Den Aufsatz kommentieren Gesamtgesellschaftliche Kriminalitätsvorsorgevon Kai Rogusch"Sicherheit" als gesellschaftlicher Wert kann keinen dauerhaften Zusammenhalt gewährleisten. Vielmehr untergräbt der Präventionsdiskurs langfristig jede Form eines gedeihlichen Zusammenlebens. Politiker fordern in den Diskussionen über die anstehenden "Wirtschaftsreformen" häufig eine verstärkte Risikobereitschaft des Bürgers: Er solle sich in den kommenden Jahren auf den frischen Wind der "Freiheit" einstellen und in einer neuen "Innovationskultur" das Land aus der Krise führen. Doch gleichzeitig institutionalisiert eine alle anderen Politikfelder überwölbende Kriminalpolitik das Gegenteil: das lähmende Prinzip der Risikominimierung, begleitet von einem Abbau elementarer Freiheitsrechte. Die ängstliche parteiübergreifende Annahme lautet: Wir leben in einer Zeit ständig steigender Kriminalitätsrisiken, angesichts derer die gesamte Gesellschaft im Zusammenwirken mit allgegenwärtigen Sicherheitsbehörden Schutz- und Vorsorgemaßnahmen ergreifen muss. Kriminalitätsbekämpfung gilt heute als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ist also nicht nur Sache von Polizei und Staatsanwaltschaften. Seit der zweiten Hälfte der 90er-Jahre sind nahezu überall Präventionsräte entstanden - auf kommunaler, Landes- und in Form des Deutschen Forums für Kriminalprävention mittlerweile auch auf Bundesebene. Sie werden entsprechend als "Innovationsmotoren einer zukunftsweisenden Sicherheitspolitik" gepriesen. Solche Präventionsräte vereinen sämtliche gesellschaftlich anerkannten Repräsentanten der Städte, Gemeinden, Länder und des Bundes zum Zwecke der Beseitigung langfristiger Ursachen oder "Wurzeln" von Kriminalität. Ein Vorzeigebeispiel für derartige kommunale Präventionsräte hat Frankfurt am Main zu bieten. In ihm sitzen unter anderen die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU), der Frankfurter Polizeipräsident Harald Weiss-Bollandt und die Dezernenten für Soziales, Integration und Sicherheit. Die dem Frankfurter Präventionsrat untergliederten stadtteilbezogenen Regionalräte umfassen zudem auch Vertreter von Kirchen, Sportvereinen, Schulen, Kindergärten und Wohlfahrtsverbänden. Ziel der Organisation ist es, dass Polizei, Bürger, Schulen und Vereine in den Stadtteilen eine so genannte "Sicherheitspartnerschaft" eingehen. Jeder Teilnehmer soll zudem seinen Beitrag dazu leisten, städtische Verwahrlosungserscheinungen, die langfristig zu Kriminalität führen könnten, zu erkennen, zu benennen und somit in einem "Frühwarnsystem" Handlungsempfehlungen an die entsprechenden politischen und administrativen Einrichtungen der Stadt zu richten. In einer Zeit zunehmender Individualisierung und sozialen Zerfalls verspricht man sich aus Aktionen wie diesen neue Impulse für die gesellschaftliche Solidarität sowie ein gesteigertes Sicherheitsgefühl unter den Bürgern. Auch das seit dem Jahr 2001 wirkende Deutsche Forum für Kriminalprävention (DFK) institutionalisiert die Abkehr von der traditionellen Vorstellung der Kriminalitätsbekämpfung: Diese soll nicht mehr nur den spezialisierten staatlichen Organen wie Polizei und Staatsanwaltschaft überlassen werden. Zudem wird auch an einer zweiten Prämisse gerüttelt, nämlich dass Polizei und staatliche Stellen entweder objektiv bereits begangene Straftaten verfolgen oder unmittelbar drohende Rechtsgutsverletzungen verhindern. Das DFK vereint Politiker der Bundesregierung, der Länder und Gemeinden sowie Repräsentanten wichtiger Verbände, Firmen und Kirchen - darunter des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, der Gewerkschaft der Polizei, der Deutschen Industrie- und Handelskammer, der Deutschen Bahn, der Evangelischen Kirche Deutschlands, des Zentralverbands der Juden in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz. Sie alle haben sich der Kriminalprävention verpflichtet. Im Rahmen einer bundesweiten "Bündelung der Kräfte" sollen sich sämtliche wichtigen gesellschaftlichen Akteure in ihrem jeweiligen Tätigkeitsgebiet, wie etwa dem Sport (Deutscher Fußballbund), dem Arbeitsmarkt oder dem Schulwesen, in den nun neu geschaffenen bundesweiten Diskussionsforen auf Handlungsempfehlungen zur Bekämpfung der "mannigfaltigen und komplexen" Ursachen der Kriminalität verständigen. Das soll in Zusammenarbeit mit wichtigen Repräsentanten der Bundes- und Länderpolizeien geschehen. Die Themenbreite umfasst von der Wirtschaftskriminalität über die Gewaltkriminalität bis hin zur Jugendkriminalität ein ganzes Spektrum sozialer Verfallserscheinungen, deren Wurzeln sich sämtliche Akteure der Gesellschaft im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen "Frühwarnsystems" zuwenden sollen. Da nach vorherrschender Auffassung Kriminalprävention nicht früh genug anfangen könne, soll ein Hauptaugenmerk vor allem auf der Jugendkriminalität liegen. Hier gelte es, besonders die "Erziehungskompetenz" von Schulen und Familien zu stärken, da diese beiden Institutionen für die Vermittlung elementarer Regeln des Gemeinwesens entscheidende Bedeutung hätten. Schulen und Familien sollen Hand in Hand mit der Polizei potenzielle Ursachen von Kriminalität erkennen und angehen. Auch auf anderer Ebene soll die Polizei verstärkt in Diskussionsprozesse und Planungen mit einbezogen werden - beispielsweise beim Städtebau, um kriminogene städtebauliche Ursachen der Kriminalität anzugehen. Entsprechendes gilt für den Sport- und Kulturbereich: "Musik gegen Gewalt" oder "Fußball gegen Rechts" lauten hier die Stichworte. Auch Wirtschaftsunternehmen werden bei solchen Initiativen verstärkt und bereitwillig in die Pflicht genommen. Noch nie wurde der öffentliche, private und politische Raum derart allumfassend und systematisch um das Thema Sicherheit herum organisiert. Zudem hat es zuvor wohl noch nie eine derart verdrossene und angsterfüllte Krisenstimmung in Deutschland gegeben. Und noch nie war die Legitimitätskrise der Politik so akut. Auf welchem Feld der Politik auch immer: Alles scheint aus dem Ruder zu laufen. Der allgemeine Eindruck ist, dass die traditionell für die Sinnstiftung vorgesehenen Institutionen in öffentlichem und politischem Leben (Kirchen, Gewerkschaften oder Parteien) längst die Orientierung verloren haben, wodurch der Problemdruck immer größer wird. In diesem Klima der Verdrossenheit, des Misstrauens und der Verunsicherung versuchen Repräsentanten von Parteien und Verbänden, unter dem neuen institutionellen Dach der Präventionsräte über das Thema "Risikovorsorge" Autorität zurückzugewinnen. Mit dem so neu gewonnenen konzeptionellen Bezugspunkt soll die Verständigung mit einer verunsicherten Bürgerschaft wieder aufgenommen werden. Und in der Tat kommen die neuen Präventionsräte gut an. Unter ihrem institutionellen Dach kann die Politik auf den Feldern des Arbeitsmarktes, der Sozial-, Familien- und Wirtschaftspolitik auf neue Weise mit den Bürgern ins Gespräch kommen, indem alles unter den Gesichtspunkt der Sicherheit subsumiert wird. Die Probleme am Arbeitsmarkt werden unter dem kriminalpolitischen Gesichtspunkt der präventiven Reintegration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt diskutiert. Das Problem einer stagnierenden Wirtschaft lässt sich durch die vermehrte Bezugnahme auf das Thema "Wirtschaftskriminalität" angehen. Der Zerfall der Familie und die Gettoisierung von Stadtteilen und Schulen stellt man unter dem Gesichtspunkt der Gewaltprävention und der Erziehung zu einem multikulturellen und friedlichen Miteinander (schon von Kindesbeinen an) in einen neuen Sinnzusammenhang. Verunsicherte Bürger diskutieren zudem mit Kommunalpolitikern in den Präventionsräten, wie man durch die Änderung des städtischen Erscheinungsbildes und mit einem neuen Entwurf des Städtebaus die strukturellen Ursachen der Kriminalität beseitigen kann. Das Problem an dieser Entwicklung ist jedoch, dass die gegenwärtige Krise des politischen Lebens weiter verschärft wird. Durch den Rückgriff auf den Präventionsgedanken können Politik und Verbände abhanden gekommene zukunftsorientierte und positive Leitbilder nicht ersetzen. "Sicherheit" als gesellschaftlicher Wert kann keinen dauerhaften Zusammenhalt gewährleisten. Vielmehr untergräbt der Präventionsdiskurs langfristig jede Form eines gedeihlichen Zusammenlebens. Vor allem löst er unerlässliche Regeln einer aufgeklärten freiheitlichen Gesellschaft auf. Denn Kern der Institutionalisierung der Präventionsräte ist die Annahme, wir lebten in einer Zeit sich mehrender Kriminalitätsrisiken, gegen die die Ergreifung ständiger Vorsichtsmaßnahmen geboten ist. Dies führt letztlich zu einem morbiden Klima des Alarms und des Misstrauens, das das gesellschaftliche Leben lähmt. Ein gutes Beispiel hierfür bieten zwei Ministerien, die sich ebenso wie die Präventionsräte das Prinzip der Risikovorsorge auf ihre Fahnen geschrieben haben: das amerikanische Heimatschutzministerium und das deutsche Verbraucherschutzministerium. Ersteres soll die amerikanische Gesellschaft um die Abwehr künftiger terroristischer Anschläge herum organisieren. Das deutsche BMVEL gibt vor, den individualisierten Konsumenten angesichts perfider Agrar- und Lebensmittelkonzerne oder unlauterer Werbung zu schützen. Beide Ministerien geben in regelmäßigen Abständen Warnungen aus, die oft nur auf spekulativen Annahmen beruhen. Damit verstärken sie das allgemeine Unbehagen und bringen zum Teil buchstäblich den Verkehr zum Erliegen: so geschehen Weihnachten 2003, als alle Flüge zwischen Paris und Los Angeles wegen diffuser Terrorwarnungen vorsorglich abgesagt wurden. Bei allem gebührenden Respekt für die genuine Furcht vor neuen schrecklichen Terroranschlägen: Auf Dauer wirkt die Aufrechterhaltung eines wenigstens latenten Alarmzustands zersetzend auf die Moral aller Bürger. Indem die Präventionsräte die Kriminalitätsbekämpfung zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe erklären, stellen sie zudem rechtsstaatliche Errungenschaften in Frage. Es ist zum einen als ein gewaltiger zivilisatorischer Fortschritt zu betrachten, dass Kriminalitätsbekämpfung nicht als eine den gesamten Staat, geschweige denn als eine die gesamte Gesellschaft betreffende Aufgabe angesehen wird. Zum anderen sollte polizeiliches Eingreifen nur zur Verfolgung bereits begangener Rechtsgutsverletzungen und zur Verhinderung unmittelbar drohender Rechtsgutsverletzungen vorgesehen sein. Nur so kann die Polizei ihren einzig legitimen Zweck verfolgen: die Wiederherstellung, Bekräftigung und Verteidigung rechtlicher Vorgaben, ohne die eine Gesellschaft nicht existieren kann. Nur auf diese Weise ist zudem die Bindung der Exekutive an Gesetz und Recht gewährleistet. Schließlich sorgt die Verwirklichung dieses Prinzips dafür, dass es nicht zu einer Vermischung von Polizei, öffentlichem Leben und dem Privatleben der Bürger kommt. Gegen alle diese Grundsätze steht die Forderung einer "gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention", die auf allen gesellschaftlichen Gebieten schon die Entstehungsvoraussetzungen von Kriminalität bekämpfen will. So soll nach neueren Vorstellungen die Polizei eine Sicherheitspartnerschaft mit Eltern, Kindergärten und Schulen eingehen, um auf diese Weise das Heranwachsen krimineller Erwachsener zu verhindern. Hier reicht für polizeiliche Präsenz allein die Vermutung, dass in der Zukunft Kinder und Jugendliche, in so genannte "Risikokategorien" eingeteilt, kriminelle Gewohnheitstäter werden könnten. Polizeiliche Befugnisse verlieren zudem zusätzlich an Kontur, wenn in so genannten Nachbarschaftswachen im Rahmen kommunaler Kriminalprävention Sicherheitsbehörden zusammen mit den Bürgern an der Verhinderung künftiger Straftaten arbeiten wollen, oder wenn die Polizei gesicherte Mitwirkungsrechte beim kommunalen Städtebau erhält (siehe hierzu den Anhang: "Innovationen aus dem sicherheitspolitischen Gruselkabinett", im Anschluss an diesen Artikel). Auch auf einem anderen Gebiet schreitet die Aufweichung zentraler Prinzipien eines freiheitlichen Rechtsstaats voran: Kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht in einer Kompetenzentscheidung die Regelung der nachträglichen Sicherungsverwahrung zu einer Sache des Bundesgesetzgebers erklärt. Auf diese Weise hat das höchste deutsche Gericht zum einen die "Präventivhaft" grundsätzlich gutgeheißen, die sich auf einer Prognoseentscheidung gründet, die vorhersagt, dass ein Häftling irgendwann in der Zukunft eine weitere Gewalttat begehen wird. So unterstützt auch das Bundesverfassungsgericht die Annahme, der Staat habe das Recht, die Bevölkerung in Risikokategorien zu unterteilen und Bürgern, die in bestimmte Risikokategorien fallen, das Prinzip der Unschuldsvermutung vorzuenthalten. Zum anderen haben die Karlsruher Richter die Aufhebung der 10-Jahres-Frist für die Aufrechterhaltung der Sicherungsverwahrung für verfassungsgemäß erklärt: Schwere Gewalttäter können so nach Ablauf von zehn Jahren Sicherungsverwahrung nur noch dann freigelassen werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass keine Gefahren infolge eines Hangs zu erheblichen Straftaten mehr von ihnen ausgehen. Zwar geraten bislang nur Menschen in solche rechtsstaatlichen Fallstricke, die sich in der Vergangenheit wirklich gravierende Straftaten zuschulden haben kommen lassen und so "vernünftigerweise" mit einer "besonderen" Behandlung rechnen müssen: derzeit etwa 300 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von über 80 Millionen. Dennoch lassen jüngste erhitzte Forderungen vor allem der Unionsparteien den Schluss zu, dass die Zahl der in Sicherheitsverwahrung Inhaftierten in Zukunft weiter steigen wird. Vor allem nach den Terroranschlägen vom 11. März in Madrid haben die Unionsparteien mit ihren Vorschlägen zur Bekämpfung der "hoch gefährlichen" Gewaltkriminalität ein bedenkliches rechtspolitisches Neuland betreten: In einen sicherheitspolitischen Papier zum Aufbau eines "nationalen Heimatschutzes" erklärt die CDU die traditionelle Trennung von innerer und äußerer Sicherheit für aufgehoben und redet dem verstärkten Einsatz der Bundeswehr im Innern das Wort. Derweil redet Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) der präventiven Tötung potentieller Terroristen das Wort. Die Institutionalisierung des Präventionsgedankens wirkt genauso wie die Politisierung des "Ausnahmezustands" zersetzend für unser Rechtssystem. Dieser Trend führt tendenziell zu einer Gängelung, Verängstigung und Lähmung des Gemeinwesens. Politik und Verbände gießen mit der Einrichtung von Präventionsräten die bereits vorhandenen Ängste und das schon bestehende allgemeine Misstrauen in institutionelle Formen. Damit verschärfen Politik und Verbände gleichzeitig ihre eigene Legitimitäts- und Vertrauenskrise. So erweisen sich die Präventionsräte nicht als "zukunftsweisende Innovationsmotoren", sondern als gesellschaftliche und politische Krisenverstärker. Anhang: "Innovationen" aus dem Sicherheitspolitischen Gruselkabinett:"Wachsame Nachbarn in Bensheim" Kai Rogusch ist Redakteur des Frankfurter Zweimonatsmagazins novo, das sich kritisch mit dem politischen und gesellschaftlichen Alltag in Deutschland auseinandersetzt. Kontext:
sopos 7/2004 | |||||||||
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