Den Aufsatz kommentieren Intellektuelle zwischen Politik und Wissenschaftvon Gregor Kritidis (sopos) "Freiheit ist ohne die Fähigkeit, sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu Bedienen, nicht denkbar. (...) Weil nun einmal die menschliche Natur so gestaltet ist, daß der einzelne Mensch nur mit seinem eigenen Kopf zu denken vermag und nicht mit dem Kopfe seines Mitmenschen, geschweige denn mit dem Kopf eines allmächtigen Zentralkomitees, um einem weit verbreiteten Irrtum bei dieser Gelegenheit gleich mit zu erwähnen, bleibt dies eine unbestreitbare Feststellung".[1] - Diese Aussage Peter von Oertzens war eine der Kernbotschaften der Tagung "Zur Funktion der Intellektuellen in heutiger Zeit", die in Erinnerung an den im März 2008 verstorbenen Vordenker der sozialistischen Linken vom 3.-5. Oktober in Berlin stattfand. Eingeladen hatten zu dieser Tagung die von Peter von Oertzen 1994 mitgegründete Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und die Bildungsvereinigung "Helle Panke". Dabei ging es vor allem auch darum, die Aktualität seiner rätesozialistischen Konzeption auszuloten, denn an der Vorstellung einer Transformation des Kapitalismus hielt er Zeit seines Lebens fest. Daß dabei ganz im Sinne des marxistischen Philosophen Karl Korsch Selbstaufklärungsprozesse im Mittelpunkt standen, hatte schon biographische Gründe, wie Michael Buckmiller (Hannover) einleitend betonte: Bis 1945 war der 1924 geborene Peter von Oertzen vom "Endsieg" überzeugt gewesen, bevor er in der Bibliothek seines Vaters im Selbststudium sein zusammengebrochenes Weltbild radikal neu ordnete. Nur wer konsequent die durch die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und den Sieg des Faschismus aufgeworfenen Fragen durchdenke, könne theoretisch die richtigen Schlüsse ziehen. Wie Joachim Perels (Hannover) anhand der Dissertationsschrift von Oertzens verdeutlichte, führte der Weg politisch in den marxistischen Flügel der Sozialdemokratie, da die bürgerliche Tradition nur wenig demokratische Anknüpfungspunkte bot. Das bedeutet freilich einen tiefen Bruch mit seinem Herkunftsmilieu: Im Haus seines Vaters, der in der Weimarer Zeit zum konterrevolutionären Kreis um die Zeitschrift "Die Tat" gehört hatte, hatten auch Freikorps-Angehörige aus dem Umfeld der Mörder Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts verkehrt. Welche alternativen demokratischen Potentiale es gibt, sondierte von Oertzen unter dem Einfluß seines politischen Lehrers, dem Korsch-Schüler Erich Gerlach, in seiner Untersuchung der Rätebewegung in der Novemberrevolution, mit der er die These widerlegte, die Mehrheits-Sozialdemokratie habe Deutschland vor dem Bolschewismus gerettet. Die Demokratisierung der Wirtschaft wäre demnach nicht nur möglich, sondern auch eine zwingende Notwendigkeit gewesen, um die Weimarer Demokratie auf ein solides soziales Fundament zu stellen. In der Bundesrepublik wurde während des Nachkriegsbooms zwar die formale Demokratie sozial unterfüttert. Unter antikommunistischen Vorzeichen blieb der "asymmetrische Klassenkompromiß", der zudem auf der Einschränkung demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten beruhte, aber durch die Krisendynamik des kapitalistischen Systems gefährdet. In seiner Kritik des Godesberger Parteiprogramms der SPD, gegen dessen Verabschiedung von Oertzen neben 15 weiteren Delegierten gestimmt hatte, wandte er sich daher gegen den wirtschaftlichen Optimismus der Parteimehrheit: "Ohne straffe wirtschaftliche Lenkung und Vergesellschaftung ist ein sozialdemokratischer Wirtschaftsminister im Ernstfall machtlos".[2] Für die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Institutionen stritt von Oertzen vor allem in den Gewerkschaften und an den Universitäten - freilich ohne das von ihm favorisierte Konzept einer Rätedemokratie zu dogmatisieren, wie Wolfgang Nitsch (Oldenburg) im Hinblick auf von seine Hochschulreformpolitik als Professor und niedersächsischer Kultusminister betonte. Räte und Parlamente würden sich keinesfalls ausschließen, ebenso wie eine konsequente Reformpolitik keineswegs bedeuten müsse, das Ziel einer sozialistischen Transformation aufzugeben. Denkverbote, das wurde immer wieder deutlich, waren dem Freigeist von Oertzen fremd. Wer die Wirklichkeit verändern wolle, müsse sich ein klares Bild von Ihr machen. Theorie sei in der Praxis nur relevant, wenn sie wahr sei - und darüber könne schlechterdings kein Parteivorstand oder Zentralkomitee entscheiden. Jeder sei vielmehr auf seine eigene Urteilskraft angewiesen. Wer dagegen die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis einstellt, wird auch in der Praxis scheitern. Die Beiträge von Oertzens zur Aktualisierung der Klassenanalyse der Bundesrepublik trafen in der Sozialdemokratie auf wenig Interesse. Warum konnte die SPD, aus der von Oertzen 2005 nach rund 60 Jahren Mitgliedschaft austrat, mit derartigen Erkenntnissen immer weniger anfangen? Der Vortrag von Heiko Geiling (Hannover) warf ein Schlaglicht auf die veränderte gegenwärtige Situation von Intellektuellen: Bildeten wissenschaftliche Erkenntnisse bis Anfang der 1990er Jahre noch einen Bezugspunkt politischer Entscheidungsträger, so hat sich das Verhältnis von Politik und Wissenschaft mittlerweile ins Gegenteil verkehrt; Wissenschaft dient mehr oder minder zur Legitimation bereits getroffener Entscheidungen. Inwieweit Peter von Oertzens undogmatische Herangehensweise weiterhin Irritationen auch unter den etwa 50 Tagungsteilnehmern aufwerfen kann, machte eine Episode aus der Geschichte den frühen 1980er Jahren deutlich: Wie Klaus Meschkat (Hannover) berichtete, hatte von Oertzen neben dem Theologen Helmut Gollwitzer und vielen anderen zur Solidarität mit dem bewaffneten Kampf der salvadorianischen Befreiungsfront gegen die von den USA unterstützte Militärdiktatur aufgerufen. Diese Position stellte sich freilich insofern als fragwürdig heraus als interne Kämpfe in der Befreiungsfront auch mit politischen Morden ausgetragen wurden. Daß aber demokratische Bewegungen gezwungen sein können, ihre Positionen auch mit Gewalt zu verteidigen, war für von Oertzen nach wie vor unbestritten, obwohl er der Gefahr einer Zerstörung des Emanzipationsanspruchs von innen heraus bewußt war. Eine Besonderheit bildete die Lesung von Christoph Spehr (Bremen) über die sozialutopischen Elemente in der Sci-Fi-Literatur, die von Oertzen als Medium zur Entfaltung von sozialer Entwurfsphantasie geschätzt hatte. Utopische Literatur, das demonstrierte Spehr anhand zahlreicher Beispiele, beinhaltet mitunter konkretere Programmatiken als Parteiprogramme, während diese umgekehrt durchaus realitätsfern sein können. Inwieweit der Spannungsbogen zwischen politischen Zukunftsentwürfen und realen Handlungsspielräumen möglich ist, unterstrich die von Michael Krätke (Amsterdam) mit einem großen historischen Bogen eingeleitete Diskussion über den Stellenwert marxistischer Programmdebatten. Die Verknüpfung aktueller Tagesforderungen mit dem langfristigen Ziel der Überwindung des Kapitalismus habe zahlreiche Programmdokumente der Arbeiterbewegung - Krätke hob besonders das Linzer Programm der österreichischen Sozialdemokratie von 1924 hervor - ausgezeichnet. Daß das auch heutzutage möglich ist, demonstrierte Margareta Steinrücke (Bremen), die anhand der Frage der Arbeitszeitverkürzung die Utopie einer Geschlechterdemokratie entwickelte, die nur als klassenlose Gesellschaft zu verwirklichen sei. Daran anknüpfend hob Michael Brie von der gastgebenden Rosa-Luxemburg-Stiftung die Integrationsfunktion von Programmdebatten hervor. Intellektuellen komme die Aufgabe zu, die unterschiedlichen Erfahrungen von Unterdrückung und die darauf fußenden Konzeptionen miteinander zu vermitteln und den Raum für produktive Lernprozesse zu öffnen. Stephan Klecha (Göttingen) strich dagegen die Notwendigkeit, institutionelle Einflußmöglichkeiten zu nutzen, heraus - inwieweit das unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen möglich ist, blieb freilich eine offene Frage, auf deren Klärung sich Peter von Oertzen sicherlich sofort in der Absicht öffentlicher Intervention gestürzt hätte. Anmerkungen:[1] Von Oertzen, Arbeiterbildung als kritisch-emanzipatorische Erwachsenenbildung. Festvortrag anläßlich des 25-jährigen Bestehens von Arbeit und Leben Niedersachsen vom 15.11.1973. [2] Von Oertzen, Wegmarke Godesberg. Sozialistische Politik Nr. 11/12/1959, S. 2. Kontext:
sopos 2/2009 | |||
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