Den Aufsatz kommentieren Kritische Intellektualität heuteEin Plädoyer für die Abkehr von überlebten Bildungsverständnissenvon Marcus Hawel und Stefan KalmringEine Zeit besonderer HerausforderungenMittlerweile gibt es ganze Fachbereiche, die ohne eine kritische Gegenstimme auskommen müssen. Unter diesem Mangel leidet die gesamte politische Linke in Deutschland... Bürgerliche Gesellschaften sind in einem ständigen Selbstgespräch befangen. Als äußerst dynamische und von starken Fliehkräften gekennzeichnete Gesellschaften bedürfen sie zu ihrer Reproduktion einer ständigen Selbstverständigung über ihren sozialen und politischen Gesamtzusammenhang. Ihre Stabilität hängt wesentlich von öffentlichen Auseinandersetzungen über Meinungen und Standpunkte ab und wie sie künftig ausgestaltet werden sollen. Auch Gesellschaftskritik versteht sich als eine »Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche« (MEW 1: 346). Dies allerdings in dem Sinne, dass sie Lösungen der gesellschaftlichen Friktionen warenproduzierender Gesellschaften kenntlich machen will, die über die bestehenden Verhältnisse hinausweisen. Seit einigen Jahren sind die Bedingungen der Gesellschaftskritik schlechter geworden. Dafür verantwortlich ist – neben anderen Gründen –, dass einige der Institutionen, in denen sich kritische Praxis bisher einigermaßen gut entfalten konnten, diese Aufgabe nur noch äußerst bedingt wahrnehmen können. Dies gilt beispielsweise für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit, die zunehmend austrocknet, aber auch für die Universitäten, die wenigstens partiell – und historisch einmalig – über Jahrzehnte ein Hort der Gesellschaftskritik waren. Die neoliberalen Bildungsreformen haben in diesem Sinne ganze Arbeit geleistet. Kürzungen wurden genutzt, um kritische Positionen zu beseitigen. Die Wettbewerbsorientierung der Universitäten, die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge, die Eliteinitiativen und die Einführung von Studiengebühren haben die Freiräume in Wissenschaft und Forschung erheblich eingeschränkt. Hinzukommt, dass die Generation der 1968er, die in Folge ihrer Protestbewegung an die Universitäten gelangt sind, pensioniert wurde, ohne dass diese in der Lage war, in größeren Umfang ihre Nachfolger an den Hochschulen zu verankern. Mittlerweile gibt es ganze Institute und Fachbereiche, die ohne eine kritische Gegenstimme auskommen müssen. Unter diesem Mangel leidet nicht nur die universitäre, sondern die gesamte politische Linke in Deutschland. Kritische Wissensproduktionen und eine kritische Bildungsarbeit müssen sich künftig mehr auch außerhalb der Universitäten und der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit organisieren. Der Rosa-Luxemburg-Stiftung wird im Prozess der Erneuerung und der Reorganisierung linker Bildungsarbeit und Theorie eine wichtige, auch kompensatorische Rolle zukommen. Sie kann entscheidende Impulse setzen, die für die weitere Entwicklung linker Bewegungen in Deutschland von Relevanz sein werden. Umso wichtiger, dass sie dabei nicht an überlebte Bildungsverständnisse und Verständnisse der Wissensproduktion anknüpft. Der Alpdruck toter GeschlechterNach Marx lastet die »Tradition aller toten Geschlechter (…) wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden« (MEW 8: 115). Dies betrifft bei Vielen das gegenwärtige linke Verständnis von kritischer Wissensproduktion und kritischer Bildungsarbeit. Zu oft ist dieses noch in einem unausgeräumten Rest-Kautskyianismus oder Rest-Leninismus befangen. Um diesen Rest sichtbar zu machen, bedarf es einiger Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis, zur Dialektik von Erkenntnis und reflektiertem Handeln sowie zur Rolle von Intellektuellen. Für das Alltagsbewusstsein ist ein Intellektueller ein akademisch gebildeter Mensch, der mit seinem Wissen und seiner Auffassungsgabe über den Dingen steht, in einem Elfenbeinturm zu Hause ist, aus dem er, etwas weltfremd, über die Welt urteilt, sich einmischt – ein Vorurteil, das so wahr wie falsch ist. Die Figur des eingreifenden IntellektuellenKritische Bildungsarbeit muss sich künftig mehr außerhalb der Universitäten und der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit organisieren. Der etymologische Ursprung des Worts »intellektuell« geht auf das lateinische »verstehen« zurück. Verstehen hat keineswegs eine akademische Bildung zur Voraussetzung, wie es vorurteilsbeladene Abwertungen der breiten Bevölkerung, sogenannter Massen, in der Regel suggerieren wollen. Historisch lässt sich der Begriff bis zur sogenannten Dreyfus-Affaire in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Die antisemitischen Nationalisten benutzten die Bezeichnung »intellectuelles« als Schmähwort, um Personen wie Emile Zola zu verunglimpfen, die sich öffentlich für den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus eingesetzt hatten. Seit jener Zeit, scheint das Wesentliche an einem Intellektuellen zu sein, dass er sich in die politischen Angelegenheiten der herrschenden Eliten einmischt, den Herrschenden auf die Finger schaut: gesellschaftliche Missstände und Machtmissbrauch mit den Waffen anklagt, die er hat: dem Wort. Mit der Gabe, die er hat, und der Fertigkeit, die er beherrscht: sich mit künstlerischen oder journalistischen Mitteln Gehör zu verschaffen. Intellektuelle schauen über ihren Tellerrand hinaus und mischen sich in allgemeine Vorgänge ein. Sie sind Sand im Getriebe, in jedem Gehäuse der Macht. Sie wollen die Öffentlichkeit wach halten, alarmieren und den Machtmissbrauch kontrollieren. Die Kluft zwischen Theorie und PraxisDie »tiefe Erkenntnis« ist bei Hegel den Philosophen vorbehalten und keine Sache des Volkes: »Zu wissen, was man will, und noch mehr, was der an und für sich seiende Wille, die Vernunft will, ist die Frucht tiefer Erkenntnis und Einsicht, welche eben nicht die Sache des Volkes ist.« (Hegel 1970: §301) Aber auch der Philosoph muss auf der Höhe der Zeit sein, was kein leichtes Unterfangen ist. Denn für das Eingreifen in die Prozesse, was man als »Praxis« versteht, kommt die Philosophie stets zu spät: »Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. (…) Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« (ebd.: Vorrede, S. 28) Aus Hegels Gedanken lassen sich drei Schlussfolgerungen ableiten: 1.) Die Praxis muss an Prozesse ansetzen, die sich noch nicht vollendet haben und mithin auch noch nicht abgeschlossen begriffen werden können. Die Lücke zwischen bewusster und reflektierter Tat (Praxis) und absolutem Begriff ist eine Grauzone der Spontaneität, Kontingenz, Ironie und Willkür. 2.) Praxis scheint weder Angelegenheit des Philosophen noch des Volkes zu sein. Denn weder dieses, noch jener schreitet zur bewussten Tat. Der Philosoph interpretiert lediglich und schafft »tiefe Erkenntnis«, verändert aber nichts; das Volk verändert allenfalls, aber kopflos und konzeptionslos. 3.) Zwischen Philosophie und Praxis muss ein »irgendwie« interdependentes Verhältnis bestehen, mutatis mutandis auch zwischen dem Philosophen und dem Volk. Andernfalls könnte sich die Welt nicht in die Richtung entwickeln, wie sie sein soll. Marx hat eine solche Auffassung in seinen Feuerbachthesen verdichtet. Er schreibt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.« (MEW 3: 5ff) Dem »menschlichen Denken« kommt demnach nur insofern »gegenständliche Wahrheit« zu, als es nicht bloß eine »Frage der Theorie«, sondern auch und vor allem eine »praktische Frage« sei: »In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.« (Ebd.) Dabei weißt er darauf hin, dass der Philosoph, d.h. »der Erzieher selbst erzogen werden muss«. (ebd.) Diese derart bestimmte Praxis bezeichnet Marx als revolutionäre Praxis, in der die Theorie des Philosophen zur materiellen Gewalt wird, indem »sie die Massen ergreift« und diese wiederum der Theorie zur Wirkmacht verhelfen. (Vgl. MEW 1: 385). Wie Hegel traut der frühe Marx den proletarischen Massen tiefe Erkenntnis nicht zu. Er schreibt, als das Proletariat gerade erst die geschichtliche Bühne betreten hat, als das Analphabetentum im Proletariat ähnlich stark verbreitet ist wie in den bäuerlichen Volksmassen, die Hegel noch im Blick hatte. Der Rosa Luxemburg Stiftung wird im Prozess der Reorganisierung linker Bildungsarbeit eine kompensatorische Rolle zukommen... Wie kommt es aber dazu, dass die Theorie die Massen ergreift, dass der Funke von der Theorie zur Praxis über springt? Wie realisiert sich die Vermittlung von Erkenntnis? Die Revisionisten in der Sozialdemokratie an der Wende zum 20. Jahrhundert glaubten, dass das Klassenbewusstsein, sogar die sozialistische Lehre, in den ökonomischen Verhältnissen wurzele; die Erkenntnis und der Klassenkampf des Proletariats als revolutionäre Praxis leiteten sich gleichsam evolutiv aus den Verhältnissen ab, quasi automatisch durch eine Verelendungstendenz des Kapitalismus. Dagegen schrieb Karl Kautsky ganz im Sinne Hegels an: »Das moderne sozialistische Bewusstsein kann nur entstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. (…) Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz; in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhältnisse es gestatten.« (Kautsky, zit. n. LAW: 1: 174 f) Das sozialistische Bewusstsein sei also etwas, das nicht von selbst entstanden oder dem proletarischen Klassenkampf entsprungen sei, sondern das von außen hineingetragen würde. Es ist Lenin, der Kautsky begeistert zitiert und daraus Konsequenzen für die Rolle einer politischen Parteiavantgarde ableitet. In »Was tun?« erklärt er die Spontaneität zum allgemeinen Übel. Für ihn führt »die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung (.) eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie« (ebd.: 175). Er verspottet die Spontaneität der Arbeiterbewegung als »Nur-Gewerkschaftlerei« (ebd.). Sie müsse bekämpft werden. Für Lenin muss man die Arbeiterbewegung »unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie« bringen. Aus den Worten Kautskys, aus der vermeintlichen Naivität der proletarischen Massen, leitet er argumentativ eine theoretische Legitimation des Autoritarismus ab. Die »Diktatur des Proletariats« ist in Lenins Vorstellung eine Diktatur der Partei über das Proletariat, damit es nicht unter die Fittiche der Bourgeoisie gerät. Er formuliert eine zeitbedingte, durch die Verhältnisse des russischen Zarismus stark geprägte Strategie der Machtgewinnung, die aus dem Blickwinkel der Eroberung von Macht auch zeitweilige Erfolge verbuchen konnte. Versagt hat sie »in der Perspektive auf die es geschichtlich ankommt: als Projekt der Massenemanzipation« (Agnoli 2001:&xnbsp;265) Die Geschichte als LehrmeisterinRosa Luxemburg bringt argumentativ als Widersacherin Lenins die Lernprozesse des Proletariats in Anschlag – ebenso gegen Kautsky und die Revisionisten. Es ist die Spontaneität, die Luxemburg für das Fortschreiten der Erkenntnis innerhalb des Proletariats und für die Organisationsentwicklung in Anschlag bringt: »Das Kostbarste, weil bleibende, bei diesem scharfen revolutionären Auf und Ab der Welle ist ihr geistiger Niederschlag: das sprungweise intellektuelle, kulturelle Wachstum des Proletariats, das eine unverbrüchliche Gewähr für sein weiteres unaufhaltsames Fortschreiten im wirtschaftlichen wie im politischen Kampfe bietet.« (LW 2: 117) Die Geschichte ist für Luxemburg eine Lehrmeisterin; daher muss die Erkenntnis nicht von außen ins Proletariat hineingetragen werden. Es gärt; unterirdisch untertunnelt der »Maulwurf der Geschichte« das Erdreich und lugt zur gegebenen Zeit hervor. Die »Entstehung des Proletariats als Lernprozess« (Vester 1970) findet durch eine Dialektik zwischen Spontaneität und Organisation statt – und wie E.P. Thompson einige Jahre später herausarbeiten wird, kann bei ihr eine Dialektik von kapitalistischer Ökonomie und einer nicht-kapitalistischen „moralischen Ökonomie“ als Erfahrungshintergrund eine besonders prägnante Rolle spielen (Thompson 1987). Nach Luxemburg muss dieser Prozess eine antiautoritäre Zielsetzung haben, nämlich sich sukzessive der »Führerschaft zu entäußern, die Masse zur Führerin und sich selbst zu Ausführenden, zu Werkzeugen der bewussten Massenaktion zu machen« (LW 1/2: 396; Herv. i. O.). Frantz Fanon wird einige Jahre später ganz ähnlich argumentieren. Für ihn ist eine antikoloniale Revolution nur durch ein Zusammenspiel von städtischem Subproletariat, den Bauern und der Intelligenz zu erwarten. Zwar bringe die Schicht der Intelligenz ihre besonderen Fertigkeiten in die Bewegung ein, müsse aber als entfremdete Klasse selbst lernen und sich fortentwickeln, indem sie permanent von den bäuerlichen Massen und von der lumpenproletarischen »Horde von Ausgehungerten« (Fanon 1981:&xnbsp;110) ihrerseits lernt. »Die Führung gewinnt ihren Wert und ihre Festigkeit nur aus der Existenz des Volkes im Kampf. Es ist buchstäblich so, dass das Volk sich freiwillig eine Führung gibt, nicht aber, dass die Führung das Volk duldet« (ebd.: 169). Organische Intellektuelle und ein zivilgesellschaftlicher SozialismusDie RLS kann entscheidende Impulse setzen, die für die weitere Entwicklung linker Bewegungen in Deutschland von Relevanz sein werden... Dass die Klassen ihre eigenen Intellektuellen hervorbringen, die ihre je eigene, aus dem Entstehungszusammenhang begründete organische Funktion erfüllen, ist eine Erkenntnis, die vor allem mit dem Namen Antonio Gramsci in Zusammenhang gebracht wird. Für Gramsci dienen sogenannte traditionelle Intellektuelle der herrschenden Klasse: »Sie sind für die Vielzahl subalterner Aufgaben der gesellschaftlichen Hegemonie und der politischen Regierung zuständig«, gleichsam für die Konsensproduktion und die Anerkennung der Herrschaft durch die Massen. Sie sind insofern Ideologieproduzenten. Die Intellektuellen dienen im Staatsapparat auch der »Disziplinierung der Gruppen«, welche gegen den Staat oder die Regierung opponieren. (vgl. Gramsci: Gef, 1930) Gramscis Ansichten zur Funktion und Aufgabe der sogenannten organischen Intellektuellen geht in eine ganz andere Richtung – und sie ist antileninistisch, wie auch sein Konzept der Zivilgesellschaft und des Sozialismus. Nach Gramsci ist die Zivilgesellschaft ein Teil des sogenannten integralen Staates, dennoch unbedingt von dessen bürokratisch-repressiven Apparaten des Staates zu scheiden. Sie ist der Raum, in dem Klassen und Interessengruppen miteinander um Hegemonie kämpfen, (labile) Bündnisse schließen und um die Interpretationshoheit über das soziale und politische Geschehen streiten. Es ist der zentrale Ort von Politik, damit auch von Subversion und Widerstand, der darüber hinaus auch zum Ausgangs- und Zielpunkt einer radikaldemokratischen Form von Vergesellschaftung werden kann (Kebir 1990). Dessen Ziel ist eine aktive Rücknahme der repressiven Apparate in die Zivilgesellschaft: »Wenn der Kampf für den Sozialismus in der modernen Gesellschaft ein Stellungskrieg ist [im Sinne A. Gramscis], dann muss unsere Sozialismuskonzeption die einer Gesellschaft von Stellungen sein – von verschiedenen Plätzen, von denen aus wir alle mit der Rekonstruktion einer Gesellschaft beginnen können, für die der Staat nur noch der anachronistische Verwalter ist« (Hall 1989: 235). Für Gramsci ist jeder Organisator gesellschaftspolitischer Entwicklungen ein Intellektueller. Diese realisieren in ihrem je eigenen Wirkungsfeld die dialektische Einheit von Theorie und Praxis, generieren aus der Praxis eine realitätsgesättigte Theorie und orientieren die politische Praxis an dieser Theorie; sie sind mithin praxisbezogen und reflektieren zugleich ihre Praxis auf der geistigen Ebene. Sie setzten ihre Politik an den Widersprüchen des Alltagsverstandes an. Sie versuchen den Alltagsverstand in erfahrungsbezoger Weise in Richtung Emanzipation auszuarbeiten. Die organischen und traditionellen Intellektuellen sind klassenspezifisch sortiert, und deshalb gestalten sie Hegemonie und Gegenhegemonie. Weil sie jeweils aus der Mitte der gesellschaftlichen Gruppen kommen, sprechen sie die Sprache der breiten Masse; sie sind Produkte ihrer Klasse in politischer wie auch kultureller Hinsicht. Kein Parteikader könnte dasselbe leisten. Entführt man diesen organischen Intellektuellen und setzte ihn in die Parteizentrale, entbindet man die Dialektik und er verdinglichte sich allmählich zu einem nichts wissenden, von der politischen Erfahrungsquelle abgetrennten Bürokraten: einen »politischen Suppenkasper« (Peter Brückner), dessen angesetztes Fett als Muskel nur erscheint. Kritische Intellektualität heuteUmso wichtiger, dass die RLS dabei nicht an überlebte (leninistische oder kautskyanische) Bildungsverständnisse anknüpft. Die Ausbildung einer breiten kritischen Kultur, einer kritischen Bildung und einer neuen kritischen Intellektualität ist eine der zentralen Herausforderungen vor denen eine linke Politik heute steht. In der Theoriegeschichte sozialer Bewegungen der letzten 200 Jahren können wertvolle Anknüpfungspunkte für Bewältigung dieser Aufgabe gefunden werden. Es kann aber auch gelernt werden, wie man es nicht machen soll, wenn Sozialismus und Emanzipation künftig zusammenkommen sollen (Hawel 2012). Der Autoritarismus Kautskys und Lenins der einer technisch-wissenschaftlichen Intelligenz einen privilegierten Status zuweist und die breite Bevölkerung tendenziell entmündigt, hat nicht zufällig historisch in die falsche Richtung gewiesen. Wo auch immer sich noch heute – unter welchem Deckmantel auch immer – ein verkappter Leninismus oder Kautskyianismus verbirgt, sollte der Mantel gelüftet werden. Insbesondere Gramsci, Fanon oder Luxemburg liefern hingegen Konzepte von hoher kritischer Relevanz, die für aktuelle Neuansätze interessant sein werden. (Kalmring 2012) Von Gramsci können wir lernen, dass die beste politische Praxis darin besteht, die Prozesse der Bildung nicht zu unterbinden, von oben zurechtzuschustern, sondern sie im Sinne einer zivilgesellschaftlichen Selbstermächtigung zu begleiten, die am Alltagsverstand ansetzt. Fanons und Luxemburgs Ansichten über den Selbstlernprozess der Arbeiterklasse treffen sich mit denen von Gramsci, dass jeder Lehrer zugleich Schüler ist und jeder Schüler zugleich Lehrer. Hieran gilt es anzusetzen. Literatur:Agnoli, Johannes (2001): Nachbemerkungen über die politische Sprengkraft der Skepsis, in: ders.: Politik und Geschichte. Schriften zur Theorie, Freiburg, S. 261-265. Fanon, Frantz (1981): Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main. Gramsci, Antonio (1991ff): Die Intellektuellen und die Organisation der Kultur, in: Gefängnishefte, 10 Bände, Hamburg (zit. als Gef.) Hall, Stuart (1989): Der Staat – der alte Verwalter des Sozialismus, in: ders.: Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften 1, Hamburg, S. 220-235. Hawel, Marcus (2012): Krise und Geschichte. Zum Entstehungszusammenhang kritischer Theorie,in: Marcus Hawel, Moritz Blanke (Hg.): Kritische Theorie der Krise, Berlin, Dietz-Verlag (im Erscheinen). Hegel, Georg W. F. (1970): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft, Frankfurt am Main. Kalmring, Stefan (2012): Die Lust zur Kritik. Plädoyer für soziale Emanzipation, Berlin, Dietz-Verlag (im Erscheinen). Kebir, Sabine (1990): Antonio Gramscis Zivilgesellschaft. Basis demokratischer Vergesellschaftung, in: Initial. Die Berliner Debatte, Nr. 5, S. 528-533. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Berlin (Ost), 1956ff (zit. als MEW). Lenin, Wladimir Iljitsch Uljanov: Ausgewählte Werke, Berlin (Ost), 1963 (zit. als LAW). Luxemburg, Rosa: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin (Ost), 1970ff (zit. als LW). Thompson, Edward P. (1987): Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 2 Bände, Frankfurt am Main. Vester, Michael (1970): Die Entstehung des Proletariats als Lernprozess. Die Entstehung antikapitalistischer Theorie und Praxis in England 1792-1848, Frankfurt am Main. Dr. Marcus Hawel ist Referent für Bildungspolitik der Rosa Luxemburg Stiftung und Mitherausgeber der sopos. Kontext:
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