Den Aufsatz kommentieren Identitätspolitik und die Kultur der ModerneKritische Anmerkungen zu Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen"Marcus Hawel (sopos) Wir haben uns daran gewöhnt, das Zeitalter, in dem wir leben, als Globalisierung zu bezeichnen. Das ist eine zeitliche Phase, in der die Welt, wie es heißt, immer näher zusammenrückt, sich Distanzen verringern und die Menschen wie in einem globalen Dorf zusammenleben. Zu Anfang war die Globalisierung von großer Euphorie begleitet. Die Rede war von der one world, in der sich die Menschheitsprobleme wie Armut, Massenarbeitslosigkeit, Umweltzerstörung und kriegerische Auseinandersetzungen lösen lassen. Man hatte vielerorts gehofft, dass die passende Geisteshaltung zur Globalisierung der Kosmopolitismus wäre, - und tatsächlich finden wir bei vielen Menschen auch diese Geisteshaltung. Aber noch viel häufiger kommen Nationalismus und kultureller Chauvinismus, auch religiöser Fanatismus zu einer erneuten Blüte - auch auf regierungsamtlichen Seiten. Mittlerweile ist Ernüchterung eingetreten. Die Menschen werden aus ihren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen herausgerissen. Die Globalisierung führt nicht zu einer Angleichung und Verbesserung der Lebensverhältnisse zwischen der ersten und der dritten Welt, sondern verschärft die Situation. Ganz offensichtlich kommt aus diesem Grund den Menschen der Kosmopolitismus nicht in den Sinn. Die Globalisierung hat längst ihre negativen Seiten offenbart. Vielerorts ist von Leitkultur, nationaler, kultureller oder religiöser Identität die Rede. Der Begriff der Identität ist vielfältig in Gebrauch; er ist ein Schlüsselbegriff, dessen Bedeutung oft überstrapaziert und missbraucht wird. Wenn von Identität die Rede ist, verbergen sich meistens dahinter ein realer materieller Mangel an Lebenschancen und ein Bedürfnis nach kollektiver Identität, gleichsam nach Orientierung und Schutz. Orientierung wird im Vertrauten gesucht, die Gesellschaften schotten sich ab, verschließen sich einem Dialog der Verständigung und pflegen Vorurteile. Schutz wiederum ist ein Urphänomen von Herrschaft, die auf Anerkennung beruht. Und so können überall politische oder religiöse Gruppen zur Herrschaft gelangen, wenn sie sich Anerkennung erheischen, indem sie lauthals den Schutz der kulturellen Identität versprechen. Hervorhebenswert ist in diesem Zusammenhang, dass nach der ursprünglichen Bedeutung die Suche nach Identität im scheinbar Bewährten mit Orientierung überhaupt nichts zu tun hat. Das Wort Orientierung entstand im Kontext der okzidentalen Kultur des 18. Jahrhunderts. Etymologisch leitet sich das Wort von oriens (lat.) = Osten, Orient ab und bedeutet sinngemäß, nach Osten zu schauen, wo die Sonne aufgeht, um die anderen Himmelsrichtungen bestimmen zu können. In einem übertragenen Sinne orientierte man sich, indem man sich dem (Sonnen-) Licht der Aufklärung zuwandte. In einem daraus abgeleiteten Sinne suchte man im Geiste der Aufklärung nach Orientierung, indem man sich der orientalischen Kultur öffnete von der es schon in der Antike viel zu lernen galt, was den Fortschritt der Wissenschaften anbelangte: Immerhin waren hier unter anderem die Schrift und das arithmetische Denken, die Mathematik, entstanden, die von dort ins antike Griechenland hinüber gelangten und die okzidentale Philosophie anschoben. Im 18. Jahrhundert beflügelte der Orient die bürgerlichen Gesellschaften Europas. Die Faszination gegenüber dem Orient - Orientalismus, der sich etwa an Marokko, Türkei, Ägypten und Indien festmachte, ließen auch im 19. Jahrhundert nicht nach. Literaten wie Johann Wolfgang Goethe (West-östlicher Divan, 1816) oder Hugo von Hofmannsthal (Das Märchen der 672. Nacht, 1895) traten in einen Dialog mit dem Morgenland. Komponisten wie Wolfgang Amadeus Mozart machten den Orient zum Thema der Oper (Entführung aus dem Serail, 1782). Maler wie Eugène Delacroix versuchten die Faszination - oft ihre erotischen Phantasien bezüglich der Haremskultur - bildlich darzustellen. Viele gaben sich mit den Berichten, die aus dem Orient kamen, nicht zufrieden und reisten selbst dorthin, um sich ein eigenes, vermeintlich ungetrübtes Bild zu verschaffen - wie etwa Delacroix nach Marokko (Tagebuch der Marokko-Reise, 1832). Die Bibliotheken sind gefüllt mit Reiseberichten aus dieser Zeit. Oft ging es allerdings wenig realistisch zu, die künstlerischen Darstellungen zeugen von Wunschprojektionen und Sehnsüchten, die die europäische Kultur zu dieser Zeit in keinem besonders paradiesischen Licht erscheinen lassen. Der Orient erfüllte in Europa die Funktion einer utopischen Gegenwelt. Exotik und Erotik konnten faszinieren, weil es um die Leidenschaft und Sinnlichkeit in Europa offensichtlich nicht allzu gut bestellt waren. Man suchte also auch hier Orientierung, um sich selbst zu befreien. Man schaute freilich nicht so genau hin, inwieweit das Orientbild tatsächlich der Realität entsprach. Der Orient diente als Quelle der Inspiration. Man suchte Orientierung, um die eigene Kultur besser auszustatten. Die Unbefangenheit dieser Orientierung erklärt sich daraus, dass es den Literaten, Komponisten und Malern kaum in den Sinn gekommen wäre, ihre eigene Kultur national zu buchstabieren. Ist etwa Goethe ein Repräsentant der deutschen Kultur? War Goethe ein Deutscher? Heute gibt es keinen Zweifel bei der Beantwortung dieser beiden rhetorischen Fragen. Das deutsche Kulturinstitut trägt Goethes Namen zu Recht. Dennoch haben die beiden Fragen eine Berechtigung. Denn Deutschland gab es zu Goethes Lebzeiten noch gar nicht, und er hat auch gar nicht deutsch gedacht; er hatte vielmehr eine kosmopolitische Orientierung. Erst in der nachkommenden Zeit entstanden im Zuge der Nationalstaaten nationale Identitäten, in denen Goethe für die deutsche Kultur eine herausragende Funktion zugedacht wurde, die vermutlich allzu oft nicht in seinem Sinne gewesen ist. Es handelt sich - um ein Wort von Eric Hobsbawm zu bemühen - um den klassischen Fall einer invention of tradition, wenn ein Rückbezug auf die Vergangenheit erfolgt, um eine kulturelle Identität im nationalen Rahmen zu schaffen. Je mehr heute sich in Europa die nationalstaatlichen Grenzen auflösen oder zumindest durchlässiger werden, wird Goethe im Rahmen der europäischen Kultur gesehen, wo er - wie auch zum Beispiel Shakespeare - eher hingehört. Ich erwähne dies etwas ausführlicher, weil nach der von den Deutschen verursachten Katastrophe der beiden Weltkriege und des Massenmordes vor allem an den Juden die Entwicklung in Europa nicht selbstverständlich ist. Die Auswirkungen waren zwar in der ganzen Welt zu spüren, in Europa aber waren die Verwüstungen am schlimmsten und haben bis an den Rand des Niedergangs der bürgerlichen Kultur geführt. Kriege zwischen europäischen Staaten sind heute undenkbar geworden. Die ehemaligen Erzfeinde Frankreich und Deutschland stehen in freundschaftlicher Verbundenheit sehr eng beieinander und begreifen sich als Wegbereiter der europäischen Integration. In diesem über das Nationale hinausgehenden Kontext versucht man nun eine europäische Identität zu schaffen, in der Goethe und Shakespeare eine zentrale kulturelle Rolle spielen. Die Entwicklung stellt sich ganz sicher mit Rückblick auf das Vergangene als Fortschritt dar, aber im Blick nach vorne und im globalen Zusammenhang wiederum erweist sie sich als eine neue, erweiterte Abschottung. - In Marokko weiß man sicher sehr gut, was die Festung Europa im Alltag bedeutet, wenn die aus vielen Teilen Afrikas durch die Wüste gekommenen Menschen vor den Toren Europas brutal abgewiesen werden, im Stacheldraht verenden oder im Mittelmeer ertrinken. Im Zeitalter der Globalisierung nimmt das Bedürfnis nach Abschottung wieder zu. Ein Begriff macht in den Sozialwissenschaften seit längerem schon die Runde, mit dem versucht wird, die gegenwärtigen Entwicklungen und die unangenehmen Begleiterscheinungen, die sich auf der Suche nach kollektiver Identität ergeben, zu erklären. Es geht um den Begriff der Identitätspolitik. Die Globalisierung verstärkt ganz offensichtlich die Tendenz der identitätspolitischen Abschottung kultureller Traditionen, die dann aufgrund einer mangelhaften Verständigung in Konflikt miteinander geraten können. Man findet eine identitätspolitische Abschottung nicht nur entlang der Scheidelinie Gewinner-Verlierer der Globalisierung, - auch wenn das nahe zu liegen scheint. Die Scheidelinie verläuft auch nicht zwischen Erster und Dritter Welt, bzw. zwischen reich und arm in diesen. Das gibt es zwar auch, weil das ökonomische Motiv der Effizienz eine Triebkraft für die Identitätspolitik durchaus darstellt, etwa wenn reiche Gebiete eines Landes sich von den armen abzuspalten gedenken (Separatismus), wie es im ehemaligen Jugoslawien geschehen ist. Im Falle Osama bin Ladens, der in der westlichen Welt seit dem 11. September 2001 zum am meisten gefürchteten Terroristen avanciert ist, verhält es sich anders. Er gehört zu einer geprellten, aber wohlhabenden Herrschaftselite in seinem Herkunftsland; er ist kein Verlierer der Globalisierung. Ihm geht es um soziokulturelle Dominanz und Herrschaft in seiner eigenen Kultur. Er sucht in der Auseinandersetzung mit den dortigen Herrschaftseliten die Konfrontation mit dem Westen, will scheinbar einen Kampf der Kulturen befördern, um seine Anhängerschaft zu vergrößern und zu radikalisieren; er instrumentalisiert dabei seine Anhängerschaft genauso, wie er die islamische Religion zu diesem Zwecke missbraucht. Ich beziehe mich im Folgenden zentral auf ein Buch des Dortmunder Politikwissenschaftlers Thomas Meyer, das den Titel "Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede" trägt und in Deutschland 2002 erschienen ist.[1] Thomas Meyer zeigt in diesem Buch auf, dass es nicht die kulturellen Differenzen sind, die zur Konfrontation führen, sondern einzig der Umgang mit ihnen. Es sind soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Faktoren, - es sind Machtinteressen, die in einer (fundamentalistischen) Identitätspolitik münden. Fundamentalismus in allen Kulturen der WeltIch denke, ich muss nicht sagen, dass der 11. September 2001 kein heroischer Tag in einem vermeintlichen Befreiungskampf gegen die Welthegemonie der USA gewesen ist, sondern dass sich an diesem Tag ein Massenmord besonderer Qualität ereignete. Im Westen werden diese terroristischen Anschläge in einem Zusammenhang mit islamistischem Fundamentalismus gesehen, der die Züge eines globalen Terrorismus angenommen hat. Die Motive dieses Terrorismus werden im Westen nicht richtig verstanden, wenn sie im Nihilismus und dem Bösen gesehen werden. So irrational ist dieser Terrorismus keineswegs. Vor allem erleichtert eine solche schlichte Interpretation es dem Westen, in aller Schärfe dagegen vorzugehen, ohne die eigene Verstrickung und Schuld reflektieren zu müssen. Immerhin hat der Westen in der Vergangenheit immer wieder fundamentalistische, insbesondere islamistische Kräfte unterstützt, ja sogar - wie in Afghanistan gegen die Sowjetunion - regelrecht aufgebaut, um sie gegen Regierungen, die den westlichen Interessen nicht Folge leisten wollten, ins Feld zu führen. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben eine Signatur, die im Widerspruch zu den von der Weltöffentlichkeit vorgetragenen Beweggründen von Al Qaida steht. Zwei Passagierflugzeuge wurden in das World Trade Center gelenkt; ein drittes Flugzeug ins Pentagon, und eine vierte Maschine sollte vermutlich das Weiße Haus treffen. Der Friedens- und Konfliktforscher Johann Galtung wies unmittelbar nach den Anschlägen darauf hin, dass das WTC für das ökonomische, das Pentagon für das militärische und das Weiße Haus für das politische Amerika stehen. Alle drei Gebäude stehen symbolisch für den Weltmachtanspruch der USA. Warum aber, wenn es tatsächlich um einen Kampf der Kulturen ginge, wurde nicht symbolisch das kulturelle Amerika attackiert, für das die Freiheitsstatue steht? In der Auswahl der tatsächlichen Anschlagsziele offenbart sich eine instrumentelle Rationalität, die darauf verweist, dass es darum ging, den ökonomischen, militärischen und politischen Geltungsanspruch der USA zurückzudrängen - vor allem in der arabischen Welt und in bin Ladens Herkunftsland Saudi-Arabien, wo er für sich beansprucht, zur Herrschaftselite zu gehören. Er zieht das religiöse Ticket, um eine Massenbasis für sein pseudorevolutionäres Ansinnen zu schaffen. In dem Augenblick aber, in dem er sein Ziel erreicht, würde er die Massen, die ihn befördert haben, seinerseits vermutlich ebenso prellen, wie er von der Herrschaftselite in Saudi-Arabien geprellt wurde. Keine Frage, Osama bin Laden ist ein prophet of decease, ein Prophet des Untergangs, der die Welt zu retten vorgibt, um nur sich selbst zu retten. Aber ihn zum absoluten Bösen zu stilisieren, macht die gesamte Situation, in der wir uns befinden, noch gefährlicher, als sie ohnehin schon ist. Denn wie sollte der Westen auf ein absolutes Böses, das ihn bedroht, anders reagieren als mit aller Schärfe? Und so erleben wir, wie mit dem Krieg in Afghanistan und im Irak, vermutlich bald auch gegen den Iran, eine Serie von Kriegen gegen den Terror entsteht, die man vielleicht in ein paar Jahren einmal als Dritten Weltkrieg bezeichnen wird, der mit dem 11. September 2001 begonnen wurde. Sicher, dass es nicht so sein wird, kann man sich jedenfalls nicht sein. Wann beginnt ein Krieg? Wann der Vorkrieg? Wenn im Westen seit dem 11. September 2001 verstärkt von einem islamistischen Fundamentalismus die Rede ist, so wird gerne übersehen, dass der Fundamentalismus[2] nicht ein Phänomen ist, das einzig in der islamischen oder allgemeiner in der orientalischen Kultur anzutreffen ist. Im Westen ist man schnell dabei zu unterschlagen, dass es auch dort Fundamentalismus gibt, mehr noch: dass der Fundamentalismus seinen Geburtsort sogar im Westen gehabt hat. Das Wort Fundamentalismus trat zum ersten Mal in Erscheinung in einer religiösen Schriftenreihe (1910-1915), die in den USA unter dem Titel The Fundamentals und mit dem Untertitel A Testimony to Truth (Ein Zeugnis der Wahrheit) erschienen ist. Protestantische Christen waren die Herausgeber; sie gründeten 1919 eine weltweit agierende Organisation namens World´s Christian Fundamentals Association. Vier ursprüngliche Merkmale kennzeichneten die Fundamentals: 1) die Überzeugung einer "buchstäbliche[n] Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift"; 2) alle Wissenschaft, Theologie etc. sei nichtig, wenn sie der Bibel widerspricht (z.B. die Evolutionstheorie von Charles Darwin, die auch heute noch an vielen us-amerikanischen Schulen in Frage gestellt wird); 3) niemand könne ein "wahrer Christ" sein, der der Bibelauslegung der Fundamentals widerspricht; 4) Missachtung von (staatlicher, gesellschaftlicher oder individueller) Autorität, wenn Interessen oder politisch-rechtliche Fragen mit der Ethik der Fundamentals kollidieren; Kirche und christliche Religion gelten als höhere Instanzen als Staat und Recht. (Vgl. 54) Das Wort Fundamentalismus fand seine Verbreitung also zunächst im Westen und in einem christlichen Kontext. Erst danach fand das Wort seine Verallgemeinerung und Anwendung auf andere Kulturbereiche. Heute wird im Westen damit hauptsächlich islamistischer Fanatismus assoziiert. Gegenüber dem eigenen Fundamentalismus ist man weitgehend blind. Fundamentalismus ist aber ein globales Phänomen. Es gibt protestantischen Fundamentalismus in den USA, Hindu-Fundamentalismus in Indien, evangelikanischen Fundamentalismus in Guatemala, jüdischen Fundamentalismus in Israel, buddhistischen Fundamentalismus auf Sri Lanka, islamischen Fundamentalismus z.B. im Iran oder in Algerien, konfuzianischen Fundamentalismus in Südostasien, römisch-katholischen Fundamentalismus in Europa und den USA. (Vgl. 29f.)[3] Fundamentalismus ist ein ätzender Stoff, der die kulturellen Verhältnisse vergiftet; aber er ist nicht das Gift, das einseitig für Spannungen zwischen Okzident und Orient verantwortlich ist. Die Gegenüberstellung Okzident-Orient verstellt die Sicht auf das eigentliche Problem: Der Fundamentalismus ist "eine Begleiterscheinung aller Kulturreligionen der gegenwärtigen Welt als Folge unbewältigter oder scheiternder Modernisierungsbestrebungen und der mit ihnen verbundenen kollektiven Erfahrungen von Entwurzelung, Verunsicherung, Ausweglosigkeit, Degradation und Kränkung." (10f.) - So fasst Thomas Meyer seine zentrale These zusammen. Der Fundamentalismus nimmt den Charakter einer politischen Ideologie an und steht in einem direkten Zusammenhang mit krisenhaft verlaufenden Modernisierungsprozessen. Die traditionellen Kulturen werden im Affekt gegen die Moderne absolut gesetzt und politisiert. Sie sollen in der Regel als offiziell verbindliche Ethik des gesellschaftlichen Zusammenlebens "gegen die politischen Institutionen moderner Gesellschaften für das Gemeinwesen verbindlich" (47) gemacht werden. Anerkennung sucht dieser Fundamentalismus in den jeweiligen Bevölkerungen durch den "Anspruch, die Ursachen der Modernisierungskrisen zu erklären und Auswege aus ihnen zu weisen, deren Erfolge so sicher seien wie die absoluten Gewissheitsansprüche, mit denen er sie begründet" (ebd.). Fundamentalismus ist demnach ein Produkt der Moderne; er verspricht in einer unübersichtlich gewordenen Welt rasanter Entwicklung einen vermeintlich sicheren Halt, feste Identität, Sicherheit und Orientierung durch ein Festhalten an den kulturellen Traditionen, wodurch Ungewissheit, Unübersichtlichkeit und moderne Offenheit, die als persönliche Bedrohung wahrgenommen werden, überwunden werden sollen. (Vgl. 52) Dabei werden die Traditionen und kulturellen Werte auf ein geheiligtes Fundament gestellt, das als ewige Basis für einen politischen Herrschaftsanspruch eines geschlossenen und autoritären Systems von Zucht und Ordnung dient - meistens zum Vorteil einzig einer Clique, die diesen Fundamentalismus propagiert. Hier handelt es sich um die abstrakten Gemeinsamkeiten sämtlicher Fundamentalismen, ob sie nun religiös oder weltlich-profan motiviert sind. Es ist "derselbe Stil des verfeindeten Umgangs mit kulturellen Unterschieden, eine Strategie vormachtorientierter Politisierung der eigenen Kultur gegen die Kultur der Anderen" (30). Der Andere wird zum Feind der heimischen Kultur sowohl im Innern eines Staates als auch außerhalb erklärt. "Kulturelles Selbstbewusstsein wird zum Hebel für politische Verfeindung um der kulturellen Dominanz oder der politischen Macht willen." (Ebd.) Die Geburt einer Ideologie - Huntingtons KulturkampftheoremDer amerikanische Politikwissenschaftler und Berater des US-Präsidenten Samuel Huntington publizierte im Sommer 1993 seinen kurzen Aufsatz "Kampf der Kulturen?"[4], der umgehend in der gesamten Welt einen Paradigmenwechsel (mit-) befördert, zumindest aber für Furore gesorgt hat. Bei seinen Befürwortern genauso wie bei seinen Gegnern war die Resonanz so groß, dass man davon ausgehen muss, dass Huntington nur prägnante Worte für das gefunden hat, was überall schon vorbewusst im Schwange war. War der Titel des Aufsatzes noch mit einem Fragezeichen versehen, verschwand dieses Fragezeichen im Titel seines kurze Zeit später nachgeschobenen Buches, in dem er das Kulturkampftheorem ausbreitete.[5] Was steht in diesem Aufsatz und Buch? Hinter Huntingtons Kulturkampftheorem steht die grundsätzliche Prämisse, dass jede Kultur der Welt aus sozialen und politischen Normen besteht, die mit denen der anderen Kulturen unvereinbar sind. Eine friedliche Koexistenz war nur so lange möglich, wie räumliche Distanz vorhanden war. Da wir im Zeitalter der Globalisierung in Nahverhältnissen zueinander kommen, gleichsam wie in einem globalen Dorf leben, jedenfalls die geographischen Distanzen keinen Schutz mehr bieten oder eine friedliche Koexistenz zuließen, sei ein Kampf der Kulturen unvermeidlich.[6] Die Welt des 21. Jahrhunderts werde zu einer Arena von Kulturkämpfen. Der Höhepunkt dieses zunächst kalten, dann heißen Zusammenpralls der Kulturen könnte eine Entscheidungsschlacht in Form eines Weltkrieges sein. Dabei geht es nicht - wie noch in der Phase des Imperialismus Anfang des 20. Jahrhunderts - um Landnahmen durch Krieg, sondern um kulturelle Hegemonieansprüche, gleichsam um Identitätsfragen im Sinne der Selbstbehauptung. In allen Kulturen werde ein Fundamentalismus die Macht ergreifen und dazu führen, dass das Bewusstsein für die kulturellen Unterschiede größer als das für die Gemeinsamkeiten werde. "The rest against the west." - Huntington appelliert sogleich an den Westen. Dieser sei aufgerufen, sich auf diesen Kampf gut vorzubereiten (Rüstung), um in einem bevorstehenden Krieg nicht der Unterlegene zu sein. Würde man annehmen, dass Huntington selbst von diesen Annahmen tatsächlich überzeugt ist, so käme man nicht umhin, ihm einen gewissen Verfolgungswahn und Identitätswahn zu bescheinigen. Viel eher aber denke ich, es handelt sich bei dem Kulturkampftheorem um eine Legitimationsideologie für ein imperiales Handeln des Westens, das dadurch verschleiert wird. Jede Eskalation wie der so genannte Karikaturenstreit, die das Theorem womöglich auch noch verifiziert, wäre der weiteren Verschleierung imperialen Handelns förderlich. Huntingtons beraterische Tätigkeit für den US-Präsidenten wird etwas durchschaubarer, wenn man seine Ausführungen in einen geopolitischen Kontext stellt. Als Westen wird von ihm Europa und die USA zusammengefasst. Gerade diese beiden Machtbereiche, die während des Kalten Krieges und der bipolaren Weltordnung vorgaben, gleichsam unverbrüchlich in der NATO Seite an Seite zu stehen, gerieten nach der Auflösung ihres gemeinsamen ideologischen Gegners, des Warschauer Paktes, zunehmend - zwar nicht in ideologische Konfrontation, aber zumindest in harte Konkurrenz zueinander. Der Westen wird nicht als gemeinsame zivilisatorische Grundlage, aber als politisches Gebilde von der EU zunehmend in Frage gestellt. Europa versucht sich in Gestalt der EU gegenüber den USA als eine ökonomische und militärische Weltmacht zu behaupten, verliert deshalb das Interesse an der NATO und schafft sich mit einer EU-Armee auch ein unabhängiges militärisches Droh- und Eingreifpotential, um eigenständig handeln zu können, wenn ein Konflikt mit den Interessen der USA aufzukommen droht. Das alles geschieht deshalb, weil der Imperialismus nach dem Kalten Krieg nicht obsolet sondern im Gegenteil in der Gestalt der Konkurrenz um den Zugang zu Energieressourcen in der Welt sehr aktuell geworden ist. In diesem Kontext kann man in Huntingtons Kulturkampftheorem auch einen strategischen Zweck erkennen, der auf Europa ausgerichtet ist: die gemeinsame zivilisatorische Grundlage des Westens nicht in Frage zu stellen, weil man noch aufeinander angewiesen sei, um sich gegen den Rest der Welt, der seinen Teil vom energetischen Kuchen verlangt, zu behaupten - vor allem gegen das wirtschaftlich erstarkende China. Spätestens seit dem 11. September 2001 könnte man zu der Ansicht gelangen, Huntington habe Recht behalten, und wir befinden uns bereits mitten in einem Kampf der Kulturen an der Stelle, wo er von seiner kalten zur heißen Phase übergegangen ist. Ganz unstrittig liegen die Rauchschwaden des Krieges in der Luft. Aber es ist ein Krieg, der nur als Legitimationsvorwand auf das Theorem vom "Kampf der Kulturen" zurückgreift, um imperiale Interessen der Weltmächte zu maskieren und die Schuldfrage für einen möglichen Flächenbrand von sich zu weisen. Huntington selbst - als wäre ihm wie Goethes Zauberlehrling bewusst geworden, dass er die Geister, die er rief und die großen Unheil anstiften, nicht mehr loswird - distanzierte sich nach dem 11. September 2001 von seinem eigenen Kulturkampftheorem. Er warnte regelrecht davor, die aktuellen Konflikte durch die Brille eines Kulturkampfes zu betrachten. Und man sieht, dass Huntington nicht mehr Herr seines Theorems ist. Die Diskussion darum reißt nicht mehr ab, spitzt sich zu wie zuletzt im Karikaturenstreit. Die Gazetten bersten vom "Kampf der Kulturen" wie das Haus des Hexenmeisters vom Wasser, das der verhexte Besen unermüdlich heranschleppt. Huntingtons Theorem hat tatsächlich "alle Aussicht, die Wirklichkeit zu prägen, und zwar auch dann, wenn sein sachlicher Kern nicht der Wahrheit entspricht. Denn viele beginnen zu handeln, als träfe das Modell zu, jeder wähnt sich gut beraten, mit der in ihm beschriebenen Wirklichkeit zu rechnen, auch weil die Anderen sich gleichfalls entsprechend den Prognosen verhalten." (23) Es ist offenbar der Fall einer self-fulfilling prophecy, die aus den Beraterzimmern von den Kommandohöhen der Weltpolitik bis ins Fundament der Gesellschaften hineinwirkt und dort auf den kolossalen Verstärker eines Massenresonanzbodens stößt, der es den Regierungen der Weltmächte erlaubt, nur noch entschiedener ihren imperialen Interessen nachzugehen, ohne dafür belangt zu werden, weil die Massen nach Schutz und Identität verlangen und den Krieg für unausweichlich halten könnten. Was sich hier womöglich tatsächlich ankündigt, ist ein Weltkrieg, in dem es auf jeder Seite nicht um den Schutz der Menschen geht, sondern auf der einen Seite um die Sicherung des Wohlstands der westlichen Welt, deren Teilhabe dem Rest der Welt verwehrt bleiben soll, und auf der anderen Seite um das Recht auf eine eigene Moderne der orientalischen Welt, das allerdings religiös verschleiert daherkommt und als Krieg der Kulturen erscheint. "O du Ausgeburt der Hölle! Huntington hat sich aus guten Gründen von seinem Theorem distanziert. Schaut man genauer hin, dann ist Huntingtons Theorem tatsächlich selbst vom Un-Geist des Fundamentalismus angetrieben. Es ist die "spiegelbildliche Variante einer scheinbar reaktiven ›westlichen‹ Identitätspolitik Huntingtonscher Art" (9), die in der politischen Praxis auf dasselbe hinausläuft, denn "es legitimiert, und sei es wider Willen, den Missbrauch kultureller Argumente für die Entfachung und Rechtfertigung von Konflikten, deren Ursache entgegen dem ersten Anschein gerade nicht in der prinzipiellen Unverträglichkeit unterschiedlicher Kulturen zu finden ist" (12). Huntington hat Fakten "nach Maßgabe der eigenen Interessen" (24) zusammengestellt und andere, die sein Theorem widerlegt hätten, unterschlagen. "So zugerichtet, kann es dann zur Rechtfertigung von Vormachts- und Herrschaftsinteressen dienen, die bei einem fairen und unbefangenen Blick auf die Welt nichts Überzeugendes für sich ins Feld führen könnten." (ebd.) Heute wird das Kulturkampftheorem verengt auf Spannungen zwischen Okzident und Orient. Das macht das Theorem aber nicht weniger falsch und gefährlich. Je mehr die Konfrontation auch noch auf das Verhältnis zum Islam fokussiert wird, kommt zum Vorschein, dass es um handfeste materielle Ausbeutungsinteressen geht. Es ist gleichsam das historische Pech der Araber, auf einem Ölsee zu leben, der von der ganzen Welt begehrt und beansprucht wird. Man kann sagen, dass dieses Öl der Grund ist, warum die arabische Welt in der Vergangenheit immer wieder darin behindert wurde, sich zu modernisieren, da oft mit Gewalt in die Modernisierungsprozesse eingegriffen wurde, um den Zugang zu den Ölressourcen zu sichern. Wenn von Spannungen vornehmlich zwischen Okzident und Orient - vor allem seit dem 11. September 2001 - die Rede ist, sitzt man häufig - auch im Westen - einem Missverständnis auf. Der Orient wird mit Tradition und Vormoderne verbunden, der Okzident dagegen mit der Kultur der Moderne gleichgesetzt, häufig auch mit "westlichem Lebensstil", der dekadent und einzig am Konsum orientiert sowie ohne traditionelle Werte sei. Kultur der Moderne versus traditionelle Kulturen?Die Kultur der Moderne ist, so Meyer, nicht identisch mit der traditionellen Kultur des Westens, wenngleich diese aus jener etwa seit dem 17. und 18. Jahrhundert in Form eines tief greifenden Transformationsprozesses (Entstehung des Kapitalismus) hervorgegangen ist. Aber in diesem Transformationsprozess fand ein Bruch mit der Kultur des Westens statt. Die Kultur des Westens entfaltete sich im achten und neunten Jahrhundert in Europa auf dem Boden der antiken Klassik und der christlichen Religion. In diesem Zeitrahmen entstanden gesellschaftliche und politische Institutionen, die das gesellschaftliche Zusammenleben zu regeln begannen - durch ein Maß an Rechtlichkeit, Trennung von geistlicher und weltlicher Macht, politisch-gesellschaftliche Repräsentativorgane für heterogene Gruppen (Interessenvertretungen) und Individualismus, der bereits in der christlichen Religion angelegt war. Diese Instanzen waren zunächst nur Bausteine, die sich im Mittelalter noch nicht zusammenfügten. Im Mittelalter fügen sie sich in ein rigides, autoritäres System ein, das über den Geltungsanspruch eines weltlichen und religiösen Despotismus noch nicht hinausgelangte. (Vgl. 26) Was war der Auslöser für diesen tief greifenden Transformationsprozess? Historisch gingen dem in Europa im 16. und 17. Jahrhundert tiefe - wenn man so will - Identitätskrisen voraus, die in Religionskriegen mündeten. Die Kultur der Moderne setzte sich erst am Ende dieser politischen Krisen nahezu in allen Gesellschaften des alten Europas durch und transformierte die westliche Tradition von Grund auf. (Vgl. 27) Ein entscheidendes historisches Datum war diesbezüglich das Jahr 1555, in dem es zum so genannten Augsburger Religionsfrieden kam. In diesem Friedensschluss hieß es: "cuius regio, eius religio" (wessen Land, dessen Religion). Das war ein erster Schritt zu mehr Toleranz, zunächst nur unter den Landesfürsten, die nun die offizielle Religion frei wählen konnten, die dann aber für die Untertanen des Fürsten verbindlich waren. Für die Untertanen gab es in diesem Sinne noch keine religiöse Freiheit oder Toleranz. Dennoch war es ein erster Schritt, der aus der Einsicht gewonnen war, dass es so nicht weiter gehen konnte. Hier drängten die sich wandelnden Verhältnisse zum Gedanken; die bürgerliche Zivilisation war im Begriff zu entstehen; Öffentlichkeit fasste die Bevölkerung zusammen. Erst mit der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, einer bürgerlichen Zivilisation und mit den bürgerlichen Revolutionen fügten sich die oben erwähnten Bausteine zu einem Ganzen zusammen und entfalteten eine moderne Kultur, die schließlich im entstehenden Nationalstaat ihren künstlichen Rahmen fand. Die Trennung von geistlicher und weltlicher Macht wurde im säkularen Nationalstaat institutionalisiert; das bürgerliche Recht in verbindliche Gesetze gekleidet und universalisiert, das heißt, es sollte für alle Menschen gleichermaßen gelten. Die staatliche Gewalt wurde geteilt. Die Kultur der Moderne ist im Gegensatz zur Kultur des Westens universal ausgelegt. Ihre Ausbreitungskraft liegt in der Abstraktheit oder Allgemeinheit, das heißt, sie stellt gerade nicht von außen als Konfrontation die besonderen traditionellen Werte in Frage, sondern entwickelt sich von innen heraus auf Basis der besonderen traditionellen Werte, die in ihr aufgehoben werden; sie schafft einen Spielraum, in dem sich die jeweiligen kulturellen Räume auf ihre je eigene Weise modernisieren. Die je eigene Weise bestimmt sich durch die Besonderheit der kulturellen Tradition, auf deren Resonanzboden sie sich entfaltet. Jede traditionelle Kultur hat also ihr eigenes Potential der Moderne, das unterschiedlich ausgeprägt sein kann, weshalb in manchen Kulturen sich die Moderne leichter, zumindest schneller durchsetzen kann als in anderen Kulturen, in denen die traditionell bedingten Gegenkräfte eine Modernisierung behindern. So besehen kommt es zu einer Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit in der Welt, die sich also nicht ganzheitlich entwickelt. Die Kultur der Moderne ist gerade nicht Eigentum des Westens, - auch wenn der Eindruck entstehen mag, weil sie dort zum ersten Mal in der Geschichte sich herausgebildet hat. Die Kultur der Moderne hat einen reflexiven und immanenten Charakter, das heißt, sie kann sich auch nur von innen heraus entwickeln; sie ist nicht von außen zu erzwingen. - Das wird den Amerikanern und Briten gerade im Irak auf schmerzliche Weise deutlich. Reflexiv ist die Kultur der Moderne auch deshalb, weil mit ihr eine Besinnung "auf die Legitimität prinzipieller Unterschiede in der Fortschreibung überlieferter Deutungen gesellschaftlicher Ordnung, privater Lebensweisen und persönlicher Glaubensüberzeugungen [erfolgt], wenn sich einheitliche Antworten auf diese Lebensfragen nicht länger zwanglos ergeben" (27f.). Die Kultur der Moderne ist demnach also eine "Rahmenkultur für unterschiedliche Lebensweisen und Weltsichten, aber nicht selbst eine besondere Lebensweise" (ebd.) Man übernimmt nicht die Kultur der Moderne und verabschiedet sich von der eigenen traditionellen Kultur, wenn sich die Moderne ausbreitet. Auf diese Unterscheidung kommt es an. Was aber mit der modernen Kultur beginnt, ist die Reflexion auf den Umgang mit kulturellen Unterschieden im Geltungsbereich der traditionellen Kultur. Minderheiten erhalten einen legitimen Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung und Achtung. (Vgl. 28) Das hört sich nun freilich so an, als könne die Kultur der Moderne ein geselliges Paradies auf Erden versprechen und dieses tatsächlich auch einlösen. Die Kultur der Moderne ist zwar ihrem eigenen Anspruch nach eine Kultur des Umgangs mit Differenzen,[8] diesen Anspruch kann sie aber nicht wirklich einlösen. Sie hat eine Schattenseite, die ich als Dialektik der Moderne bezeichne. Die Schattenseite ist zutiefst destruktiv, ihr Höhepunkt in der europäischen Vergangenheit war Auschwitz. Es ist alles andere als förderlich, wenn man die destruktive Seite der Kultur der Moderne unterschlägt. Gerade weil es einen Affekt gegen die Moderne gibt, der im extremsten Fall zum Fundamentalismus wird, muss man verstehen wollen, woher dieser Affekt kommt und prüfen, ob nicht ein rationaler Kern darin enthalten ist, der, weil er nicht begriffen ist, in falschen und verheerenden Bahnen sich bewegt. Versteht man nicht den Affekt gegen die Moderne, bringt man kein Verständnis dafür auf, oder lässt es nicht zu, dass an der Moderne etwas ist, das die Menschen ganz zu Recht intuitiv aufhorchen lässt und Unbehagen - ein Unbehagen in der Moderne - auslöst, treibt man die Intuitiven und Unbehaglichen ins fundamentalistische Lager, gleichsam dorthin, wo sie nicht hingehören. Man darf Anspruch und Wirklichkeit der modernen Kultur nicht durcheinander bringen und einer naiven Illusion aufsitzen. Die moderne Kultur ist sehr ambivalent, gleichsam doppelzüngig im Umgang mit ihren eigenen Werten. - Darin unterscheidet sie sich allerdings auch nicht von jeder besonderen traditionellen Kultur. Die Kultur der Moderne ist ein Rahmen und als solcher mehr als nur eine Kultur. Sie verbreitet sich im Zuge der Kapitalisierung auf der ganzen Welt und transformiert die traditionalen Kulturen. Sie ist also ebenso eine politische Rahmenökonomie. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Gegengift - wenn man so will: nach dem "Wort, worauf am Ende [der Besen] das wird, was er gewesen" - blendet die Weltöffentlichkeit einen zentralen Erklärungsansatz aus, der innerhalb der Frankfurter Schule, wie sie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer begründet wurde, entstanden ist: Dem Kapitalismus wohnt eine Dialektik der Gleich-Gültigkeit inne. Die Menschen begegnen sich auf dem Markt abstrakt als Gleiche und sind, wenn sie Waren tauschen wollen, dazu verpflichtet, sich gegenseitig als Personen anzuerkennen. Insofern wird über den Kapitalismus das emanzipative Moment der Gleichheit realisiert. Indem sich aber die Menschen auf dem Markt nicht nur als tauschende Warenbesitzer gegenseitig anerkennen, sondern sich auch verdingen, d.h. ihre Arbeitskraft in Beziehung zu den Waren setzen, sich selbst als Ware Arbeitskraft verdingen, kommt ein nicht-emanzipatives Moment der Gleich-Gültigkeit von Mensch und Ding (Ware) hinzu, dass der gegenseitigen Anerkennung im Wege steht, die Anerkennung wieder zurücknimmt und in Verdinglichung enden läßt.[9] Das verdinglichte Individuum ist kalt - in gewisser Hinsicht ist es sozial abgestorben. Adorno und Horkheimer nennen dieses Phänomen bürgerliche Kälte und sind der Ansicht, dass Auschwitz ohne diese bürgerliche Kälte nicht möglich gewesen wäre. Darum heißt es bei Horkheimer sinngemäß, dass wer den Kapitalismus nicht kritisieren wolle, zu Auschwitz schweigen solle. Wir finden dieses Phänomen der bürgerlichen Kälte bereits in der Französischen Revolution von 1789 - in der Phase der Schreckensherrschaft von Maximilian de Robespierre (1793/94) - in der das Fallbeil (ursprünglich ein zynisches Symbol der Freiheit) zum sichtbarsten Zeichen einer neuen Unterdrückung wurde, weil ihr ohne große menschliche Regung große gesellschaftliche Gruppen, die der Konterevolution verdächtigt wurden, zum Opfer fielen und die Öffentlichkeit diesem schaurigen Vorgang mit Gleichgültigkeit beiwohnte. Hegel vergleicht diesen bedeutungslosen Tod mit dem kalten und platten "Durchhauen eines Kohlhauptes oder ein Schluck Wassers"[10]. Die Enthauptung von Ludwig XVI. löste in den deutschen Ländern die Gegenbewegung zur Französischen Revolution, die Romantik, aus, in der ein Rückbezug auf die traditionelle Kultur erfolgte, die romantisch verklärt wurde. Diese antimoderne Reaktion könnte man durchaus mit dem gegenwärtigen Phänomen des Fundamentalismus vergleichen.[11] Die politische Romantik verhinderte eine bürgerliche Revolution in den deutschen Ländern und die zeitgemäße Bildung eines deutschen Nationalstaates. Statt einer selbstbewussten bürgerlichen Gesellschaft entstand 1870/71 ein Obrigkeitsstaat, der unter der unseligen Dominanz Preußens in nahezu direkter Verbindung zum deutschen Faschismus stand und erst nach 1945 mit Hilfe der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges beseitigt wurde. In Auschwitz haben die deutschen Nationalsozialisten mit derselben bürgerlichen Kälte den Massenmord auf die absolute und bisher einzigartige Spitze getrieben. Vor allem die europäischen Juden wurden in den Gaskammern ohne Affekte und Emotionen, gleichsam fabrikmäßig mit Registriernummer ermordet - mit einer an den Tag gelegten Gleichgültigkeit, als hätte man überschüssige Waren entwertet. Dieselbe Gleichgültigkeit zeigt sich heute, wenn ein Warenüberschuss an Lebensmitteln einfach vernichtet wird, um einen Preisverfall zu verhindern, statt die Lebensmittel einfach an hungernde Menschen in der Welt zu verschenken. Jedes Jahr sterben 20 bis 30 Millionen Menschen in der Welt an Hunger und Unterernährung. Das ist Barbarei, da wir heute imstande wären, alles Nötige zu organisieren, damit niemand auf der Welt an Hunger leiden muss. Wir finden diese verdinglichte Kälte auch in der Sowjetunion während der stalinistischen Säuberungswellen, als Stalin kühl kalkulierend sämtliche Personen der kommunistischen Herrschaftsclique, die ihm seine Macht hätten streitig machen können, aus dem Weg räumen und ermorden ließ.[12] Und ebenso im Gulag, wo in der Zeit des Stalinismus ca. 18-20 Millionen Menschen als vermeintliche Gegner des Kommunismus gefangen gehalten und ermordet wurden. Wir finden die bürgerliche Kälte auch am 6. August 1945 beim Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und wenige Tage später auf Nagasaki. Die Städte wurden zuvor absichtlich von konventionellen Bombardements verschont, damit man die Destruktionskraft einer nuklearen Explosion auf eine Großstadt testen konnte. Auf der Normenebene, der Ebene der Ideale und des Marktes ist die Kultur der Moderne eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung und des Umgangs mit Differenzen, der Toleranz. Aber in den Tauschverhältnissen und -beziehungen steckt ebenso die destruktive und nihilistische Kraft, die die Unterschiede auslöscht, das Nicht-Identische liquidiert und eine Tendenz zum Totalitarismus erkennen lässt. Diese destruktive Kraft hat durch das gesamte 20. Jahrhundert gewütet und in Auschwitz ihren Höhepunkt gefunden. Sie ist immer noch in der Welt - nicht als ein barbarischer, vormoderner Zug, sondern als eine Dialektik der Moderne. Insofern ist der Aufschrei gegen diese Moderne durchaus rational, solange er sich nicht gegen die Moderne als Ganzes, sondern gegen die nihilistische Tendenz, gegen den Mechanismus der Verdinglichung, gegen die der kapitalistischen Moderne innewohnende bürgerliche Kälte wendet. Es ist ein Unterschied zwischen absoluter Ablehnung der Moderne und der bestimmten Negation moderner Aspekte, die Modernisierungskritik von fundamentalistischem Antimodernismus unterscheidet. Während dieser in einem reaktionären Sinne aus der Moderne zurück in die Tradition flüchten möchte,[13] will jene um der Moderne willen nicht zurück noch über sie hinaus, sondern sie in einem dialektischen Sinne aufheben: die Mechanismen der Verdinglichung negieren und damit die Moderne auf eine neue qualitative Stufe heben. Die Kritik am Kapitalismus war nach der Auflösung der bipolaren Weltordnung weltweit verstummt. Die marxistisch-leninistischen Ideologien haben vielerorts Leerstellen hinterlassen, die vom identitätspolitischen Fundamentalismus eingenommen wurden. Die fundamentalistische Instrumentalisierung kultureller Unterschiede schöpft aus dem Niedergang der utopischen Energien ihre Wirkmacht; sie ist gleichsam eine Ersatzreligion. Die Utopie einer kosmopolitischen Ordnung zur Lösung der MenschheitsproblemeIdentitätspolitische Abschottung, die stets auf einen "kulturellen Rassismus"[14] hinausläuft, kann niemals eine politische Lösung für die gegenwärtigen Menschheitsprobleme sein. Es wäre ein "selbstmörderisches Unterfangen" (31), wenn weiterhin kulturelle Unterschiede zum Zwecke der Anfeindung politisiert werden, weil man glaubt, dadurch tief greifende Probleme lösen zu können. Es wäre nicht nur das Zusammenleben innerhalb jeder Kultur massiv bedroht, sondern "am Ende auch die Grundlagen des Überlebens der menschlichen Zivilisation" (ebd.). Wenn wir den Frieden haben und sichern wollen, wenn wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen bewahren und unsere wirtschaftlichen Beziehungen solidarisch gestalten und pflegen wollen, benötigen wir eine kosmopolitische Orientierung, die uns gegen die Instrumentalisierung kultureller Unterschiede zu Herrschaftszwecken, von welcher Seite sie auch politisiert wird, immunisiert. Eine globale, internationale Ordnung, deren Notwendigkeit wohl kaum ein vernünftig denkender Mensch abstreiten kann, bedarf, damit sie auch funktioniert, allgemein, das heißt universal gültiger Werte und Normen, die von allen anerkannt werden können. Jedenfalls kann man eine solche Ordnung nicht mit Gewalt erzwingen. Wie sieht es aus mit den Möglichkeiten elementarer Gemeinsamkeiten? - Sie müssten in den verschiedenen Kulturen abstrakt zu finden sein. Sie wären Aspekte einer modernen Kultur, die herauszuarbeiten wären. Wir müssen uns anstrengen, die Anknüpfungspunkte in den kulturellen Traditionen zu finden, die es gestatten, in einen gemeinsamen kulturellen Dialog zum Zwecke der Verständigung und des gemeinsamen Handelns einzutreten, bevor die ganze Welt in Flammen steht. Verständigung und gemeinsames Handeln müssten zu dem Zwecke erfolgen, die herrschenden Mächte daran zu hindern, die eigenständige aber ungleichzeitige Entwicklung der Moderne in allen Ländern der Welt zu behindern, weil man vormoderne Gesellschaften besser in Abhängigkeit gegenüber den fortgeschrittensten Industriestaaten halten kann. Dasselbe gilt auch für traditionelle Herrschaftscliquen, die ihre Herrschaft nur in vormodernen Gesellschaften zu halten imstande sind. Ein solches gemeinsames Handeln ginge einher mit der allgemeinen Anerkennung einer modernen Norm: die Anerkennung des Diskriminierungsverbots. (Vgl. 35) In dieser Norm finden sich die Ideale der Gleichheit und Gleichberechtigung, der Freiheit und der gesellschaftlichen Solidarität wieder. Gegenseitige Anerkennung und Achtung schließen keineswegs politische Kämpfe aus; nur dürfen diese nicht über das Ziel der Gleichberechtigung hinausschießen, gleichsam die Unterdrückung der vormaligen Unterdrücker zur Absicht haben. Antidiskriminierungspolitik bedeutet auch religiöse Freiheit und Toleranz für alle Angehörigen einer Gesellschaft - ob Mann oder Frau - ohne Bedingung der Zugehörigkeit zu einer religiösen oder politischen Gruppe. Jeder Mensch muss sich in der Gesellschaft, in der er lebt, frei entfalten können, - freilich ohne die persönliche Freiheit der anderen einzuschränken. Die allgemeine Anerkennung des Diskriminierungsverbots stellt erst die Gemeinsamkeit aller an Emanzipation interessierten Menschen über unterschiedliche Kulturen hinweg her. Erst auf diese Weise kann ein gemeinsames Handeln zur Entschärfung der Weltkonflikte möglich werden. Im Zentrum der Antidiskriminierungspolitik stehen also die Menschenrechte, deren Einhaltung wir auch den Herrschenden abverlangen müssen. Identitätspolitik ist dagegen Diskriminierungspolitik, die kulturelle Identität als Waffe benutzt, um andersartige Menschen auszugrenzen und für politische Zwecke und Herrschaftsinteressen zu missbrauchen. Dazu dürfen wir uns nicht verführen lassen. Anmerkungen:[1] Thomas Meyer: Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt am Main 2002. - Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Buch. [2] "Fundamentalismus ist eine moderne politische Ideologie mit ethisch-religiösem, mitunter auch areligiös-weltanschaulichem Anspruch. Er kombiniert auf widerspruchsvoll-pragmatische Weise Elemente der späten Moderne mit Rückgriffen auf dogmatisierte Bestände vormoderner Traditionen, um die von ihm als Bedrohung der eigenen Identität erfahrenen Grundlagen und Folgen der Kultur der Moderne auf moderne Weise und mit modernen Mitteln desto wirkungsvoller bekämpfen zu können" (47) - Fundamentalismus ist demzufolge also eine politische Ideologie, die "gegen die Moderne mit modernen Mitteln zur Herrschaft zu gelangen" (ebd.) versucht. [3] Siehe Realtypen (z.B. in Indien und den USA) und Idealtypen des Fundamentalismus - (55ff. und 59ff.). [4] Samuel P. Huntington: "Clash of Civilizations?", in: [5] Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996. [6] Sieben Kulturen macht Huntington aus, die aller Wahrscheinlichkeit miteinander in Konflikt geraten würden: den Westen, Islam, Konfuzianismus (Sinismus), die japanische Zivilisation, den Hinduismus, die orthodox-slawische Zivilisation, Lateinamerika und Afrika. [7] Johann Wolfgang Goethe: Der Zauberlehrling. [8] "Sie [die Kultur der Moderne; MH] musste nun statt der Sicherheiten der Überlieferung die Allgegenwart von Differenzen in der Auffassung des Gleichen anerkennen und um des eigenen Überlebens willen Normen begründen, die dennoch den Gemeinschaftsfrieden, das Zusammenleben aller und den Zusammenhang des Ganzen zu wahren vermochten, nachdem die religiösen Bürgerkriege vor Augen geführt hatten, welche Folgen sonst drohten." (27) [9] In der orientalischen Kultur kennt man noch eine traditionell überlieferte und praktizierte Form der variablen Festlegung von Warenwerten. Die Ware hat gleichsam keinen durchschnittlich festen Wert, der sich etwa durch das Quantum der in ihr vergegenständlichten Arbeitszeit und allgemein der Produktionskosten bestimmen lässt und den Preis einer Ware festlegt. Das Feilschen um den Preis ist in der orientalischen Kultur eine kulturelle Handlung, in der Verhandlungsgeschick, Charisma und Zauber, sowie der soziale Status der Handelnden den Preis variieren. In Teilbereichen dürfte sich im Spiel des Feilschens eine Form von Gegengift gegen die verdinglichende Gleichgültigkeit von Ware und Mensch (als Ware Arbeitskraft), wie er ein wesentliches Moment des Kapitalismus ausmacht, bewahrt haben, dem im Westen kaum mehr Beachtung geschenkt wird. [10] G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1986, S. 436. [11] "Die Romantik ist eine Kritik der Aufklärung, aber auch die Aufklärung lässt sich als eine (vorweggenommene) Kritik der Romantik verstehen. Wer die Kulturen - wie die Romantiker - als "natürliches" Element des Menschen akzeptiert, will nicht wahrhaben, dass sie sich selbst geschaffen haben. Wer ihre Autorität von vornherein anerkennt, negiert die Freiheit des Menschen vor seinen Werken. Doch auch die Kritik der Romantik an der Philosophie der Aufklärung kann Gültigkeit beanspruchen. Autonomie, die zum Selbstzweck wird, wirkt zweifellos ›entmenschlichend‹" - Daniel Cohen: Fehldiagnose Globalisierung. Die Neuverteilung des Wohlstands nach der dritten industriellen Revolution, aus den Französischen von Bodo Schulze, Frankfurt am Main/New York 1998, S. 117. [12] Siehe Maurice Merleau-Ponty: Die Abenteuer der Dialektik (Paris 1955), Frankfurt am Main 1968. - Merlau-Ponty schreibt seine Analyse auf der Grundlage des Romans von Arthur Köstler Sonnenfinsternis, in dem dieser die stalinistischen Schauprozesse gegen Bucharin und Sinowjew literarisch aufarbeitete. - Vgl. Arthur Köstler: Sonnenfinsternis, Hamburg, Wien 2000 (Neuauflage). [13] Was faktisch völlig unmöglich ist. Aus der politischen Rahmenökonomie und der modernen Rah menkultur ist nicht so ohne weiteres auszubrechen - jedenfalls nicht rückwärts. Selbst der Widerstand gegen die Moderne bewegt sich innerhalb moderner Parameter, auch wenn ein Rückbezug auf traditionelle Werte erfolgt. Der Rückbezug kann sich nur als Mischung mit der Moderne realisieren als Restauration. Das Moderne im Widerstand gegen die Moderne ist wie ein Vexierbild und bewegt sich innerhalb der modernen Ambivalenz der Gleichgültigkeit. [14] Der Begriff stammt von Wolfgang Welsch: "Transkulturalität - die veränderte Verfassung heutiger Kulturen", in: Stiftung Weimarer Klassik (Hg.): Sichtweisen. Die Vielheit in der Einheit, Frankfurt am Main 1994. Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift vorgänge, Heft 2, Nr. 174, Juni 2006, S. 115-129. Kontext:
sopos 8/2006 | |||||||||
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