmenschentum, wenn sich Richard Rorty zum Apostel aufschwingt und das Manifest in einem Atemzug mit der Bibel als Hauspostillen für junge Menschen empfiehlt, die daran ihre gesunde Moral erbauen können: "Eltern und Lehrer sollten junge Menschen dazu ermuntern, beide Bücher zu lesen. Es wird der moralischen Haltung der jungen Leute förderlich sein. Wir sollten unsere Kinder so erziehen, daß sie es unerträglich finden, wenn wir, die wir hinter unseren Schreibtischen sitzen und auf Tastaturen herumfingern, zehnmal mehr verdienen als die Menschen, die sich beim Reinigen unserer Toiletten die Finger schmutzig machen, und hundertmal mehr als jene, die in der Dritten Welt unsere Tastaturen zusammenbauen. Wir sollten dafür sorgen, daß es ihnen Sorge und Kummer bereitet, wenn die Länder, die sich zuerst industrialisiert haben, hundertmal reicher als jene sind, die noch nicht industrialisiert sind (...). Es ist heute so wahr wie 1848, daß die Reichen immer versuchen werden, reicher zu werden, indem sie die Armen ärmer machen (...)"[21] - In der Süddeutschen Zeitung wird das Kapital gar als Bibel des Kapitalismus verhandelt, als Anleitung oder Wegweiser für Wirtschaftswissenschaftler und Geschäftsleute, die ihr Glück im Dickicht des Marktes versuchen wollen.[22] Den Gipfel des Hohns liefert das Handelsblatt, das zunächst eine Passage aus dem Manifest zitiert, in der Marx und Engels den Heißhunger der Bourgeoisie nach mehr Akkumulation erwähnten, der die Kapitalisten über die ganze Erdkugel treibe und dazu veranlasse, sich überall einzunisten und die Verhältnisse zu modernisieren. Dann heißt es weiter im Kommentar des Wirtschaftsblattes: "Könnte das nicht der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans Olaf Henkel, in einer seiner Standortreden ähnlich gesagt haben, und zwar nicht als Prophezeiung, sondern als Abmahnung an die Adresse der Reaktionäre, die immer noch an der Tarifautonomie, am Sozialstaat, an der Nationalität eines Währungs-, Wirtschafts- und Steuersystems festhalten? Und wer wollte im Jahr 1998 der Feststellung von Marx aus dem Jahr 1848 widersprechen, daß es für die Wirtschaft ein Gesetz der Konzentration gibt, 'daß die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen' der Konkurrenz der Großunternehmen zum Opfer fallen? An die Stelle des industriellen Mittelstandes werde die große Industrie treten, beherrscht von den 'Chefs ganzer industrieller Armeen'."[23] Die Art, wie 150 Jahre nach Erscheinen des Kommunistischen Manifests an diese einst brisante Schrift erinnert wird, trägt Züge eines kollektiven, versöhnlich stimmenden Festes über alle Klassen hinweg. Als hätte es die Klassenkämpfe nie gegeben und als wäre das viele Blut niemals geflossen. Jetzt, wo der Spuk des Gespenstes in Europa vorbei ist, wird das Manifest ins deutsche und europäische Kulturerbe aufgenommen. Schließlich hat man keinen Umsturz mehr zu befürchten. IV.Ideologiekritik setzte einmal dort an, wo es eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit gab. Die Absence ideologischer Rechtfertigungen entbindet die Theorie allerdings nicht von der Kritik. Wenn der betrügerische Wahnsinn ohne Schleier, d.h. offen zu Tage tritt, muß er allerdings auch offen bekämpft werden. Die Kritik müßte deshalb praktischer werden. "Es ist (...) notwendig, prinzipiell zu argumentieren, einen positiven und offensiven Begriff der sozialistischen Demokratisierung zu entwickeln, der nicht nur den Verstand der Menschen, sondern auch ihre Gefühle, ihre Befreiungsphantasien, ihre unmittelbaren Interessen erreicht und so in allen Gesellschaftsbereichen als anschauliche Alternative zu den bestehenden Herrschaftsverhältnissen verstanden werden kann."[24] Wenn das Kapital eine Gegenmacht zu befürchten hätte, rückten seine Agenten mit ihren Absichten nicht frank und frei, sondern nur verschleiert heraus; es kann sich aber so frei bewegen wie lange nicht zuvor,[25] und seine Agenten verändern die Welt nach ihren unternehmerphilosophischen Interpretationen und korrigieren den Schöpfungsmythos nach ihrem Bilde: "Am sechsten Tage schuf Gott die Marktwirtschaft und am siebten Tage sah er, daß alles gut werden wird."[26] - Die Antwort auf die Frage des cui bono: wem aus der Angestelltenzivilisation[27] die ungehemmte Kapitalakkumulation über den unmittelbaren Vorteil eines ggf. besseren Gehaltes hinaus weitreichende Lebensqualität bringe, ist schlichter geworden; sie lautet: niemandem so richtig. Wie von einem Bumerang werden die charaktermaskierten Agenten des Kapitals von ihren ausgeübten Handlungen wieder eingeholt. - Die Kapitalakkumulation, im Systemzwang verhaftet, entzieht sich selbst ihre materielle Grundlage: die der lebendigen Arbeit und deren Lebensmöglichkeit; sie entfremdet alle Menschen, wenn auch in unterschiedlicher Qualität, je nachdem, an welchem Ort im Produktionsprozeß sie sich befinden. Eine "Form zweiter ursprünglicher Akkumulation" findet statt: "nicht mehr nur die Enteignung der Menschen von den objektiven Bedingungen der Realisierung ihrer Arbeitskraft, sondern die zusätzliche Enteignung ihrer Phantasie, ihrer Lebensmöglichkeiten und ihres Glücks in einem gesellschaftlichen Zustande, der alle objektiven Voraussetzungen für die Abschaffung von Mangel und Unterdrückung aufweist."[28] Davon sind sie alle betroffen. Nicht nur der hilflose Angestellte oder Arbeiter auf der untersten Ebene der Hierarchie, sondern selbst der Manager aus der obersten Etage der Wirtschaft muß sich vor seiner eigenen Instrumentalisierung und Wegrationalisierung existentiell bedroht fühlen.[29] Die Reduzierung der Arbeitszeit auf ein halbwegs erträgliches Maß und die Orientierung der Produktion am Massenkonsum hatten den Bereich der Freizeit aufkommen lassen. Gleichzeitig dürfte dadurch aus Sicht der herrschenden Klasse der zur Wirklichkeit gewordene Traum der Fabrik als ideale Disziplinarinstitution, vor der das Ideal des work-houses erblaßt war,[30] zunichte gemacht worden sein. Aber die Disziplinar- und Kontrollmechanismen wurden nunmehr auf die Freizeit ausgedehnt. Das begann bereits vor dem Faschismus in Europa mit der Entstehung der Kulturindustrie, die aber weniger auf Machinationen aus den hohen Kommandoetagen von Wirtschaft und Politik beruhte, als sie vielmehr aus dem naturwüchsigen Prozeß der Ökonomie selbst entsprang. In dem Konsumverhalten der Massen während ihrer Freizeit hatte sich ein neuer und äußerst erschwinglicher Markt eröffnet, der mit dem modernen Stand der Produktivkräfte industriell erfaßt wurde: der Markt des Amusements. Die industrielle Massenproduktion, die ohne Massenkonsum gar nicht möglich gewesen wäre, konnte aber nur aufgrund der Standardisierung der individuellen Bedürfnisse in Gang kommen.[31] Die Kulturindustrie mußte also imstande sein, die Bedürfnisse der Massen nicht nur zu erfassen, sondern auch gleichzuschalten.[32] Das erfolgte vermöge einer libidinösen Vermittlung der Waren, Dienstleistungen, Statussymbole etc. Und ebenso ließen sich auch die sozialen und politischen Bedürfnisse der als Konsumenten erfaßten Einzelnen steuern, indem man auch Normen, Tugenden, Moral und politische Ansichten libidinös vermitteln konnte. "Jeder Manipulation im Interesse bestimmter Unternehmen, politischer Richtungen und Interessen ist das allgemeine und objektive Ziel übergeordnet, den Einzelnen mit der Lebensform auszusöhnen, die ihm von der Gesellschaft aufgezwungen wird."[33] Das Resultat dieser repressiven Aussöhnung mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen war ein zugerichtetes menschliches Wesen, das seiner eigenen Unterdrückung nicht nur zustimmte, sondern in perverser Form sogar Gefallen daran fand. Durch die manipulativen Mechanismen der Kulturindustrie verblaßte das Ideal des idealen work-houses also ein zweites Mal: die gesamte Gesellschaft transformierte sich zu einer Art kollektivem Freiluftgefängnisses und übernahm die disziplinierende Funktion der Fabriken als deren Surrogat außerhalb der Arbeitszeit.[34] Im Faschismus wurde die Kulturindustrie schließlich zu einem nicht unwichtigen Bestandteil des Terrorapparates zur Ergänzung der Massenorganisationen. Sie stürzte sich auf die Freizeitorganisation der Massen. Die Absicht bestand in der ideologischen Beeinflussung der gesamten Gesellschaft durch Propaganda und Demagogie zur Schaffung einer bei Laune gehaltenen faschistischen Massenbasis, die rund um die Uhr beschäftigt wurde und der permanenten Kontrolle ausgesetzt war. Die Mittel standen bereit: Film, Radio, Reklame, Sport usw. Der Faschismus nahm in sämtlichen Institutionen, die er zu Massenorganisationen ausbaute oder als solche neu schuf, die bürgerliche Rationalität zurück und ersetzte sie durch das autoritäre Führerprinzip. Der Gehorsam wurde mit sichtbaren Mitteln erzeugt: Zwang, Zucht, Strafe, Denunziation. Die Disziplinierung erfolgte also über ein Angst erzeugendes Gewaltklima. Die bürokratisch aufgeblähten Institutionen ermöglichten vielen autoritären Charakteren als befehlende Befehlsempfänger sich auf der vermeintlich sicheren Seite zu wähnen, an der faschistischen Herrschaft zu partizipieren, und die Angst nach unten weiterzugeben. Wo aber der Faschismus mit Diktat und Holzhammer versagte, indem er langfristig keine Anerkennung für seine wahnwitzige Herrschaft fand, sondern einzig das namenlose Grauen verkörperte, geht die gewandelte Herrschaftsformation der postfaschistischen Ära subtiler vor. Sie bringt den Pluralismus hervor, der in Kombination mit der totalisierten Kulturindustrie effektiver funktioniert als jede Zensur. Wenn alles beliebig geworden zu sein scheint, wird es auch von den Menschen scheinbar als gleichgültig hingenommen. Die kritischen Inhalte gehen zugleich in der Fülle belangloser Daten und Informationen ohnehin unter. V.Aus sämtlichen Poren dieser Gesellschaft kommt die kulturindustriell erzeugte Marktmoral als Durchhalte- und Mitmachparole zum Vorschein.[35] Marx entlarvte einst die Ideale der Französischen Revolution als die Moral der Nationalökonomie.[36] Was dem citoyen einmal als emanzipative Ideale erschienen waren, entpuppte sich als der chiffrierte Wunsch des bourgeois nach einer demoralisierten und enthemmten Produktion. Die bürgerliche Moral verschleierte diesen Widerspruch; aber erst heute ist er richtig eingeebnet, und die Wahrheit tritt unverhohlen zu Tage. Es gibt den citoyen und seine Rechtfertigungen nicht mehr. Das Amusement als inhaltliches Diktat der Freizeit, das alle erfassen und jedem zugute kommen soll, erzeugt den schlechten Schein gelungener Gleichheit. Der klebrige Ringelpietz mit Anfassen in sämtlichen Variationen der Vergnügungsindustrie vom Benefizkonzert über Fasching bis hin zu Weihnachten meint die Brüderlichkeit. Die Freiheit spricht Visa und darf sich individuell genommen[37] werden; aber wie der Name und der dazugehörige Werbespot schon nahelegen, überwintert sie im Exil: auf der Flucht aus der Warenwelt (Urlaub) und selbst zur Ware verkommen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: die Ideale bürgerlicher Emanzipation haben im Spätkapitalismus endgültig ihre Ausformung zu Phrasen gefunden. Der Begriff der Freiheit meint selten noch mehr als die betriebswirtschaftliche Idee der individuellen Wirtschaftsweise und erfüllt ganz klar die Funktion des Eigentums. Marx schrieb, daß in der Klassengesellschaft persönliche Freiheit nur auf der Seite des Privateigentums existiert. Das Geld als allgemeines Tauschmittel verschafft den Zugang zu den Mitteln der persönlichen Befriedigung von Bedürfnissen, die in einer arbeitsteiligen Gesellschaft zunächst im Besitz anderer sind und schließlich mittels des Geldes getauscht werden. Die Unterdrückten müßten sich die Totalität der Produktivkräfte aneignen, um freie Menschen zu werden, denn aus den Produktivkräften erwachsen die Mittel zur Entfaltung ihrer persönlichen Freiheit. Freiheit als menschliche Praxis gefaßt, also als Befreiung, würde bedeuten: die Beschränktheit der persönlichen Freiheit aufzuheben, indem aufgrund der Einsicht in die gegenseitige Angewiesenheit aufeinander Gesellschaft bewußt organisiert wird. Erst dann kommt die Gesellschaft zu ihrem emphatischen Begriff.[38] Freiheit erfüllte nicht mehr die Funktion des Eigentums, sondern wäre die Befreiung vom Eigentum: Freiheit vom Egoismus des Gewerbes, statt Freiheit des Gewerbes; Emanzipation aller von der Klassengesellschaft überhaupt, statt Emanzipation des egoistischen Individuums von den feudalen Fesseln, wodurch einst Herrschaft nicht abgeschafft wurde, sondern lediglich einen Formwandel erfahren hatte.[39] In dieser Kritik von Marx kam der Geist der sozialen Revolution zum Ausdruck, der heute kaum noch lebendig ist. Der Gedanke an Befreiung wirft, wenn er nicht bloß utopistische Metaphysik sein soll, unmittelbar die Frage nach dem gesellschaftlichen Subjekt auf, das objektiv Träger der Befreiung sein könnte. Im Angesicht von Adornos grimmiger Scherzfrage: wo das Proletariat geblieben sei, muß es erlaubt sein, etwas verhalten zu schmunzeln.[40] Die subalterne Klasse existiert gegenwärtig nur an sich, d.h. sie existiert nur abstrakt, tritt nicht in Erscheinung. Statt Klassen- hat sie Alltagsbewußtsein. In den Köpfen jener Emanzipation haben sich die geistlosen Zustände ein Nest gebaut, die aus der Philosophie eine abstrakt bürokratische Unternehmensphilosophie machten und zu einer Sozialpartnerschaft[41] zwischen Unterdrückern und Unterdrückten einluden. In den einst proletarischen Herzen der Emanzipation sind die herzlosen Zustände des idiotischen und abstrakten Fachmenschentums eingekehrt. Angesichts dessen kann das Schmunzeln allerdings zu keinem Lachen werden. Der bestehende Zustand ist nicht komisch; er ist tragisch-komisch. Das Lachen wird einem im Halse stecken bleiben. Die gescheiterte und im Faschismus ertränkte Revolution in Europa hat einen absurden Zustand hinterlassen, eine absurde Zwischenwelt, in der alles weitergeht, ohne wirklich weiterzugehen. Geschichte tritt auf der Stelle und zwingt die Menschen in eine Warteschleife, in der es für jeden Einzelnen geboten scheint, immer genügend Gegengifte in der eigenen Hausapotheke zu haben, - auf Dauer können die vereinzelten Einzelnen aber nur zugrunde gehen, jedenfalls zerbrechen sie an der schlechten Wirklichkeit. Die Beschaffenheit der verbürgerlichten (proletarischen) Subjekte, macht einen fast gewillt zu sagen, daß die lebendige Arbeit als konstituierende Gegenmacht der Gesellschaft nicht mehr in Frage kommt. Die Individualität der vereinzelt Einzelnen ist unter dem Zwang der Ökonomie zur konformistischen Charaktermaske korrumpiert worden. Es triumphiert in jedem nicht nur das Allgemeine: Agenten des Tauschwert zu sein, sondern sie sind zudem wehrlos Gehorchende.[42] "Das Individuum überlebt sich selbst."[43] Leidenschaft, die bei Hegel noch als List der Vernunft Triebkraft für die gesellschaftliche Entwicklung war,[44] ist erst im maschinisierten Produktionsprozeß und schließlich vermittels der Kulturindustrie funktionslos geworden und fällt der Dekomposition des Individuums[45] zum Opfer. Die Menschen werden total verdinglicht.[46] "Wogegen sie nicht ankönnen, und was sie selber negiert, dazu werden sie selber."[47] Die verdinglichte Realität ist aufgrund ihrer hartnäckigen Trägheit und Schwerkraft parteilich auf der Seite der bestehenden Herrschaft, die davon profitiert, daß wirklich niemand mit dem Kopf durch die Wand rennen kann. Die geschlossene Gesellschaft gaukelt den Menschen vor, daß Klaustrophobie kein Grund für Unzufriedenheit, sondern nur allzu natürlich sei. Der Realität sich zu beugen bedeutet: Anpassung an ein je Vorgefundenes. Keineswegs aber muß es für immer so bleiben. Denn soziale Konflikte sind trotz systematischer Domestikationsversuche bis auf den heutigen Tag ein immer wiederkehrendes Phänomen. Der Klassenantagonismus produziert sie mit lässiger Regelmäßigkeit. Auch im Spätkapitalismus löst der produzierte Mangel an Befriedigung individueller Bedürfnisse im Menschen Ängste aus, die sich in Aggression umwandeln und nach außen gelenkt werden, so daß sie wiederum gesellschaftlich eingebunden werden können als Triebpotential für den Konkurrenzmechanismus.[48] Der Mangel an Befriedigung auf triebpsychologischer Ebene ist das Äquivalent zum ökonomisch erzeugten Mangel auf gesellschaftlicher Ebene, durch den Konkurrenz sich entfalten kann. Die Menschen werden auch heute noch ohne ihr eigenes Wissen zu destruktivem Verhalten in einem Maße veranlaßt, wie es zunächst im Normalfall der Gesellschaft scheinbar keinen allgemeinen Schaden zufügt. Das durch das komplexe System abstrakter Arbeit entfesselte egoistische Triebpotential wird im Gegenzug durch repressive Moral im Sinne des sozialen Zusammenhalts wieder zu fesseln und zu domestizieren versucht.[49] Die derzeitigen massiven, globalen Kapitalkonzentrationen haben allerdings so drastische Auswirkung auf die materiellen Lebensverhältnisse der Menschen, daß diese aus Angst vor ihrer Verelendung rebellieren könnten, weil sich der gesellschaftliche Reichtum in wenigen Händen konzentriert. Politische, ökonomische und soziale Konflikte könnten auch in den hoch-industrialisierten Gesellschaften trotz pessimistischer Bestandsaufnahme der Subjektivität zunehmen. Weltweit kann von einer verstärkten Flucht- und Migrationsbewegung gesprochen werden, die mit einer gehäuften Erscheinung von Kriegen und Bürgerkriegen verknüpft ist. Der Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse nimmt zu und wird drückender, auch ohne daß sich das Bewußtsein davon durch Kritik schärft, damit die Rebellion gegen die Entfremdung sich organisiere. "Aus der Geschichte wissen wir, daß immer dort, wo die alten Herrschaftssysteme ausgehöhlt oder vom Zusammenbruch gezeichnet sind (durch Krieg, ökonomische Zerrüttung, Terrorisierung der Bevölkerung), wo also die Ausgebeuteten, die Mühseligen und Beladenen gemeinsam mit den Beleidigten und Entwürdigten ihrer Empörung in kollektivem Aufstand politischen Ausdruck geben, Formen der Selbstorganisation des Lebenszusammenhangs entstehen, die sich den Kompromißtaktiken verweigern und sich quer zum hierarchischen Gesellschafts- und Staatsaufbau stellen."[50] Nicht immer aber hatten kollektive Aufstände in der Geschichte einen politischen Ausdruck angenommen. Leider waren sie viel zu oft vom Ressentiment durchtränkt. Es gibt - auch das lehrt die Geschichte - keine Garantie für aufgeklärte Revolten; noch die emanzipative Unbotmäßigkeit nimmt etwas von der ansozialisierten Botmäßigkeit des herrschenden Unwesens in sich auf. Je weniger Wissen über den Druck der Verhältnisse die Beherrschten haben, desto häufiger gilt: "Die Unfreien erstreben die Freiheit, wie der bestehende Zustand sie definiert."[51] Aus diesem Grund drohen selbst progressive politische Gruppierungen oder emanzipative Bewegungen unterdrückter Minderheiten affirmativ zu werden, sobald sie sich die Praxis ihrer Politik durch die Regeln der Herrschenden diktieren lassen.[52] - Sie haben aber vielmehr, wie Marcuse deutlich macht, in jeder repressiven Gesellschaft ein 'Naturrecht' auf Widerstand und brauchen sich gegenüber der gesetzgebenden Autorität zu Gehorsam und Disziplin nicht verpflichtet fühlen, solange die Gesetze als unzulänglich sich erwiesen haben.[53] VI.Im Prozeß der Disziplinierung und Verdinglichung zeichnen sich Grenzen ab. Aufgrund des beschleunigten Wandels gesellschaftlicher Verhältnisse gelingt die Anpassung ans Bestehende immer weniger substanziell.[54] Der Charakter wird inkonsistent auch deshalb, weil durch die zunehmende und beschleunigte Verringerung der materiellen Basis die alte Arbeitsgesellschaft erodiert.[55] Das ursprüngliche Vergesellschaftungsprinzip geht verloren, weil die Arbeitsgesellschaft sich von der Wirklichkeit verabschiedet. Die totalisierte Kulturindustrie hat die Funktion der Integration und des Zusammenhalts bereits übernommen. Sie ist die Antwort auf die Erosion und ein Bestandteil dieser. Zu einem großen Teil fungiert sie als Anpassungsmechanismus, der das alte Vergesellschaftungsprinzip der Arbeitsgesellschaft ergänzt, aber nicht ersetzen kann. Schon im antiken Rom hieß die Devise: Brot und Spiele. Geht die Arbeit aus, nützt auch das organisierte Amusement nicht mehr. Ein ausgeklügelter autoritärer Kontrollapparat könnte deshalb in Wechselwirkung mit der Kulturindustrie wieder zum Vorschein kommen, der die massenhaft betrogenen Einzelnen in Schach zu halten und ihre Wut propagandistisch in Haß gegen vermeintliche Staats- oder Volksfeinde umzulenken versucht, damit sie sich nicht vom gesellschaftlichen Reichtum holen, was sie zum Leben benötigen. Die zunehmende Marginalisierung der lebendigen Arbeit beschleunigt die reale Subsumtion der Gesellschaft unter den kontrollierenden autoritären Staat, der seine Polizeigewalt nicht unnötig in der Öffentlichkeit marschieren läßt, solange es nicht allen Grund dafür gibt. "Die Polizeigewalt stellt, auch wenn sie im Schatten verbleibt und nur in letzter Instanz zum Einsatz kommt, jene Stütze dar, die die Ordnung des postmodern-liberalen Staats garantiert."[56] Noch kann der Staat ohne massive Polizeigewalt seine Richtlinien allgemein durchsetzen. Lediglich gegenüber den drop outs ist bisher wieder eine deutliche Zunahme der Gewalt erkennbar. Schon jetzt verhält sich der Staat auch unter sozialdemokratischer Führung diesen gegenüber, deren Zahl rapide angestiegen ist, zunehmend repressiv. Sie werden als Herumlungernde und Obdachlose nicht nur aus den Innenstädten von privaten Sicherheitsdiensten unter staatlicher Duldung vertrieben, weil sie dem Bild einer wohlhabenden Bürgerstadt widersprechen und die Einkaufslaune der zahlungskräftigen Kunden angeblich empfindlich stören, die Erwerbslosen und Sozialhilfeempfänger sind auch von autoritären Gesetzesverschärfungen betroffen: ihnen wird mit aller Härte zugemutet, Arbeiten zu absoluten Niedriglöhnen anzunehmen.[57] Der Versuch der Reintegration in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt stößt nur auf halbherzige Bemühungen von staatlicher Seite, weil schließlich dieser am ehesten weiß, daß die Arbeitslosigkeit auch in Zukunft stetig wachsen wird aufgrund des notwendigen Einsatzes der jeweils modernsten Produktionsmittel - dafür wird der Konkurrenzmechanismus schon sorgen.[58] Die Ausweitung des Sektors, in dem absolute Niedriglöhne bezahlt werden, läßt das aus den USA bekannte Phänomen der working poor längst auch in Europa entstehen. Der autoritäre Staat befördert auf der einen Seite durch seine Gesetzgebung die weitere Verschlechterung der materiellen Lage der drop outs, auf der anderen Seite greift er auf autoritäre Disziplinarmechanismen zurück, indem er sie mit Gewalt zu drop ins eines Zwangsarbeitertums unter unmenschlichen Bedingungen macht, wo sie weiterhin am Rande der Existenzsicherung ums blanke Überleben kämpfen müssen. Wenn schließlich behauptet würde, man hätte auf diese Weise Millionen neuer Arbeitsplätze geschaffen, so handelte es sich um einen kolossalen und zynischen Betrug der Massen. Das Problem der Arbeitslosigkeit wäre nicht gelöst, sondern verschleiert. Der Verzicht auf die demokratische Legitimation der Herrschaft, der in dem Ausbau der Mechanismen zur Manipulation der öffentlichen Meinung bereits angelegt war, ist ebenso schon als eine Autoritarisierung der Gesellschaft im Spätkapitalismus zu begreifen. Die konsequente Verwirklichung der Rede vom schlanken, neoliberalen Staat führt schließlich in die bloße Konfrontation von Staat und Individuum und beendet ihre gegenseitige Durchdringung. Einzige Aufgabe des Staates läge noch in der Aufrechterhaltung des Gewaltmonopols zum Schutz des Privateigentums und zum reinen Machterhalt. "Wirtschaftsliberalismus und autoritärer Staat schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander."[59]. Die Rebarbarisierung in der Politik der Herrschenden geht auch mit einer Faschisierung des Alltagsbewußtseins der Einzelnen einher. "Ein wachsender Militarismus nach außen wie nach innen und die zunehmende Hinwendung zu einer Politik der gesellschaftlichen Panik, der Angst und des Rassismus verweisen darauf, daß der Staat einige faschistische Elemente ausbildet, mit der Tendenz zum Polizeistaat: Die Entwicklung vom Rechtsstaat zum Polizeistaat wurde immer durch Angst, Haß und Rassismus vorangetrieben."[60] - Noch wird nach eingeschliffener Art das Leben der vereinzelten Einzelnen bürokratisch verwaltet und auf diese Weise kontrolliert. Der unsichtbare Disziplinarmechanismus aber: die dünnen Fäden, an denen der Arbeiter gefesselt wurde, beginnen sich zu lösen, und der stumme Zwang könnte sehr bald wieder das Schreien lernen, das Schwingen der Peitsche. Vor die Alternative gestellt sind die Menschen, entweder endlich den Akt der gesellschaftlichen Befreiung zu vollziehen oder - und das ist zu befürchten - wieder einmal in einen neuen Zustand der Barbarei einzutreten, in der sich der Spätkapitalismus schleichend faschisiert und dann schocktherapeutisch zu modernisieren beginnt. Soziale Konflikte, die trotz der aufgeblähten, staatlichen Gewaltapparate Polizei und Militär die Herrschaft über die Gesellschaft ins Wanken zu bringen vermögen, werden insgesamt erst aufhören, wenn die Menschheit in einen klassen- und konkurrenzlosen Zustand, in dem jeder Mensch Zugang zu einem menschenwürdigen Leben erhält, übergegangen ist. Dieser Zustand wird seine eigene Ordnung haben: eine Ordnung, die ohne Gewalt ihre eigenen und deshalb erst wahren Prinzipien finden wird. In dieser befreiten Gesellschaft ist die Disziplin aufgehoben, oder die Gesellschaft ist nicht wirklich frei. Es gibt aber keine Garantie dafür, daß eine mögliche Revolte gegen den kapitalistischen Wahnsinn emanzipativen, d.h. sozialrevolutionären Charakter mit Notwendigkeit annimmt. Sie könnte genauso auch Revolte des Ressentiments werden. - Mit immanenter Kritik sollte, solange dies möglich ist, das eine begünstigt und dem anderen entgegen gesteuert werden. Am Programm der immanenten Kritik ist solange festzuhalten, bis sie selbst von ihrem total verdinglichten Gegenstand, wie Adorno sagt, "in den Abgrund gerissen [wird]."[61] Der Gegenstand der Kritik, der zu so etwas die Kraft besäße, hätte keinen ideologischen Gehalt mehr in sich - und wenn doch, nur den aller abstraktesten eines gegenüber dem Inhalt gleichgültigen bloßen Platzhalters, der den emanzipatorischen Gedanken verhindern soll. Wenn das so geworden ist, wäre zu hoffen, daß das total verdinglichte Bewußtsein endlich den Wald vor lauter Bäumen sieht und auch ohne dialektische Kritik imstande sein wird, "der Verdinglichung aus eigenem sich zu entwinden."[62] Solange aber diese Verdinglichung nur annähernd eine hermetische Totalität darstellt und noch eine Tendenz erkennen läßt, in der Geistiges mit eigenem Anspruch - in welcher Gestalt auch immer - auftritt und die Verhältnisse rechtfertigend verschleiert, kann die Kritik an dem ideologischen Gehalt dessen sich festbeißen. Daß eine Sozialrevolution bisher nicht glückte, erhält kritische Gesellschaftstheorie am Leben. Aber für sich alleine ist die Theorie nicht imstande, das schlechte Ganze aufzuheben. Es ist nicht wahr, daß der Weltgeist zu seiner Verwirklichung stets auf ein reifes Publikum treffe. Allemal gilt, was Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung geschrieben haben: "Von der Unreife der Beherrschten lebt die Überreife der Gesellschaft."[63] Fußnoten:[1] Karl Marx, Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer, und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten (1845/46), in: MEW Bd. 3, Berlin 1958, S. 36. [2] Vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/ Wien 1995, S 21.: "Diese Zivilisation war kapitalistisch in ihrem wirtschaftlichen Aufbau, liberal in ihrem rechtlichen und konstitutionellen Strukturen, bürgerlich in der Erscheinungsform ihrer charakteristischen tonangebenden oder herrschenden Klasse, stolz in ihrem Glauben an Wissenschaft, Ausbildung, Erziehung und den materiellen wie moralischen Fortschritt, und fundamental von Europa als Zentrum überzeugt - als der Geburtsstätte von Revolutionen und Wissenschaften, Künsten, politischen und industriellen Entwicklungen.". [3] Vgl. Herbert Marcuse: Konterrevolution und Revolte (1972), Frankfurt a.M. 1973, S. 99ff. [4] "Die Bourgeoisie selbst ist dezimiert, die Mehrzahl der Bürger hat ihre Selbständigkeit verloren; soweit sie nicht ins Proletariat oder vielmehr in die Masse der Arbeitslosen hinabgestoßen sind, gerieten sie in Abhängigkeit von den großen Konzernen oder vom Staat. Das Dorado der bürgerlichen Existenzen, die Sphäre der Zirkulation, wird liquidiert. Ihr Werk wird teils von den Trusts verrichtet, die ohne Hilfe der Banken sich selbst finanzieren, den Zwischenhandel ausschalten und die Generalversammlung in Zucht nehmen. Teils wird das Geschäft vom Staat besorgt. Als caput mortuum des Verwandlungsprozesses der Bourgeoisie ist die oberste industrielle und staatliche Bürokratie übrig geblieben." - Max Horkheimer: Autoritärer Staat (1940/42), in: GS Bd. 5, Frankfurt a.M. 1987, S. 293. [5] Vgl. Wolfgang J. Mommsen: "Der Staat kann die Sache in die Hand nehmen", in: FR, 30. 07 1998, S. 16. [6] Vgl. Detlev Claussen: Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus (1987), Frankfurt a.M. 1994, S. 64. [7] Vgl. Claussen, a.a.O., S. 76. [8] Marcuse, a.a.O., S. 44. [9] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (1966), Frankfurt a.M. 1975, S. 15. [10] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung (1844), in: MEW Bd. 1, Berlin 1956, S. 390. [11] Vgl. Marcuse, a.a.O., S. 49. [12] "Die Verbürgerlichung muß als objektives Klassenphänomen gesehen werden: nicht als mangelnder Revolutionswillen der Sozialdemokraten oder als ihr bürgerliches Bewußtsein, sondern als die ökonomische und politische Einordnung eines großen Teils der Arbeiterklasse in das System des Kapitals, als eine Veränderung in der Gestalt der Ausbeutung." - Herbert Marcuse: 33 Thesen, in: Feindanalysen, hrsg. von Peter-Erwin Jansen mit einem Vorwort von Detlev Claussen, Lüneburg 1998, 11. These, S. 133. [13] Th.W. Adorno: Reflexionen zur Klassentheorie (1942), in: Soziologische Schriften I, Frankfurt a.M. 1979, S. 384. [14] Vgl. Claussen, a.a.O., S. 73. [15] "Die Kulturindustrie, die aus der Zirkulationsphäre entstand, totalisiert sich und enteignet das individuelle Bewußtsein. Dadurch werden in ihr die Charaktermasken produziert, die sich auch von traditioneller Ideologie im Sinne notwendig falschen Bewußtseins unterscheiden." - Claussen, a.a.O., S. 74. [16] Marcuse: Konterrevolution und Revolte, a.a.O., S. 102. [17] Oskar Negt: Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie, in: Keine Demokratie ohne Sozialismus - Über den Zusammenhang von Politik, Geschichte und Moral, Frankfurt a.M. 1976, S. 469. [18] Vgl. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre, in: Soziologische Schriften I, a.a.O., S. 465. - "Denn Ideologie ist Rechtfertigung. Sie erheischt ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustandes, den es zu verteidigen gilt, wie andererseits die Idee der Gerechtigkeit selbst, ohne die eine solche apologetische Notwendigkeit nicht bestünde, und die ihr Modell am Tausch von Vergleichbarem hat." - Ebd. [19] Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre, a.a.O., S. 477. [20] "Der Text auf 30 Druckseiten sagte korrekt den Konzentrationsprozeß in der Wirtschaft voraus, auf Kosten der 'bisherigen kleinen Mittelstände', 'kleinen Industriellen', 'Handwerker und Bauern'. Mit dem Donnerhall alttestamentlicher Propheten kündigte er vor 150 Jahren die Globalisierung an." (Fritjof Meyer: "Marx, ganz modern", in: Der Spiegel, 16. 03. 1998, Nr. 12, S. 198) - "Nie wurde die kapitalistische Globalisierung, kaum daß sie begonnen hatte, grandioser besungen als im Februar 1848." (Mathias Greffrath: "Das Gespenst geht wieder um. Vor 150 Jahren schrieben Marx und Engels das 'Kommunistische Manifest'. Globalisierung und Arbeitslosigkeit geben ihm neue Aktualität", in: Die Zeit, 05. 02. 1998, Nr. 7, S. 47.) - Die Verwendung des Wortes "besungen", als handelte es sich beim Manifest um ein Lied, das hauptsächlich unter literaturästhetischen Gesichtspunkten betrachtet werden könne, schiebt formale Aspekte in den Vordergrund und depotenziert den gesamten Inhalt gegenüber dem Stil, damit wird auch die politische Bedeutung verdrängt, obwohl ihr gehuldigt wird. [21] Richard Rorty: "Endlich sieht man Freudenthal. Endlich, endlich kommt einmal - Wiedergelesen: Vor hundertfünfzig Jahren erschien das 'Kommunistische Manifest", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 02. 1998, Nr. 43, S. 40. [22] "Zumindest das Kapital ist, wie mittlerweile sogar Wirtschaftswissenschaftler begreifen, kein Programm zur Abschaffung, sondern im Gegenteil eine Art Bibel des Kapitalismus, mit einem hohen Anteil von prophetischen Büchern, in denen die Entwicklung von Welt und Wirtschaft beängstigend genau vorherberechnet wird, inklusive Globalismus und Geldhandelsirrsinn. Wobei Irrsinn bloß so ein journalistischer Ausrutscher ist; Marx selber, kühl bis ans Herz, behauptete, das müsse so sein. Und setzt nicht einmal das Wörtchen 'leider' hinzu, jedenfalls nicht im Kapital. Gar nicht so dumm im analytischen Teil liest sich auch das Kommunistische Manifest. Wenn bloß dieser merkwürdige Schlußsatz nicht wäre: 'Proletarier aller Länder, vereinigt euch!' Ja, wozu denn, um Himmels willen? - Rainer Stephan: "Marx und Engels: Zwei deutsche Idealisten", in: Süddeutsche Zeitung, 03. 03. 1998, Nr. 51, S.15. [23] Hans Mundorf: "Der Globalismus ist eine Erfindung von Karl Marx und Friedrich Engels", in: Handelsblatt, 25. 02. 1998, Nr. 39, S. 8. [24] Negt: Keine Demokratie ohne Sozialismus (...), a.a.O., S. 462. [25] Negt wird nicht müde, immer wieder zu erwähnen, daß der Kapitalismus gegenwärtig zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt so funktioniere wie Marx es in seiner Kritik der politischen Ökonomie idealtypisch analysiert hat: ohne Beißhemmungen. - "Das absolut Neue besteht darin, daß die Kapital- und Marktlogik von nahezu allen Barrieren, Kontrollen, Widerständen, Gegenmachtpositionen befreit ist. Die Erosion dieser kollektiven Widerstandspotentiale, ob sie nun den Staat betreffen, die sozialen Sicherungssysteme, die Kampfbereitschaft von Organisationen der Arbeiterbewegung, ist zu einem zentralen Problem nicht nur der demokratischen Organisationsformen unserer Gesellschaft geworden, sondern sogar ihres solidarischen Zusammenhalts." - Oskar Negt: "Ironie der Geschichte oder: Der Kaiser ist nackt. Über alte und neue Kleider, den Kapitalismus, die Globalisierung und die Notwendigkeit der Solidarität", in: FR, 04. 06. 1998, S. 7. [26] Michael Buckmiller: Vom gesellschaftlichen Nutzen der Kritik. Oder: Wer steuert die neue Elitenbildung, in: Vom Nutzen der Kritik - Perspektiven der Studierenden und ihrer Proteste, hrsg.v. Susanne Schmidt und Marcus Hawel, Hannover 1998, S. 92. [27] Max Horkheimer, Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a.M. 1969, S. 162. [28] Negt: Keine Demokratie ohne Sozialismus (...), a.a.O., S. 472. [29] Vgl. Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S. 45. [30] Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867), Bd. 1, MEW Bd. 23, Berlin 1969, S. 293. [31] Vgl. Herbert Marcuse: Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft, In: H. Marcuse, A. Rapoport, K. Horn u.a.: Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft, Frankfurt a.M. 1968, S. 13. [32] "Je fester die Positionen der Kulturindustrie werden, um so summarischer kann sie mit dem Bedürfnis der Konsumenten verfahren, es produzieren, steuern, disziplinieren, selbst das Amusement einziehen: dem kulturellen Fortschritt sind da keine Schranken gesetzt." - Horkheimer, Adorno, a.a.O., S. 152. [33] Marcuse, a.a.O., S. 13. [34] "Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozeß ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblaßter Vordergrund; was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen. Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amusement." - Horkheimer, Adorno, a.a.O., S. 145. [35] "Wie freilich die Beherrschten die Moral, die ihnen von den Herrschenden kam, stets ernster nahmen als diese selbst, verfallen heute die betrogenen Massen mehr noch als die Erfolgreichen dem Mythos des Erfolgs. Sie haben ihre Wünsche. Unbeirrbar bestehen sie auf der Ideologie, durch die man sie versklavt." - Horkheimer, Adorno, a.a.O., S. 142. [36] "Die Nationalökonomie drückt nur in ihrer Weise die moralischen Gesetze aus." - Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW Ergänzungsband I, Berlin 1968, S. 551. [37] Die Äquivokation des Verbes sich etwas nehmen, läßt in diesem Kontext den Angesprochenen nicht zufällig im unklaren, ob ihm die Freiheit durch Visa nun zukommt oder verloren geht. [38] "Erst in der Gemeinschaft mit Andern hat jedes Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich." - Marx, Engels: Die Deutsche Ideologie, a.a.O., S. 74. [39] Vgl. Marx: Zur Judenfrage, in: MEW Bd. 1, Berlin 1956, S. 369. [40] Vgl. Th.W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 1951, Aph. 124: Vexierbild. [41] Es ist kein Witz, wenn die Frankfurter Rundschau berichtet, daß in den Niederlanden am 17. März 1999 Empfänger staatlicher Unterstützungen aus Amsterdam in die Villengemeinde Bloemendaal gereist sind, um reichen Steuerzahlern mit Kuchen, Blumen und selbstgefertigten Gedichten und Bildern zu danken. - Vgl. "Sozialpartnerschaft", in Frankfurter Rundschau, 18. März 1999, S. 1. [42] Vgl. Adorno: Negative Dialektik, a.a.O., S. 306f. [43] Adorno, a.a.O., S. 337. [44] Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1830/31), Werke Bd. 12, Frankfurt a.M. 1970, a.a.O., S. 49. [45] Adorno, a.a.O., S. 336. [46] Negri und Hardt sprechen im Zusammenhang der Maschinisierung der Arbeit von der Produktion des Cyborgs, einer modernen Form von Subjektivität: corps sans organes sind Menschen ohne Eigenschaften: "Die Maschine ist integraler Bestandteil des Subjekts, nicht als Anhängsel, als eine Art Prothese, als eine unter vielen Eigenschaften; das Subjekt ist vielmehr Mensch und Maschine seinem Wesen, seiner Natur nach." (Antonio Negri, Michael Hardt: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne (1994), Berlin 1997, S. 19.) - Horkheimer und Adorno sprachen von der Lurchwerdung des Menschen. (Vgl. Horkheimer, Adorno, a.a.O., S. 43.) - Die Metapher vom Cyborg erscheint allerdings treffender und korrespondiert ebenso mit dem, was Horkheimer und Adorno über das durch die Maschine verdinglichte Denken aussagten: "Denken verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablaufenden, automatischen Prozeß, der Maschine nacheifernd, die er selber hervorbringt, damit sie ihn schließlich ersetzen kann." (Horkheimer, Adorno, a.a.O., S. 31.) - Während Negri, Hardt allerdings im Cyborg ebenso die "subjektiven Formen der Voraussetzung des Kommunismus in der Gegenwart" (Negri, Hardt, a.a.O., S. 19, vgl. auch ebd., S. 143) erkennen wollen, erscheint es der nüchternen Wahrheit näher, von einer an dieser Stelle beginnenden Aporie der Verdinglichung als dem Ausdruck der Zerstörung von Subjektivität zu sprechen. Gleichwohl ist es ebenso wichtig, auch die positive Seite dieses Vorgangs mitzudenken. Marcuse merkte zu Recht an, daß das Gespenst der Automation "bei Licht gesehen (...) das Gespenst einer möglichen Humanisierung der Arbeit" sein kann, wenn der Mensch dadurch nicht mehr "als Arbeitsinstrument zu funktionieren braucht". - Marcuse: Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft, a.a.O., S. 22. [47] Adorno, a.a.O., S. 337. [48] "Destruktive Energie verwandelt sich in sozial nützliche Energie, und die aggressiven Impulse nähren den Fortschritt: wirtschaftlichen, politischen, und technischen Fortschritt." - Marcuse, a.a.O., S. 16. [49] "Diesselben 'egoistischen Triebe' (Horkheimer), die ökonomisch entfesselt werden, müssen kulturstaatlich gefesselt, unbewußt gemacht werden; das heißt aber: der soziale Zusammenhalt kann unter Verhältnissen der modernen patriarchalen Klassengesellschaft nur auf dem Wege der gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit gewährleistet werden." - Wolfram Stender: Kritik und Vernunft. Studien zu Horkheimer, Habermas und Freud, Lüneburg 1996, S. 61. [50] Negt: Keine Demokratie ohne Sozialismus (...), a.a.O., S. 463. [51] Hermann Schweppenhäuser: Zur Dialektik der Emanzipation, in: Ders.: Vergegenwärtigungen zur Unzeit? Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Lüneburg 1986, S. 19. [52] Vgl. Herbert Marcuse: Repressive Toleranz, in: R.W. Wolff, B. Moore, H. Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a.M. 1965, S. 95. [53] Vgl. Marcuse, a.a.O., S. 127. [54] "Mit der Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung können (...) die Änderungen der menschlichen Reaktionsweisen, die unmittelbar durch die Wirtschaft bedingt sind, das heißt die unmittelbar aus dem wirtschaftlichen Leben sich ergebenden Gewohnheiten, Moden, moralischen und ästhetischen Vorstellungen so rasch wechseln, daß ihnen gar keine Zeit mehr bleibt, sich zu verfestigen und richtige Eigenschaften der Menschen zu werden." (Max Horkheimer: Geschichte und Psychologie (1932), in: GS Bd. 3, Frankfurt a.M. 1988, S. 68) - Horkheimer war der Auffassung, daß in einem solchen Fall "die relativ konstanten Momente in der psychischen Struktur an Gewicht" (ebd.) gewinnen. Mir erscheint es jedoch für wahrscheinlicher, daß in einem solchen Fall ein inkonsistenter Charakter ansozialisiert wird, der mehr durch die Bewegung des Veränderns als von dem sich verändernden Material geprägt ist. [55] "Im System der freien Marktwirtschaft, das die Menschen zu arbeitssparenden Erfindungen und schließlich zur mathematischen Weltformel gebracht hat, sind seine spezifischen Erzeugnisse, die Maschinen, Destruktionsmittel nicht bloß im wörtlichen Sinn geworden: sie haben anstatt der Arbeit die Arbeiter überflüssig gemacht." (Max Horkheimer: Autoritärer Staat, a.a.O., S. 293) - Die lebendige Arbeit bleibt aber auch im Spätkapitalismus die Grundlage für die Mehrwertproduktion; ganz kann auf sie nicht verzichtet werden. [56] Negri, Hardt, a.a.O., S. 95. [57] Vgl. Christa Sonnenfeld: "Der Zwang zu gering bezahlter Arbeit ist Programm", FR, 12. 02. 1999. [58] "In Deutschland könnten von den insgesamt ca. 33 Millionen Arbeitsplätzen 9 Millionen wegfallen, wenn schon überall dort, wo es möglich ist, die modernsten Produktionsverfahren Anwendung fänden. Die Arbeitslosigkeit würde dann insgesamt auf 38% ansteigen." - Buckmiller: Vom gesellschaftlichen Nutzen der Kritik, in: Schmidt, Hawel (Hg.), a.a.O., S. 97f., Fußn. 6. - Vgl. H. Henzler, L. Späth: Sind die Deutschen noch zu retten, München 1993, hrsg.v. W. Fricke: Jahrbuch Arbeit und Technik 1996: Zukunft der Industriegesellschaft, Bonn 1996. [59] Oskar Negt: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimension des Kampfes um die Arbeitszeit, Frankfurt a.M., New York 1984, S. 87. - Wie wichtig das Funktionieren eines staatlichen Gewaltmonopols für die Erzeugung oder Aufrechterhaltung geordneter Tauschbeziehungen ist, wird erst dann richtig deutlich, wenn man sich die Folgen eines allgemeinen Verstoßes gegen die "Verkehrsregeln" vor Augen führt. - Im Oktober 1998 konnte man in der Tageszeitung nachlesen, daß ein Unternehmen aus dem Raum Hannover (Gelsenkirchen) einen Familienvater aus Litauen damit beauftragte eine Bombe an der Hauswand einer Firma namens "Reifen-Center" zu hinterlegen. Das geschah bereits im Februar 1995. Absicht dieser nach bürgerlichem Recht illegalen Handlung war der Versuch einer Drohung. Die Firma "Reifen-Center" sollte es sich noch einmal gut überlegen, ob sie in Gelsenkirchen eine Zweigstelle errichten wolle. Leider hatte die Fernsteuerung des Zünders versagt. Der Bombenleger, der für den kargen Lohn von DM 2000,- und für künftiges kostenloses Beziehen von Altreifen sich gefunden hatte, wurde dabei in Stücke gerissen. Der harte Konkurrenzkampf in der Reifenbranche ging indes weiter. (Vgl. "Händler gesteht Attentat", HAZ, 13. 10. 1998) - Einzelne Verstöße dieser Art gegen das Gewaltmonopol bieten Stoff für Anekdoten, allgemeine Verstöße dagegen würden ins reine Chaos und zurück in den Krieg aller gegen alle führen. [60] Negri, Hardt, a.a.O., S. 100. [61] Th.W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft (1949), In: Prismen, Frankfurt a.M. 1976, S. 25. [62] Adorno, a.a.O., S. 26. [63] Horkheimer, Adorno, a.a.O.,
S. 43. Kontext:
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