Den Aufsatz kommentieren Die Kundenideologie war das Trojanische PferdZum gesamtgesellschaftlichen Kontext der neoliberalen Umstrukturierungen im Bildungsbereich[1]von Marcus Hawel (sopos)Universität als Kampfplatz antagonistischer InteressenDie Universität ist kein abgeschlossener Raum, der undurchlässig und irgendwie außerhalb der Gesellschaft stünde. Das ist eigentlich eine Binsenweisheit - und gegenüber Sozialwissenschaftlern muß das nicht unbedingt erwähnt werden. Aber wenn die Frage geklärt werden soll, inwiefern die Rationalisierungs- und Umstrukturierungsprozesse, die seit längerem an den Universitäten stattfinden, nicht nur eine zufällige Ähnlichkeit zu den Umstrukturierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen in anderen gesellschaftlichen Institutionen haben, sondern von denselben, übergeordneten Prinzipien, von demselben Geist, gleichsam von derselben Ideologie getragen werden, muß man wohl mit dieser Binsenweisheit beginnen. Die Universität ist eine staatliche und zugleich eine gesellschaftliche Institution; sie hat demzufolge einen gesellschaftlichen und staatlichen Auftrag. Lehrpersonal und Studierende tragen in die Hochschule gesellschaftliche Bedürfnisse hinein. Über alles das findet ein vermittelter und unmittelbarer Zugriff der politischen Ökonomie auf die Hochschulen statt. Sie sind damit auch ein Kampfplatz von universitären und außeruniversitären Partikularinteressen. Daß Lehrpersonal und vor allem Studierende eben auch gesellschaftliche Bedürfnisse in die Hochschulen hineintragen, ist für unseren Zusammenhang besonders brisant. Denn die neoliberale[2] Ideologie kann sich etwa verschleiern, indem sie sich als "Kundenorientierung" tarnt und schlicht behauptet, es gehe doch nur darum, den Bedürfnissen der Studierenden nach besseren Studienbedingungen Rechnung zu tragen. Brisant daran ist, daß diese Bedürfnisse (schnelles, verschultes, praktisch orientiertes und auf Beruf und Karriere zugeschnittenes Studium, nicht überfüllte Hörsäle etc.) real und als Massenbasis vorhanden sind, so daß sie den herrschenden Eliten als Vehikel, gleichsam als Trojanisches Pferd dienen, ihre neoliberale Ideologie durchzusetzen. In Roman Herzogs Worten hörte sich das 1997 in seiner "Ruck-Rede" so an: "Der eine verspricht sich vom Studium eine kompakte Berufsvorbereitung, dem anderen geht es eher um Persönlichkeitsbildung. Der begabte Student möchte eine frühe Vertiefung des Stoffes im Studium, dem weniger ambitionierten geht es nur um ein Überblickswissen und um den schnellen Weg zur beruflichen Verantwortung. (...) Dem Unternehmer (...) sind die Hochschulabsolventen schon heute oft zu alt und mit zuwenig verwertbarem Wissen für die Berufspraxis ausgestattet."[3] Das ist eine pure Verschleierung durch angebliche "Kundenfreundlichkeit" (Ideologie des shareholder value). Hauptsächlich geht es aber nur darum, die ökonomischen Interessen einer optimalen Verwertung zukünftiger Arbeitskraft zu goutieren. Und dann sagte Herzog weiter: "Es muß tatsächlich gelingen, in dem neuen modularen System den Studienaufbau grundlegend neu zu strukturieren. Mit einem klaren Bekenntnis zu einem breiten Basiswissen und einer profunden Methodenkenntnis für alle im Grundstudium und einer noch tiefer gehenden Spezialisierung für eine geringe Anzahl von Studenten in aufgefächerten Studiengängen und für die wenigen Studenten, die den Weg in die Wissenschaft [als Beruf; MH] gehen wollen."[4] Geeignete Mittel, das umzusetzen, waren für Herzog wie für sämtliche Neoliberalen: Mehr Wettbewerb und Konkurrenz im Bildungssystem, massive Entbürokratisierung, Aufhebung des Gleichheitsanspruchs, d.h. Eliteförderung (euphemistisch wird es "center of excellence" genannt). Wenn auch die Hochschule kein abgeschlossener Raum ist, war sie gleichwohl lange Zeit ein Ort der Gesellschaft, an dem die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus nur eine eingeschränkte Gültigkeit besaßen. - Aus gutem Grund! Denn Bildung und Ausbildung brauchen Zeit - Lernprozesse gelingen auf Umwegen und Abwegen. - Und am besten ohne Zwang. Aber Effizienskriterien sind den Hochschulen nie fremd gewesen. Natürlich muß eine Hochschule effizient organisiert sein und darf - weil es um öffentliche Gelder geht - mit den zur Verfügung stehenden öffentlichen Mitteln nicht verschwenderisch umgehen. Und natürlich dürfen deshalb auch von Staat und Gesellschaft Erwartungen und Ansprüche an die Hochschulen gerichtet werden. Dazu gehört auch die Erwartung, daß ein Studium so strukturiert ist, daß es auf bestimmte Berufsprofile und Berufsstrukturen, auf den Wandel der Produktionsweise zugeschnitten ist. Und Berufsprofile, die gesamte Produktionsweise unterliegen einem ökonomischen Wandel - deshalb muß sich auch das Bildungswesen wandeln. Zum Wandel der BerufsstrukturVon Zeit zu Zeit gerät das Ausbildungssystem in die Krise, weil es nicht rechtzeitig auf die sich wandelnden Anforderungen des Kapitals zu reagieren vermag. Oskar Negt hat diesen Umstand 1976 in seinem Aufsatz "Plädoyer für einen neuen Bildungsbegriff" so erklärt: "Diese mit mehr oder minder großen Phasenverschiebungen in fast allen spätkapitalistischen Ländern auftretende Krise ist vielmehr nur das Symptom einer Gesellschaft, die durch ihre antagonistischen Widersprüche daran gehindert ist, eine von der historischen Entwicklung vorgezeichnete neue Stufe der gesellschaftlichen Elementarbildung (...) in geplanter Weise und auf Massenbasis zu institutionalisieren."[5] Jene neue Stufe scheine, so Negt, in der Veränderung der Berufsstruktur ebenso durch wie auch in der neuen Vergesellschaftungsqualität der Arbeitskraft. Dies verweist auf die Bildung des gesellschaftlichen Ganzen - wozu auch die Universitäten gehören - im Sinne seiner Umstrukturierung gemäß der ökonomischen Anforderungen, denen es unterliegt und schwerfällig hinterherhinkt. Was Negt damals schrieb, bezog sich auf einen emanzipativen Bildungsbegriff, der Wirklichkeit werden sollte. - Das gleiche jedoch besitzt seine Gültigkeit auch in Bezug auf Anforderungen, die nicht einmal auf den zweiten Blick irgend etwas Emanzipatives erkennen lassen können. Die aktuelle Berufstruktur besteht aus flexibilisierten Arbeitszeiten und Arbeitsweisen (job-enlargement), an Teilhabe (shareholder und jobsharing). Die Tätigkeiten der nützlichen Arbeit bestehen in Dienstleistungen, Kontrollieren von Maschinen im Produktionssektor und im Verwalten des bürokratischen Apparats. Was noch am ehesten gefragt ist, ist Spontaneität, aber nicht Autonomie und Kritik. Roman Herzog beschrieb das im übrigen so: "(...) wenn der klassische Facharbeiter (...) langsam auszusterben droht und für die Zukunft der multifunktionale Mitarbeiter mit Teamqualitäten gefragt ist, dann muß unser Bildungssystem auch darauf reagieren: durch neue Ausbildungsverbünde, fächerübergreifende Rotationsmodelle, Stärkung von Schlüsselqualifikationen usw. (...) Wir können es uns nicht mehr leisten, jährlich Tausende von hochintelligenten Menschen am Arbeitsmarkt vorbei auszubilden."[6] Der Baccelor ist gegenüber dieser Berufsstruktur tatsächlich die adäquate Ausbildungsstruktur. Aber zu befürworten ist das auf keinen Fall. Ich zitiere hier einmal mich selbst, um meine Skepsis zu bekunden. Ich schrieb das 1997 und sehe das heute im Grunde immer noch so: "Die neoliberalen Forderungen, Anreize für ein schnelles und Strafen gegen ein langes Studium einzuführen, sind Formen der Gewalt, die auf ein Verständnis des Menschen als Ware Arbeitskraft zurückzuführen sind. Nach kapitalistischen Prinzipien sollen diese Menschen als Humankapital optimal verwertet werden. Optimale Verwertung geht einher mit der Produktion egoistischer Idioten [idiotes, alt-griechisch: Privatmann; MH] und Automaten, die im Systemgetriebe optimal funktionieren, aber in Wahrheit kaum über soziale Qualitäten verfügen; - diese hätten die erlernen können im politischen Engagement für eine Sache, in ganz normaler Beziehungsarbeit und auch in [solidarischen] Gruppenarbeitsverhältnissen. Weil diese vorschnellen und fixen Studenten tendenziell auf diese Lebenssphären verzichten zugunsten eines schnellen Studiums - denn Betätigung in diesen Sphären bedeutet Aufenthalt und Verzögerung - verfügen sie kaum über soziale Fähigkeiten und verlassen die Hochschulen als Egoisten und Idioten, als Hypostasierung des Konkurrenzprinzips in ihrer Person, als willige Erfüllungsgehilfen des Marktes, als klassische, das Bestehende affirmierende Ja-Sager."[7] Sagen wir einmal, Anwesende sind von diesem Verdikt natürlich ausgeschlossen. Die Einführung des Baccelor-Studienganges macht das kurze Studium zu einem formellen Kurzstudium. Der Baccelor ist qua seiner Ausbildungsstruktur ein Wirtschafts- und Sozialtechniker. Diese angehenden Wirtschafts- und Sozialtechniker sollen nach der neoliberalen Logik nicht mehr zu Wissenschaftlern ausgebildet werden. Es reicht ein pragmatisch ausgerichtetes Grundstudium, wo auf Berufe zugeschnittenes Basiswissen vermittelt wird; es ist gleichsam ein "Berufsschuldiplom". Der Baccelor ist weniger als Führungskraft vorgesehen. Mit einem Baccelorabschluß wird man vermutlich auch keinerlei Ansprüche auf sehr gute Bezahlung geltend machen können; man arbeitet in der mittleren Ebene, aber ohne große Aufstiegsmöglichkeiten. So viel Zugeständnis an den Wandel der Berufsstruktur will ich machen. - Darüber hinaus aber kein weiteres. Zumal es noch andere Aufgaben für die Hochschulen gibt oder gegeben hat, die nun offensichtlich verschwinden und die es zu verteidigen oder wieder einzufordern gilt. Die Hochschule hat aber jedenfalls auch einen aufklärerischen Bildungsauftrag; sie soll kritischen Geist ausbilden und sich an emanzipativen Prozessen beteiligen. Sie erfüllte seit den 70ern auch die Funktion eines Moratoriums. - Wie das zu verstehen ist, erklärte 1998 Michael Vester so: "Es sollte die Gesellschaft froh sein, daß ein großer Teil ihrer Arbeitslosen durch den Status des Studenten unsichtbar gemacht wird. Sie können in größeren Städten leben, sie sind studentisch sozialversichert, sie können den Anschluß an die Studentenkultur bekommen, sie können durch die Teilhabe an dieser Kultur ihre Lage auch intellektuell verarbeiten. Das ist sozial stabilisierend. Es ist nicht so, daß alle verzweifeln. Sie können durch das Netz von Kontakten, das sie hier bekommen, Ersatzjobs finden. Viele merken: ›das Studium ist nichts für mich‹, aber sie haben ihren Horizont erweitert, gehen an Fachhochschulen oder lernen dies oder das. Das heißt, für viele ist das kein Weg in die Verzweiflung, sondern oft auch eine Such- und Orientierungsbewegung, die sie individuell, durch individuelle Kraftanstrengungen auch zu einer Lösung führt. Die informellen Prozesse werden von den jungen Leuten oft als eine schwere Belastung, aber letztendlich keineswegs als eine nicht zu bewältigende Katastrophe verarbeitet. Es ist sehr schwierig und es ist eine große Zumutung, aber es sind immer auch Lösungen, die die Leute sich erarbeiten, weil sie nämlich nicht isoliert sind, sondern diese Netze haben mit anderen jüngeren Leuten, mit denen sie sich sehr viel austauschen, wo es auch sehr viel gegenseitige Hilfe gibt."[8] Vester mochte diesen Zustand des kreativen Moratoriums nicht idealisieren. Das möchte ich auch nicht. Aber in diesem Moratorium hatte sich eine Menge kritischen Geistes angesammelt, Protestpotential, das sich in ganz unterschiedlicher Weise immer wieder auch politischen Ausdruck verschafft hatte und wovon die sogenannte studentische Kultur sehr profitiert hat. Und heute ist nicht einmal mehr dieses Moratorium vorhanden, denn es wurde mit der Einführung von Verwaltungs- und Studiengebühren abgeschafft. Kritischer Geist ist zwar immer noch vorhanden, aber das Protestpotential ist weitgehend verschwunden. Wer an den Hochschulen noch verweilt, möchte möglichst schnell seinen Abschluß machen und fürs Berufsleben gerüstet sein. Das liegt nicht nur an der Einführung von Studiengebühren, sondern vor allem auch an der vorgegebenen und nach neoliberalen Kriterien reformierten Studiumsstrukturen. Aber die Hochschule war auch nicht immer - sogar ganz selten - eigentlich 1968 überhaupt das erste Mal - ein Ort linken und kritischen Geistes. Wenn wir uns also fragen, wie es sein kann, daß das linke Milieu nun aus den Hochschulen weitgehend verschwunden ist, müssen wir berücksichtigen, daß linke Hegemonie an den Hochschulen keine Selbstverständlichkeit gewesen ist. 1968 hat zum ersten Mal eine solche linke Hegemonie hergestellt, und seitdem haben wir es mit einer Gegenbewegung zu tun, die die Errungenschaften von 68 wieder rückgängig zu machen versucht, d.h. der Hochschule wieder ihre traditionelle Aufgabe: die Ausbildung und Rekrutierung von Führungsschichten, zukommen lassen möchte. Das ist aber nicht allein eine Eliteangelegenheit. Denn die Hochschulen können nicht nur Führungseliten ausbilden - das wissen auch die herrschenden Eliten. Die Hochschule muß eine Masseneinrichtung bleiben, aber die Verweildauer für diejenigen, die nicht zur Führungselite gehören werden, sondern zu den qualifizierten Angestellten, soll sich verringern. Das ist der Zweck der Einführung von Baccelor-Studiengängen. Der jetzige Stand der Produktivkräfte erfordert heute fünfmal mehr intelligent ausgebildete Arbeitnehmer als noch 1950.[9] Es kann also nicht darum gehen, und es geht auch nicht darum, reine Elitestrukturen an den Universitäten zu schaffen, sondern hauptsächlich darum, das Studium für die Allgemeinheit auf praktische Notwendigkeiten zu konzentrieren. Ganz nebenbei entsteht dann aber die elitäre Struktur, über die eine neue Wissenschafts- und Herrschaftselite rekrutiert wird. Man kann aber auch sagen, daß sich die Elitestruktur auf sämtlichen Ebenen durchsetzt. Wenn der Baccelor sich in der mittleren Ebene der Arbeitswelthierarchie einnistet, wird der Konkurrenzdruck nach unten weitergegeben: an Abiturienten, Realschulabsolventen bis nach ganz unten, wo meistens wegen sprachlicher Schwächen und auch aus rassistischen und xenophobischen Gründen viele Ausländer kaum einen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. - Wenn man diesen Zusammenhang sieht und davon berührt wird, muß man eine solidarische Kritik formulieren und einen solidarischen Protest führen. Zusammenhang zwischen Bildungs- und SozialabbauZusammenhang ist für Theorie und Praxis eine ganz wesentliche Kategorie. Für unser Thema ist z.B. der Zusammenhang zwischen Bildungs- und Sozialabbau unabdingbar. Zwischen beiden existiert zwar eine Differenz, und man muß richtigerweise zwischen beiden unterscheiden, aber Bildungsabbau ist dennoch auch Sozialabbau. Nicht nur, weil allgemein Bildung der Schlüssel für soziale Integration ist, sondern z.B. weil die Universität eben auch die Funktion eines sozialen Moratoriums erfüllt hat. In studentischen Protesten hat oft auf den Transparenten gestanden: "Gegen Bildungs- und Sozialabbau". Aber ich erinnere mich auch oft genug an Diskussionen und die Forderung, daß man sich als Student auf Bildungsabbau konzentrieren solle, weil eben die verfaßte Studierendenschaft (AStA) kein allgemeinpolitisches Mandat habe. Oder weil man keinen Zusammenhang zum Sozialabbau gesehen hat. Oder weil man das eben als eine andere und zu große Baustelle begriffen hat. Oder weil man das anmaßend fand und sich als Student zu privilegiert fühlte. Oder weil man von vornherein ein eher ständisches Interesse hatte und sich nur für die Belange der Studenten und Universitäten kümmern wollte. Stellt man aber den Zusammenhang zwischen Bildungs- und Sozialabbau nicht her, bleibt der Protest dagegen hilflos. Zusammenhang muß auch auf anderen Ebenen hergestellt werden: etwa zu Protesten und Kämpfen anderer sozialer Gruppen, die etwa zeitgleich stattfinden. Oder zwischen den einzelnen studentischen Generationen, die gegen die Bildungsmisere protestiert haben - nicht nur mit der 68er Generation. Oder zur Geschichte des Bildungsbegriffs und des Bildungswesens und zur Geschichte des Sozialstaats. Stellt man diese Zusammenhänge nicht her, wird man die Signatur der Umstrukturierungsprozesse der Gesellschaft allgemein und im Bildungswesen im besonderen - insbesondere an den Hochschulen - nicht konkret erfassen können, sondern nur punktuell, und deshalb wird jedes strategische und praktische Reagieren (Protest) abstrakt bleiben, gleichsam ins Leere laufen oder sogar der Gegenseite zuspielen.[10] Fünf Phasen der UmstrukturierungDie Signatur der Umstrukturierung ist mittlerweile einsehbar. - Mitten im Handgemenge war sie es noch nicht. Weil wir die Signatur als Ganze nicht gesehen haben, sondern jede studentische Generation nur eine ihrer Teilprozesse, griff die Kritik und Praxis stets zu kurz. Z.B. fällt die Kritik am Sachzwang unterschiedlich aus, wenn man sie als Bestandteil einer umfassenderen Strategie erkennt. Um die Teilprozesse als Bestandteil einer Signatur zu erkennen muß Zusammenhang hergestellt werden. Die Signatur hat m.E. fünf Phasen. Das ist zunächst 1. die lange Phase der Verarmung des Bildungswesens. Das beginnt Ende der 60er Jahre als Reaktion auf die "Demokratisierung" der Hochschulen und die Egalisierung des Zugangs zu den Hochschulen. Die "Reformuniversität" ist in gewisser Hinsicht eine gezähmte Variante der Idee der "Universität im Widerstand" gewesen, welche mit Polizeigewalt in Frankfurt und in Berlin nach symbolischem Widerstand beendet worden war. In den "Reformuniversitäten" wurde eine emanzipative Bildungsausrichtung vorgenommen. Als Gegenreaktion könnte man in diesem Kontext die Einfrierung der Hochschulfinanzierung über Jahrzehnte - bis in die Gegenwart hinein, verstehen, durch die die Universität zur Massenuniversität verkam und eine massive Bildungs- und Hochschulkrise sukzessive ausgelöst wurde. In der Hochschulkrise manifestiert sich schließlich seit Anfang der 90er Jahre ein Sachzwang, der die zweite Phase markiert. Der Sachzwang erzeugt unweigerlich einen inneruniversitären Sparzwang, will man den status quo erhalten. Der Sparzwang brach wie ein Naturzwang über die Hochschulen ein. Aber diese Sachzwanglogik hat man forciert, indem man einen Sachzwang seit 68 einfach und bewußt gewollt hat entstehen lassen. - Seit 68, weil es eine Reaktion auf 68 gewesen ist. Wenn man die linke Hegemonie schon nicht verhindern und nun nicht einfach durch eine konservative wieder ersetzen konnte, dann hat man eben von staatlicher Seite die Hochschule austrocknen lassen. Verschärft hat sich diese Strategie seit Ende der bipolaren Weltordnung. Denn der Sozialstaat hat im Westen eben auch - und vermutlich hauptsächlich - die Funktion eines Konkurrenzmodells zum real existierenden Sozialismus erfüllt. In dem Augenblick, wo der real existierende Sozialismus sich auflöste, wurde demzufolge auch der Sozialstaat aus Sicht der herrschenden Eliten obsolet, d.h. sie konnten ihn abbauen, ohne ernsthafte Gegenwehr zu befürchten. Der Abbau des Sozialstaats erfolgte ebenso mit dem Argument des Sachzwangs. Der Sachzwang erscheint als Naturzwang ohne Alternative. Aber dahinter stehen bewußte und gewollte politische Entscheidungen der herrschenden Eliten. Der Sozialstaat wird in Deutschland nicht über allgemeine Steuern, sondern über Arbeit und Einkommen finanziert. Eine hohe Arbeitslosigkeit und eine schwache Binnenkonjunktur, Stagnation des Wirtschaftswachstums reißen demzufolge riesige Löcher in die Sozialkassen. Die Lösung besteht angeblich einzig darin, die Sozialleistungen zu verringern. Negt kommentierte diesen Umstand im Dezember 1997 auf unserem Perspektivkongreß in Hannover während der bundesweiten studentischen Proteste ("lucky streik"). Er ging auf das Argument ein, "wir" - wie es heißt - könnten uns den Sozialstaat nicht mehr leisten: "Wer ist [mit ›wir‹] gemeint? In dieser Shareholder-Gesellschaft, in dieser auf Aktien, auf Dividende gehenden Wirtschaft nimmt das den Charakter einer Existenzaussage an. Da ist zunächst der Unterschied zwischen Frankreich, Dänemark und England, bezüglich der Sozialkosten, hervorzuheben. In allen (...) europäischen Ländern außer Deutschland ist ein Teil der Sozialkosten steuerfinanziert, d.h. über das Gemeinwesen, über die Steuern verteilt. Deutschland gehört zu den Ländern, in denen alles arbeitsfinanziert ist, also auf Arbeitsplätze und auf Einkommen fixiert. (...) Die einzige Möglichkeit, diesen Sozialstaat in der Substanz zu erhalten, selbst unter Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit, ist eben die Finanzierung über Steuern, über allgemeine Steuern. Das wäre eine Gemeinwesenfinanzierung, die den gegenwärtigen Privatisierungswahn bräche. Die ausschließlich arbeitsplatz- und arbeitsbezogene Finanzierung ist ein verschwenderischer, am Ende gar die demokratischen Verhältnisse bedrohender Irrtum."[11] Mit dem Abbau des Sozialstaats wurde dann auch der freie Zugang zur Hochschulbildung eingeschränkt. - Verloren ging allmählich der Rechtfertigungszwang gegenüber dem Anspruch einer humanen und sozial gerechten Welt, weshalb die Eliteförderung wieder gestärkt hervor ging. Daß der Rechtfertigungszwang verloren ging, sieht man auch an dem Frontalangriff gegen Begriffe wie ›Utopie‹, ›Marxismus‹, ›Kritik‹, ›Intellektuelle‹ etc., der seit Anfang der 90er in den Feuilletons ausgefochten wurde. Man denke nur an Joachim Fests etwas albern anmutenden, aber dennoch sehr wirksam gewesenen Utopien-Verbot - oder an das von Francis Fukuyama verkündete "Ende der Geschichte". Dieser Frontalangriff ging soweit, daß Werte überhaupt - also auch konservative Werte - unter Ideologieverdacht gerieten, will man Roman Herzog Glauben schenken, der sich als Konservativer darüber mokierte - eben weil es auch konservative Werte gibt. Jedenfalls forderte er 1997 in seiner "Ruck-Rede" die Besinnung auf einen "Wertekatalog".[12] Bei Herzog erscheint allerdings die Forderung nach Wertorientierung der Bildung nur als eine salvatorische Klausel[13]. Er sagte: "(...) Bildung darf sich nicht auf die Vermittlung von Wissen und funktionalen Fähigkeiten beschränken! Zur Persönlichkeitsbildung gehören neben Kritikfähigkeit, Sensibilität und Kreativität eben auch das Vermitteln von Werten und sozialen Kompetenzen."[14] Das klingt eigentlich nicht ganz schlecht, ist aber von Herzog gar nicht wirklich so gemeint gewesen. Einmal an den Anfang seiner Rede gestellt, wird es wie ein Feigenblatt verwendet, um noch etwas verschämt dahinter die Geschlechtsorgane des Neoliberalismus zu verstecken, die aber im Zuge seiner Rede immer mehr anschwellen, daß kein Feigenblatt der Welt die potente Scham verbergen könnte. Was Herzog unter "Werten" versteht, stimmt nicht einmal mit dem überein, was früher einmal einseitig als humanistische "Geistesbildung" verstanden wurde und wogegen etwa Adorno einen dialektischen Bildungsbegriff im Rekurs auf Schillers Verständnis von ästhetischer Erziehung, d.h. die Bildung einer Gesellschaft und der Menschen nach ästhetischen Prinzipien, in Anschlag brachte.[15] Herzog meinte mit "Werten" eher Gesinnung und Sekundärtugenden, also schnöde Erziehung - wenngleich ohne Rohrstock. Aber erzieherische Werte sollen in den Unterricht wieder offensiver eingebaut werden, eine "Kultur der Selbständigkeit und Verantwortung" auch und vor allem für Familie soll propagiert werden, und die Tugenden der Verläßlichkeit, Pünktlichkeit, Disziplin, Nächstenliebe, die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung, Toleranz auf Basis eines eigenen Standpunktes (Herzog meinte wohl eher ›Leitkultur‹), Traditionsbewußtsein (›nationale Identität‹?) sollen stärkeres Gewicht verliehen werden. An anderen Orten und Stellen werfen Konservative den 68ern gerne vor, diese Werte in den Dreck gezogen und einen Gleichgültigkeitsnihilismus wirkmächtig gemacht zu haben, welcher in die Bildungsstrukturen eingesickert sei und die Erosion hervorgerufen habe, d.h. verantwortlich sei für die Hochschulmisere. Das ist natürlich Quatsch - und wenn da was dran sein sollte, dann wurde zumindest die Folge mit der Ursache verwechselt. Die undogmatische Linke war leider nicht sehr selbstbewußt in dieser Zeit. Obwohl ihre Affinität zum real existierenden Sozialismus, in dem der Marxismus zur Legitimationswissenschaft korrumpiert worden war, denkbar gering gewesen ist, war die Linke nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ziemlich gelähmt und von einem bleiernen Bewußtsein erfaßt. Eh sie sich besann, war sie geschrumpft aufgrund politischem Konvertitentums und Opportunismus ("Geisteskrankheit der Intellektuellen", Negt) und die neoliberale Sachzwanglogik bereits umfassend zur Tat geschritten und hatte grundlegende Evaluationen an den Hochschulen vorbereitet, die nur noch umgesetzt werden mußten und gegen die sich nur vergeblich einiger Widerstand formierte. Schließlich kam die dritte Phase: die Phase der Evaluation. Evaluationen sind Effizienzanalysen; sie fanden unter Maßgabe statt, die Hochschulen "kundenfreundlicher" zu machen und erhöhten den Zwang zu massiven Einsparungen und Umstrukturierungen nach neoliberalen Kriterien. Die "Kundenorientierung" funktionierte wie ein trojanisches Pferd, die in der Hochschule eine zunehmend breiter werdende Anhängerschaft fand.[16] Die Studienabbrecherquoten - insbesondere in den Sozialwissenschaften - waren immens hoch. Durch Umstrukturierungen sollten die Quoten verbessert und das Studium insgesamt verkürzt werden. Mit der Einführung von Verwaltungs- und Studiumsgebühren wurde die Statistik nebenbei bereinigt, indem das soziale Moratorium abgeschafft wurde. Die vierte Phase hängt mit der dritten eng zusammen; sie ist gleichsam mit ihr identisch. Erneute Effizienzanlaysen und eine Umverteilung der Gelder sorgen für den Aufbau einer neuen und für das Absterben der alten Universität in denselben Gebäuden, indem "ineffiziente" noch nicht "reformierte" Strukturen negativ sanktioniert werden und in der Folge schrumpfen. Vermeintlich "effizientere", neoliberal reformierte Strukturen werden positiv sanktioniert und können sich in der Folge vergrößern. Die letzte, fünfte Phase steht wohl kurz bevor. Sie besteht aus einer massiven Finanzierung des Bildungswesens, nachdem eine auf künstlich erzeugter Sachzwanglogik basierende Umstrukturierung nach neoliberalen und betriebswirtschaftlichen Kriterien stattgefunden hat. Diese Phase läßt noch auf sich warten. - Die Staatsgelder, die dafür vorgesehen sind, fließen im Augenblick noch z.B. in die Eigenheimzulage. Neoliberale Strategie von wem?Wenn von Strategie die Rede ist, dann ist zu fragen, wer sich diese Strategie ausgedacht hat. Es sind die herrschenden Eliten, die diese Strategie verfolgen - aber nicht im Sinne einer Verschwörung oder Absprache, sondern sie folgen einer bestimmten, hegemonial gewordenen Ideologie - der Ideologie des Neoliberalismus, die zum umfassenden Organisationsprinzip von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft geworden ist. Das Organisationsprinzip läßt sich schnell (dafür aber abstrakt) umschreiben: Es geht um eine betriebswirtschaftliche Sicht auf die Gesellschaft. Sämtliche Institutionen, Gesellschaft insgesamt, werden betrachtet, als handele es sich um Betriebe. Es geht dabei um Abwälzung von staatlicher und kollektiver Verantwortung durch Privatisierung gesellschaftlicher und staatlicher Verantwortung und Individualisierung gesellschaftlicher Risiken. - Diese Verbetriebswirtschaftlichung findet sich in sämtlichen Institutionen, sei es in der Gesundheitsfürsorge, in der Arbeits- und Sozialfürsorge oder auch im Theater. Die Ausbreitung der neoliberalen Ideologie begann Mitte der 70er Jahre mit der Verleihung des Nobelpreises an den Ökonomen Milton Friedman - der Kopf der sogenannten Chicago Boys (oder Chicago School). Friedmann entwickelte eine "volkswirtschaftliche" Lehre des Neoliberalismus, die dann das erste Mal in Chile (unter den Bedingungen der Dikatur) und danach bereits in Großbritannien unter Margret Thatcher praktiziert wurde. Im Anschluß trat die neoliberale Ideologie ihren Siegeszug über die ganze Welt an. Wo sind die neoliberalen Kräfte in der Politik in Deutschland? Dazu Vester: "Der harte Kern der Neoliberalen ist sehr klein, was man an der Größe der FDP sieht. Aber sie haben ausgesprochen viele Parteigänger in den führenden Fraktionen der Massenparteien. Eine Art Amalgam des Neoliberalismus mit dem Konservativismus wird vertreten durch Wolfgang Schäuble. Gerhard Schröder vertritt ein Amalgam von neoliberalen mit populistisch-sozialen Vorstellungen. Das bedeutet, daß, obwohl die Gruppe der neoliberal Denkenden sehr klein ist, die Gruppe derjenigen, die ihnen die Steigbügel halten, sehr breit ist."[17] Die Lehre wird hegemonial in der Wirtschaft, an Universitäten, und vor allem im Journalismus etc. vertreten. - Aber was vermutlich das entscheidende ist: es gibt eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung - nicht unbedingt eine wirkliche aktive Zustimmung, sondern eine passive Akzeptanz, und diese reicht aus damit die neoliberale Herrschaft fest im Sattel sitzt. Herrschaft - das sah Max Weber ganz richtig - beruht auf Anerkennung. Damit möchte ich schließen. Es ist hoffentlich deutlich geworden, daß im Bildungs- und insbesondere im Hochschulwesen kein anderer oder besonderer Ungeist spukt im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Institutionen. Daß die Hochschule kein abgeschlossener, exterritorialer Raum ist - und daß dies anfänglich wie eine Binsenweisheit nur erscheint. Die neoliberale Ideologie zerstört das Gemeinwesen, indem sie das gesellschaftliche Ganze nicht im Blick hat und nach betriebswirtschaftlichen Kriterien umstrukturiert. Gesellschaft ist aber kein Betrieb, und sie funktioniert auch nicht wie ein Betrieb, und sie ist mehr als die Summer aller Betriebe, sogar mehr als die Summe aller ihrer Teile. Vielen Dank. Anmerkungen:[1] Zweiter Einführungsvortrag für das Protestcolloquium "Kritik und Wissenschaft" am 26.April 2005. [2] Wenn ich den Begriff des Neoliberalismus verwende, dann mit dem Wissen, daß es sich dabei um eine ideologische Chiffre handelt. Es geht um einen Kapitalismus ohne Beißhemmungen, wie Oskar Negt sagt. Weil diese Chiffre aber sehr wirkmächtig ist, ist es gerechtfertigt, sie zu benutzen, wenn man sich zugleich darüber im Klaren ist, daß Kritik am Neoliberalismus gleichbedeutend mit einer Kritik des Kapitalismus einher geht. [3] Roman Herzog: Aufbruch in die Bildungspolitik, Rede des Bundespräsidenten am 5. November 1997 in Berlin, in: Michael Rutz (Hg.): Aufbruch in die Bildungspolitik. Roman Herzogs Rede und 25 Antworten, München 1997, S. 25. [4] Herzog, a.a.O., S. 27. [5] Oskar Negt: Plädoyer für einen neuen Bildungsbegriff, in ders.: Keine Demokratie ohne Sozialismus. Über den Zusammenhang von Politik, Geschichte und Moral, Frankfurt a.M. 1976, S. 357. [6] Herzog, a.a.O., S. 22. [7] Marcus Hawel: Zur Dialektik der Bildung, in: Marcus Hawel / Susanne Schmidt: Vom Nutzen der Kritik, Perspektiven der Studierenden und ihrer Proteste, Hannover 1998,Vom Nutzen der Kritik, S. 56. [8] Michael Vester im Gespräch mit Marcus Hawel und Susanne Schmidt: Chancengleichheit oder "Interne Ausgrenzung"? Zur Legitimierung sozialer Ungleichheit in einer reichen Gesellschaft, in: Hawel / Schmidt (Hg.), a.a.O., S. 32. [9] Vgl. Vester, a.a.O., S. 21. [10] Z.B. die Forderung, daß Studiengebühren den Universitäten zugute kommen sollen. [11] Oskar Negt: Die betriebswirtschaftliche Ideologie droht die Universitäten zu erfassen, in: Hawel / Schmidt (Hg.): Vom Nutzen der Kritik, a.a.O., S. 80. [12] Vgl. Herzog, a.a.O., S. 18. [13] Ein Rechtssatz, der nur gilt, wenn andere Normen keinen Vorrang haben. [14] Herzog, a.a.O., S. 18. [15] Vgl. Marcus Hawel: Zur Dialektik der Bildung, in: Hawel / Schmidt, a.a.O., S. 49-63. - Siehe auch Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung, in: Soziologische Schriften 1, Frankfurt a.M. 1979. [16] Z.B. Ursula Hansen. - Siehe Ursula Hansen: Universität als Dienstleister. Thesen für ein leistungsfähiges Management von Hochschulen, in: Hawel / Schmidt: Vom Nutzen der Kritik, a.a.O., S. 64-76. [17] Michael Vester im Gespräch mit Marcus Hawel und Susanne Schmidt, a.a.O., S. 28. Protestcolloqium "Kritik und Wissenschaft" Kontext:
sopos 4/2005 | ||||||
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