Den Aufsatz kommentieren Vorsichtshalber erschießenIm Zweifel für den Beschuldigten - dieser Grundsatz wird im Zuge der medialen Verbrecherjagd zunehmend ausgehöhltvon Gregor Kritidis
"Polizei schwört: Du Mörder, wir kriegen Dich!"[1] titelte die Bild-Zeitung und eröffnete eine neue Runde der medialen Menschenjagd. Nachdem die Leiche des zuvor verschwundenen elfjährigen Mädchens Ulrike aus Eberswalde gefunden worden war, überboten sich die Boulevard-Medien von Tag zu Tag mit neuen "Sensationen". Man fühlte sich an die Berichterstattung über die Jagd auf Dieter Zurwehme erinnert, mit der 1999 das Sommerloch gestopft worden war. Wie jetzt im Fall "Ulrike" erfaßte breite Bevölkerungskreise eine Art Paranoia, und die Polizei führte eine Großfahndung durch, die in keiner Relation mehr zu der gleichzeitig in anderen Fällen betriebenen Verbrechensaufklärung stand. Wie bei der gegenwärtigen Fahndung nach dem Mörder von Ulrike war Zurwehme angeblich in mehreren Bundesländern gleichzeitig gesichtet worden. Das Verbrechen ist immer und überall - so lautete die schlichte Botschaft an eine Bevölkerung, die ohnehin in der gegenwärtigen historischen Phase tief verunsichert ist. Diese Unsicherheit mag tiefgreifende soziale Ursachen haben - die kollektive Jagd auf das Verbrechen bietet allemal psychische Entlastung. Wenn auch sonst nichts klar ist: gegen Gewaltverbrecher, zumal sexuell motivierte Täter, die sich an Kindern vergreifen, muß hart und konsequent vorgegangen werden, da ist man sich weitgehend einig. Hat jemand überhaupt die Straffreiheit für Kinderschänder und Mörder gefordert? Aber das ist vollkommen unwichtig, Sinn und Verstand muß diese Art der medialen Verbrecherjagd selbstverständlich nicht haben. So steht zu befürchten, daß auch diesmal bei "Deutschlands Jagd auf den Mörder" wie schon im Fall Zurwehme Unschuldige ihr Leben lassen müssen, da sie von einem nervösen Polizisten mit dem Phantombild des Verbrechers verwechselt werden. Der alltägliche Wahnsinn dieser Gesellschaft, wie er sich in solchen Medienkampagnen niederschlägt, ist nicht weit von dem Wahnsinn derjenigen entfernt, die ihre sexuellen Neigungen mit Gewalt an Minderjährigen ausleben. Einen wichtigen Aspekt der Verbrecherjagd bildete die erneute Diskussion um genetische Massentests. Der Vorschlag des CSU-"Rechtsexperten" Geis, gleich die Daten aller deutschen Männer in einer Gendatei speichern zu lassen, sorgte zwar für Aufsehen und wurde von einer Mehrheit des politischen Establishments abgelehnt. Unproblematisiert blieb dabei aber die bereits gängige, in die gleiche Richtung gehende Praxis: In der Vergangenheit hat es mehrere Fälle gegeben, bei denen bei der Fahndung nach Mördern massenhaft Speicheltests durchgeführt worden sind, etwa in Niedersachsen im Fall Christina Nytsch 1998. Mit dieser Tendenz in der Strafverfolgungspraxis wird Stück für Stück das rechtsstaatliche Prinzip, nach dem in einem Verfahren die Schuld des Verdächtigten bzw. Beschuldigten nachgewiesen werden muß, umgedreht. In Zukunft, so steht zu befürchten, gilt ein Generalverdacht gegen jedermann - der Vorschlag aus den Reihen der CDU belegt das deutlich.[2] Der sogenannte Kampf gegen das Verbrechen verfolgt offenbar ein anderes Ziel als die Verhinderung desselben. Besonders angesichts einer Aufklärungsrate bei Sexualdelikten von über 90% stellt sich die Frage, worin die Notwendigkeit von massenhaften Speicheltests oder einer Gendatei denn eigentlich besteht. Zudem ließen sich sexuell motivierte Gewalttäter vermutlich nicht einmal von einer Aufklärungsquote von 100% abschrecken. Die Frage, warum eigentlich nur Männer in die Gendatei sollen, hätte dagegen in die richtige Richtung führen können: Was ist das für eine (von Männern dominierte) Gesellschaft, die Männer hervorbringt, die derartige Gewalttaten verüben? Warum gibt es keine Frauen, die so etwas machen? Und wie kommt es, daß Menschen angesichts einer relativ geringen Bedrohung durch sexuell motivierte Gewaltverbrecher in Panik ausbrechen, und in den Medien eine Suppe angerührt wird, die alle möglichen Konsequenzen, keinesfalls jedoch den Schutz vor Verbrechen zur Folge hat? Statt dessen medial organisiertes Mitgefühl und die Auflagen und Einschaltquoten steigernde Kanalisierung von Aggressionen auf das "Unnormale". Der alltägliche Wahnsinn dieser Gesellschaft, wie er sich in solchen Medienkampagnen niederschlägt, ist nicht weit von dem Wahnsinn derjenigen entfernt, die ihre sexuellen Neigungen mit Gewalt an Minderjährigen ausleben. Aber in der Grundstruktur soll diese Gesellschaft so bleiben, wie sie ist. Im Zweifelsfall soll der Staat mit seinem Gewaltmonopol dafür sorgen. Der autoritäre Staat - sein Gesicht zeigt sich deutlich in der Debatte um die Verbrechensbekämpfung mittels genereller Überprüfung potentieller Täter - soll den Wahnsinn dieser Gesellschaft aufrecht erhalten. Um die sozialen Wurzeln des Verbrechens, das ja immer eine gesellschaftliche Norm voraussetzt, gegen die verstoßen wird, geht es kaum noch. Anmerkungen[1] Bild-Zeitung vom 13. 3. 2001. Der Doppelpunkt wurde von mir eingefügt. [2] In Teilbereichen des Strafverfolgungspraxis ist das seit langem gängige Praxis; so stehen Teilnehmer von Demonstrationen gegen Nazis oder Castortransporte allemal unter dem Generalverdacht, gewalttätig zu sein, auch wenn ihre "Gewalttätigkeit" allein darin besteht, rechtswidrige Demonstrationsverbote nicht zu akzeptieren. Kontext:
sopos 3/2001 | ||||||
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