Den Aufsatz kommentieren Aus Niederlagen lernen?Zum Desaster der Metaller im Kampf um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschlandvon Gregor Kritidis (sopos)It says here that the unions will never lern Für die Bild-"Zeitung" war es das schönste Wochenende des Jahres: Nach vier Wochen Streik in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie für die Einführung der 35-Stunden Woche gab die IG-Metall-Führung am Wochenende den Kampf ergebnislos auf. Der unverhohlene Jubel, den Verbandsvertreter, Politiker und Kommentatoren anstimmten, verdeutlicht, daß hier ein strategischer Sieg über die Gewerkschaften erzielt wurde, der dramatische Folgen für die weitere soziale und politische Entwicklung nicht nur in der Bundesrepublik haben wird. Die mediale Fuchsjagd auf den designierten IG-Metall-Vorsitzenden Jürgen Peters stellt nun die Fortsetzung der Kampagne gegen den "Gewerkschaftsirrsinn" dar und verstellt gleichzeitig den Blick auf die tatsächlichen Herausforderungen, vor denen nicht nur die Gewerkschaften, sondern alle sozial und ökologisch progressiven Kräfte stehen. Die Niederlage im Osten hat ein Problem offengelegt, von dem alle Gewerkschaften betroffen sind und das es auch ohne Streik geben würde: Der ideelle Kitt, welcher die Gewerkschaften seit dem Zweiten Weltkrieg zusammengehalten hat, ist in den letzten Jahren mehr und mehr auseinander gebröckelt. Gegenüber dem sozialen und politischen Gesamtinteresse der organisierten Mitglieder gewannen die betriebs- bzw. unternehmensegoistischen Positionen stetig an Gewicht. Diese Zunahme an "mikrokorporatistischen Positionen" (Helmut Schauer) hat das gewerkschaftliche Solidaritätsmodell weitgehend zersetzt.[1] Deutlich wird das am Verhalten vieler Betriebsräte während des Streiks und an ihren Stellungnahmen in der gegenwärtigen innergewerkschaftlichen Debatte: Der Betriebsratsflügel der IG-Metall, deren Exponent Zwickel-Ziehsohn Bertolt Huber ist, hat den Streik von Anfang an abgelehnt, nicht mitgetragen und an vielen Punkten faktisch sabotiert. Wer nicht aufmerksam die freilich streikfeindlich eingestellte Presse studierte, konnte nicht den Eindruck gewinnen, daß es sich hier um einen gesellschaftlichen Großkonflikt von entscheidender Bedeutung handelt. Die überwiegende Mehrheit der Betriebsratsfürsten im Westen hat den Streik im Osten sang- und klanglos absaufen lassen. Der Streik, merkt Michael Jäger im "Freitag" dieser Woche zurecht an, scheiterte ausgerechnet in dem Moment, als seine Westausdehnung erforderlich wurde.[2] Bemerkenswert ist aber auch, daß die Streikbefürworter um Jürgen Peters trotz gegenteiliger Bekundungen in die Auseinandersetzung gegangen sind, als handele es sich um ein normales Tarifgeschacher und nicht um eine Klassenauseinandersetzung von strategischer Bedeutung: keine Kampagne für deutlich niedrigere Arbeitszeiten, für eine Erhöhung der Einkommen als Ausgleich für die Einschnitte im sozialen Bereich, von einer Vision für die gesamte Gesellschaft einmal ganz zu schweigen: Wenn die Weltproduktion sich in den letzten Jahren verdoppelt hat, die Profite und das akkumulierte Kapital schwindelnde Höhen erreicht haben, wenn gleichzeitig die Lohnabhängigen zunehmend unter Druck gesetzt werden, die innere und äußere Natur durch diesen Raubbau zunehmend zerstört wird, dann stimmt etwas grundsätzlich nicht an der Art und Weise, wie und was produziert und konsumiert wird. Würde etwas dagegen sprechen, daß ein Teil einer tariflichen Lohnerhöhung in einen Fond eingezahlt wird, aus dem ökologische und soziale Projekte gefördert werden? Wenn die Kommune die Bibliothek schließt, weil mit dem Geld die Steuergeschenke an die Unternehmen und Besserverdienenden gezahlt werden - kann dann nicht die Selbsthilfe der Arbeitnehmer an diese Stelle treten, indem die Gewerkschaft das Geld dafür bei den Unternehmern wiederholt und Raum für solidarische Strukturen schafft? Natürlich wäre das eine andere Gewerkschaft, eine Interessenvertretung neuen Typs. Aber wenn sich breite Teile der Bevölkerung mit ihren Interessen in der Gewerkschaft nicht wiederfinden können, haben die Propagandisten des Kapitals leichtes Spiel. Die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche ist in der Öffentlichkeit verloren gegangen, und zwar zu allererst in der innergewerkschaftlichen Öffentlichkeit - das hat der Peters-Flügel offenkundig nicht ausreichend kalkuliert. Ohne eine breite Solidarisierung - das haben schon die britischen Bergarbeiter 1984 zu spüren bekommen - ist der Kapitalseite nicht zu trotzen. Peters und seine Leute sind daher nicht dafür zu kritisieren, daß sie versucht haben, die Arbeitszeitverkürzung durch Kampfmaßnahmen durchzusetzen, sondern daß sie geglaubt haben, man könne es allein mit einem Teil der IG-Metall, ja nur mit einem Teil der Lohnabhängigen schaffen. Peters steht wie der legendäre Chef der englischen Bergarbeiter, Arthur Scargill, für ein Solidaritätsprinzip, dem die Basis abhanden gekommen ist - trotz aller Unterschiede, die zwischen diesen beiden Personen und Bewegungen existieren. Das ist kein Zufall und über kurze Zeit nicht zu reparieren: Die Spaltung in Kern- und Randbelegschaften, in Konzerne, Zuliefernetzwerke und Subfirmen ist längst weit fortgeschritten, und die standortegoistische Kirchturmspolitik ist in den Großbetrieben fest verankert. Die Auflösung des Flächentarifvertrages wird sich daher weiter fortsetzen, nicht weil das naturgegeben ist, sondern weil das im Interesse der Unternehmer liegt: Gegenüber hochqualifizierten Arbeitern in Schlüsselpositionen wird man sich auch in Zukunft etwas nachgiebiger zeigen als Malochern in Zulieferbuden. Man kann bei Harry Braverman nachlesen, daß die kapitalistische Arbeitsteilung keine Folge einer sachlich begründeten Teilung von kooperativ besser zu bewältigenden Arbeitsprozessen ist, sondern umgekehrt daß Profitkalkül (und damit das Kalkül, die Arbeitsleistung möglichst "angemessen", d.h. möglichst niedrig zu bezahlen) diese Form der Aufspaltung des Fertigungsprozesses zur Folge hat[3]. Diese Entwicklung rückgängig zu machen, wird nur in langen Kampfzyklen möglich sein. Den kampfbereiten Kollegen im Osten kommt immerhin das nicht geringe Verdienst zu, die Problematik in aller Schärfe ins Bewußtsein gehoben zu haben. Denn diejenigen, die sich jetzt bequem zurücklehnen oder mit schadenfrohem Unterton über den "Irrsinn" dieses Streiks lamentieren, sollten sich ihrer eigenen Illusionen besser gleich entledigen. Wer etwa die Politik der IG-Chemie für klüger hält, scheint zu vergessen, wie weit auch in der Chemieindustrie der Prozeß der Entsolidarisierung vorangeschritten ist.[4] Nur formiert sich der Widerstand gegen die Selbstzerstörung der Gewerkschaften weniger innerhalb, sondern außerhalb der IG BCE. So bekommen bei Bayer, Hoechst, BASF & Co die linken Gewerkschafter bei Betriebsratswahlen zum Teil über 30%, und die Gründung einer eigenen Gewerkschaft ist durchaus keine Utopie mehr. Aus Niederlagen kann, ja muß man lernen, will man nicht in bittere Resignation verfallen. Ein Blick über den nationalen Tellerrand hinaus kann da weiterhelfen. Zwar stehen die Kollegen in Frankreich oder Italien keineswegs besser dar, aber an Erfahrungen, gerade negativen, haben sie uns einiges voraus. Vor allem haben sie gelernt, aus einer Minderheitsposition zu agieren und die Möglichkeiten breiter Bündnisse zu nutzen: So setzen die Eisenbahner keineswegs nur auf ihre eigene Kampfkraft, sondern integrieren auch die Interessen der Bahnkunden an Sicherheit, Service, guten Verbindungen, bezahlbaren Preisen, das ökologische Interesse an weniger Luftverschmutzung durch weniger Straßenverkehr etc. Das Modell einer Gewerkschaft, die sich vorrangig um Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen kümmert, greift dagegen nicht mehr. Ohnehin war auch dies das Resultat einer Niederlage: Nicht der verlorengegangene Bayernstreik 1954, sondern der verlorene Kampf um die Mitbestimmung 1950/51 bildeten den Ausgangspunkt der sozialstaatsorientierten Gewerkschaftspolitik. Die offensive Lohnpolitik, die im 54er Bayernstreik ihren Höhepunkt fand, stellte den Versuch dar, diese Niederlage lohnpolitisch zu kompensieren. Diese Politik leitete das Ende des offensiven sozialdemokratischen Nachkriegsreformismus ein, dem mit dem Landesverratsprozeß gegen Viktor Agartz, den geschaßten Leiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB, der letzte Sargnagel eingeschlagen wurde. Heute sieht die Sache etwas anders aus: Die Großorganisationen werden sich bis zur politisch-moralisch Selbstaufgabe anpassen und gleichzeitig einen Teil ihrer Basis an die Strömungen verlieren, die den Kampf für eine bessere Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Es wird nur eine Organisationsform erfolgreich sein können, welche die ökonomischen, kulturellen, sozialen, politischen, kurz: welche die vielfältigen Interessen des gesamten nicht kapitalbesitzenden Menschen entwickelt und vertritt. Die Flächentarifverträge, längst zum Sieb durchlöchert, werden irgendwann auch begrifflich der Vergangenheit angehören. Der Versuch des Peters-Flügels, das Ruder herumzureißen, war zwar richtig, greift aber zu kurz. Schon Lafontaine ist in der SPD bei dem Versuch, mit traditionellen Mitteln zu taktieren, politisch gescheitert. Nun zum Häuserkampf überzugehen, ist unvermeidlich, wird aber auf Dauer kaum Erfolge zeitigen. Zwar lassen sich mit relativ kleinen Belegschaften ganze Produktionszweige lahmlegen; die Diskussion über die Streikverbote für Piloten, Fluglotsen oder Lokführer zeigt aber, daß hier der nächste Großkonflikt ins Haus steht. Ohne breite Mobilisierungen wird sich die Tarifautonomie jedoch nicht verteidigen lassen. Diese Niederlage ist bitter, zweifelsohne. Aber wer geglaubt hat, die bessere Gesellschaft, in diesem Fall: eine Gesellschaft mit drastisch reduzierten Arbeitszeiten, ließe sich Schritt für Schritt mit Arbeitszeitverkürzungen erreichen, war einer Täuschung erlegen. Sozialer Fortschritt braucht kollektives Lernen. Und dieses Lernen hat historisch häufig in Niederlagen seinen Ausgangspunkt gehabt. Reflexion tut not, die nächsten Kämpfe werden ohnehin von der Kapitalseite diktiert werden. Anmerkungen:[1] Vgl. Helmut Schauer, Die Zukunft der Gewerkschaften und die Chancen einer sozial-ökologischen Reformpolitik. In: Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen (Hrsg.): Rot-Grün - noch ein Projekt? Versuch einer Zwischenbilanz. Kritische Interventionen Bd. V. Hannover 2001. Der mittlerweile verstorbene Schauer, zuständig für Grundsatzfragen in der IG-Metall, hat die selbstzerstörerischen Prozesse der 90er Jahre in diesem Aufsatz treffend analysiert. [2] Michael Jäger, Die SPD ist schuld. Freitag vom 4.7.2003. Jäger konstatiert, dass der IGM der politische Arm gefehlt habe und spricht sich mehr oder minder implizit für eine neue parteipolitische Vertretung der Arbeitnehmer aus. Die klassische Arbeitsteilung: hier Gewerkschaften, die für die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse zuständig sind, da die Partei, die die politische Interessenvertretung erledigt - dieses Modell stellt selbst ein Problem dar, weil es den bürgerlichen Schein, es handele sich um zwei sauber abgetrennte Bereiche, reproduziert. Selbst wenn man davon ausginge, dass sich das alte Modell wiederbeleben ließe und in ein weltumspannendes Netzwerk integrieren ließe - welche Aufgabe hätte dann die Partei? In einer Sphäre des "Politischen" die "ökonomische" Emanzipation der Lohnarbeitenden absichern? Durch eine Regulierung und Einhegung des Kapitalismus? Diese Versuche hat es gegeben, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie sind nicht zufällig gescheitert. [3] Vgl. Harry Braverman, Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß, Frankfurt/Main und New York 1977. [4] Man denke nur an die "Solidarität" der IG BCE beim Kampf der Kali-Kumpel in Bischofferode zu Beginn der 90er. Einer Kämpfende Belegschaft derart offen und bewusst in den Rücken zu fallen, ist schon eine Besonderheit in der ansonsten an Schweinereien nicht gerade armen Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland. Kontext:
sopos 7/2003 | |||
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