Den Aufsatz kommentieren Neue Abgründe in der rechtspolitischen Debattevon Kai RoguschDer Trend zur allgemeinen Skandalisierung und die wachsende Obsession mit menschlichen Abgründen prägen die moderne Medienlandschaft und die öffentlichen Debatten. Nun greifen offenbar auch renommierte rechtspolitische Zeitungen verstärkt exzentrisch anmutende Diskussionen über gesellschaftspolitische Randbereiche auf. So veröffentlichte die Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) Anfang diesen Jahres einen Beitrag über die Behandlung von Fällen des so genannten "Haustyrannenmords". Der Autor dieser ausführlichen Schrift ist Staatsanwalt am Landgericht Frankfurt am Main und führt in der ZRP 1/2004 aus, was darunter zu verstehen ist: Eine von ihrem Mann fortwährend gepeinigte Frau darf ihren Lebenspartner umbringen und die Tat vor Gericht unter Umständen als präventive Notwehr deklarieren. Sie agiert quasi vorauseilend, um folgendes Szenario zu verhindern: Ein "Haustyrann" schlägt immer wieder seine Frau, und immer wieder verzeiht sie ihm, kehrt zu ihm zurück, doch mit jedem Male wird die Gewalt schlimmer und die Abhängigkeit der Frau wächst und wächst - so lange, bis der Mann die Frau totschlägt. Psychologen behaupten, dieser "Circle of Violence" sei ab einem bestimmten Stadium innerhalb der Gewalteskalation in der Partnerschaft wissenschaftlich vorhersehbar. Das Problem sei nun, dass, wenn schließlich tatsächlich eine akute Notwehrsituation eintrete, welche der Ehefrau auch die Tötung ihres Ehemannes strafrechtlich erlaubte, die Frau sich aufgrund ihrer körperlichen Unterlegenheit naturgemäß nicht mehr wehren könne. Deshalb müsse man darüber diskutieren, ob man Frauen nicht schon zu einer vorbeugenden Notwehr in Form des "Haustyrannenmordes" berechtigen solle. Die Frage stellt sich sogleich: Wenn die Frau zu einer solchen vorbeugenden Tötung berechtigt wäre - hätte der Mann dann kein Recht auf Notwehr gegen die vorbeugende Tötung? Wenn nicht, wäre er in seiner Beziehung sozusagen vogelfrei. Es mutet schon arg befremdlich an, über welche Szenarien in einer Zeitschrift des gediegenen rechtspolitischen Diskurses spekuliert wird. Abgründe am toten Punkt gesellschaftlicher StagnationDiskussionen dieser Art spiegeln die wachsende Konzentration eines zunehmend morbiden rechtspolitischen Diskurses auf gewaltsame Ausnahmephänomene und private Randbereiche unserer Gesellschaft, ganz gleich ob Kindesmissbrauch, Sexualmorde oder Terrorakte. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass es in unserer Gesellschaft zerstörte Privatbeziehungen gibt, innerhalb derer die Tötung eines Lebenspartners durch die "Gegenseite" einer differenzierten strafrechtlichen Bewertung bedarf. Dennoch ist mit Blick auf solche und andere gesellschaftlichen Randerscheinungen festzustellen, dass sie neuerdings eine überproportionale Aufmerksamkeit erfahren, wodurch der Eindruck eines allgemeinen "Ausnahmezustandes" in deutschen Schlaf- und Wohnzimmern verstärkt wird. Die Themen "häusliche Gewalt" oder "Gewalt im sozialen Nahraum" haben in den letzten Jahren die bundesdeutsche Gesetzgebung zu einer Fülle von neuen Initiativen zum "Schutz" vor dem Bösen in den eigenen vier Wänden veranlasst. Vor allem die "Gewaltschutzgesetze" offenbaren eine verstärkte Aufmerksamkeit der Politik gegenüber privaten partnerschaftlichen Beziehungen, die verstärkt problematisiert und politisiert werden. Doch zeigt sich eine ähnliche rechtspolitische Entwicklung auch in ganz anderen Lebenslagen und gesellschaftlichen Bereichen: So trägt die anhaltende Berichterstattung über "hoch gefährliche" Gewalttäter und die Gefahren des "internationalen Terrorismus" ebenfalls nicht unerheblich zu einem Empfinden allgegenwärtiger Krisen und Gefahren bei, die uns überall treffen können. Verstärkt rücken dadurch auch die Mittel eines Staates ins politische und öffentliche Blickfeld, mit denen man gegen die ausnahmsweisen Erscheinungen der Schwerstkriminalität vorzugehen gedenkt. So drehen sich politische Debatten über die Bekämpfung schwerer Gewaltkriminalität um den strafrechtlichen "Fremdkörper" Sicherungsverwahrung, der eine weitere Inhaftierung eines Gewalttäters auf psychiatrische Prognosegutachten gründet: nicht auf ein Gerichtsurteil, das die Schuld des Täters an einer bereits in der Vergangenheit begangenen Straftat zweifelsfrei feststellt. In dieselbe Richtung gehen vor allem die Forderungen der Unionsparteien zur "tatsachengestützten" Verdachtsausweisung potenziell terroristischer Ausländer oder deren Unterbringung in "Sicherungshaft". Zahlreiche Debatten in der Gesetzgebung wie auch der Wissenschaft und Publizistik beschäftigen sich heute mit kniffligen Fragen, die für eine tiefe Beklommenheit sorgen: Dürfen Polizisten foltern, um die Explosion einer schmutzigen Bombe zu verhindern? Dürfen Kampfjets ein vollbesetztes Passagierflugzeug abschiessen, wenn es zur Gefahr für hunderte oder tausende Bürger wird? Und überhaupt: wie hätten Sie im Fall des Jakob von Metzler als verantwortlicher Beamter entschieden? Diese beklemmenden Was-wäre-wenn-Fragen prägen immer mehr unseren rechtspolitischen Diskurs und veranlassen den Gesetzgeber zu Initiativen, die sich als "Vorsorgemaßnahmen" am worst case scenario ausrichten : dazu zählt nicht nur das am 18. Juli diesen Jahres vom Bundestag beschlossene "Luftsicherheitsgesetz", sondern auch die grundsätzliche Überlegung, die "Sicherheitsarchitektur" auf bundesdeutscher wie auch europäischer Ebene an der "epochalen" Bedrohung durch den internationalen Terrorismus auszurichten. Der rechtswertungsfreie RaumPublizisten beschäftigen sich verstärkt mit sogenannten "tragischen Konflikten", die nur innerhalb eines "rechtswertungsfreien Raumes" zu bereinigen seien. So schrieb vor kurzem der Jurist Dr. Josef Lindner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15.10.2004 in seinem Beitrag Tragische Konflikte: "Tragische Konflikte, aus denen es kein Ausweg und in denen es keine richtigen Entscheidungen gibt, bringen auch die Rechtsordnung in Schwierigkeiten. Die hergebrachte Alternative `rechtmäßig' oder `rechtswidrig' versagt. Notwendig ist eine neue Kategorie: der rechtswertungsfreie Raum". Lindner schlägt vor, eine "Dogmatik des rechtswertungsfreien Raumes" zu entwickeln und sie in das System der Rechtsordnung einzupassen: "So müßten im Fall der Anordnung von Gewalt zur Herbeiführung einer Aussage gesetzlich die Voraussetzungen geregelt werden, unter denen ein tragischer Konflikt angenommen werden kann. Es müßte in der rechtlichen Regelung sodann unmissverständlich zum Ausdruck kommen, dass die Anwendung von Gewalt zwar ausnahmsweise zugelassen, jedoch nicht für rechtmäßig erklärt wird, sondern in den rechtswertungsfreien Raum fällt." Lindner schwebt hier nichts anderes vor als die Implementierung des Ausnahmezustandes in unsere Rechtsordnung. Zwar sieht er für eine derartige Praxis "verfahrensmäßige Absicherungen" vor. Aber gerade dies bestätigt den Befund einer Institutionalisierung des Ausnahmezustandes. So spricht sich Lindner für ein "Hinzuziehen eines Richters" aus, und er verlangt eine "sorgfältige Dokumentation und Berichterstattung im Parlament". Dass solche Überlegungen heute an prominenter Stelle in renommierten Publikationsorganen geäußert und als ernst zu nehmender rechtspolitischer Beitrag verstanden werden können, verrät viel über unser gegenwärtiges morbides visionsloses Klima in unserer Gesellschaft: Nicht nur die Vorschläge zur Streichung von wichtigen Nationalfeiertagen oder zur Rückkehr der 40- oder 50 oder gar die Thematisierung der "100"-Stundenwoche (Gutshaus - Abenteuer 1900) zur "Rettung" unserer Wirtschaft verfinstern heute zunehmend unsere Stimmung. Solche "Diskurse" werden jedenfalls unsere Gesellschaft und Wirtschaft nicht aus der Krise führen können, sondern uns eher weiter in die Sackgasse führen und unser gesellschaftliches Klima weiter vergiften. Wer die Diskussionen über die "Notwendigkeit" weiterer Gesetzesverschärfungen zur Bekämpfung der "hoch gefährlichen" Gewaltkriminalität samt deren juristischer Behandlung etwas genauer verfolgt, der erkennt obendrein leicht die Gefahr einer Zersetzung unserer freiheitlichen Rechtsordnung und der Idee des freien und gleichen Subjekts. Sichtbar ist dieser Trend nicht zuletzt in den exzentrisch anmutenden Überlegungen zum "Haustyrannenmord". Wäre die Tötung des Ehemanns bereits als eine Form der "präventiven Selbstverteidigung" zu rechtfertigen, so würde dies grundlegende straf- und verfassungsrechtliche Prinzipien aushebeln, und es entstünde ein Zustand erheblicher Rechtsunsicherheit: Erwägt wird nämlich eine Legalisierung des "Haustyrannenmordes" gerade für Situationen, in denen der männliche Lebenspartner nicht mit einem Angriff rechnet. Kürzlich geäußerte Gedanken Otto Schilys zur gezielten Tötung potenzieller Terroristen gehen in dieselbe Richtung: Diese sollen nach seinen Überlegungen möglicherweise schon getötet werden dürfen, bevor sie zu einem Anschlag unmittelbar ansetzen. Solche Ideen gehen weit über Debatten hinaus, die sich um den polizeilichen Todesschuss zur Rettung unmittelbar bedrohter Geiseln drehen. Die internationale Debatte über die Errichtung eines "Feindstrafrechts" oder eines "parallelen Rechtssystems" hebt diesen Präventionsgedanken ebenfalls hervor und erwägt die Inhaftierung von Verdächtigen aufgrund von Prognosen. Sonderbare Milieus und juristische Schwarze LöcherWie rechtfertigt man solche Gedanken? Der Tenor lautet in etwa so: Wer mit seinem früheren sich immer wiederholenden Verhalten verdächtige Eindrücke einer kriminellen Veranlagung weckt, soll sich nicht wundern, wenn er den Bürgerstatus aberkannt bekommt. Eine ähnliche Entwicklung war bereits bei Diskussionen über den Lauschangriff oder über verdeckte Ermittler sichtbar - frei nach dem Motto: Wer sich in diesem von Prostitution und Menschenhandel durchsetzten Milieu bewegt, muss ganz einfach damit rechnen, dass sein Gegenüber möglicherweise ein Geheimpolizist ist oder dass sein Telefon abgehört wird. Mit solchen Argumenten wird mittlerweile in zahlreichen Polizeigesetzen der präventive Einsatz drastischer Ermittlungsmethoden gerechtfertigt: nicht bloß zur Aufklärung bereits begangener Schwerstkriminalität, sondern zur Unterbindung von Straftaten, die sonst irgendwann in der Zukunft geschehen würden. Neuere Polizeigesetze erlauben den Einsatz geheimer Ermittlungsmethoden auch zur "Vorsorge für die Verfolgung oder die Verhütung von Straftaten". Die dahinter steckende Überlegung ist: In solcherlei Milieus treten schwere Straftaten typischerweise und in gewisser Regelmäßigkeit auf. Hier kann daher mit Mitteln des "Ausnahmestaats" agiert werden. Am Ende einer solchen Argumentation erscheint etwa das grundlegende Recht Verdächtiger, zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen, als ein altmodisches Prinzip, das modernen Effizienzerwägungen nicht standhalten kann. Gerade die geplanten Gesetze zu einem möglichen "Sicherheitspaket 3" knüpfen an solche Gedanken und schon vorhandene rechtliche Instrumente an. So gab Otto Schily zu verstehen, niemand könne ihm erklären, warum die Länder eine Befugnis für präventive polizeiliche Ermittlungen hätten, jedoch nicht das Bundeskriminalamt. Vielmehr wünschen sich manche Sicherheitspolitiker eine Weisungsbefugnis des BKA gegenüber den schon mit weiten Kompetenzen ausgestatteten Landeskriminalämtern, und auch die Landesämter für Verfassungsschutz sollen sich in Zukunft als weisungsabhängige "Filialen" des Bundesamtes für Verfassungschutz verstehen. Obendrein sollen in einer zentralen "Verbunddatei" geheimpolizeilich gewonnene Informationen leicht abrufbar sein. Geheim ermittelnde Polizeibeamte sollen zukünftig noch stärker in Milieus eingeschleust werden, die als terroristisch veranlagt angesehen werden und aufgrund ihrer "Andersartigkeit" eigenen Gesetzen unterworfen werden sollen. Konsequent durchgezogen hat ein solcher Ansatz, der für eine immer größere Zahl von Personen und "Milieus" eine "besondere Behandlung" vorsieht, die Zersplitterung der Bevölkerung in verschiedene Risikokategorien zur Folge, bei denen bestimmte rechtsstaatliche Freiheitsgarantien allenfalls in abgestufter Form gelten. Damit entsteht zwar noch lange kein neuer "Gestapo-Staat", denn die angesprochenen zwielichtigen Rechtsinstrumente finden noch überwiegend in gesellschaftlichen Randbereichen Anwendung. Dennoch ist Vorsicht geboten: Zum einen ist die verstärkte Organisation unseres Gemeinwesens um die Themen "Ausnahmezustand" und Sicherheit nicht zu übersehen. Das zeigt sich nicht zuletzt in Aussagen unseres Bundesinnenministers, wonach aufgrund des internationalen Terrorismus der "Gesamtstaat in Gefahr" sei und sich die Bevölkerung als "Teil eines Netzwerks gegen den Terror" begreifen müsse. Zum anderen ergibt sich die Gefahr einer grundlegenden Abkehr von der Idee des freien und gleichen Subjekts in der rechtspolitischen Auseinandersetzung. An seine Stelle treten Prognosegutachten und Wahrscheinlichkeitsberechnungen, wonach das Verhalten der Menschen aufgrund psychologischer Pathologien und Gesetzmäßigkeiten letztlich vorhersehbar ist. Dieser Beitrag erschien zuerst in der November-Dezember-Ausgabe der Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft (SPW 140) aus dem Jahre 2004. Kontext:
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