Den Aufsatz kommentieren Bomben im Namen der HumanitätZum NATO-Kriegseinsatz im Kosovo - Nachbetrachtungenvon Gregor KritidisDie Luftangriffe der NATO-Staaten im Frühjahr 1999 auf Städte in Jugoslawien wurden damit begründet, die Menschenrechtsverletzungen an der Bevölkerung im Kosovo seien auf andere Weise nicht zu verhindern. Der offensive militärische Angriff auf Serbien sei im Namen der Humanität notwendig und gerechtfertigt gewesen. Die Gegner dieses Krieges, so eine immer wiederholte Argumentation in den Medien, hätten keine Alternative zu den "Luftschlägen" vorbringen können, so daß als letztes Mittel die militärische Gewalt angewendet worden sei. Die Linke in der Bundesrepublik, traditionell von pazifistischen und antimilitaristischen Positionen stark beeinflußt, war in den Wochen des Krieges von einer äußerst ambivalenten Haltung geprägt. Insbesondere die Basis der Grünen, einst in der außerparlamentarischen Opposition gestartet, stand vor einer Zerreißprobe. Das kategorische "Nie wieder Krieg" geriet unter dem Eindruck der Massenvertreibungen ins Wanken. Das Regime in Belgrad, 1989 mit einem explizit nationalistischen Programm angetreten, könnte, so scheint es vielen, mit anderen Mitteln nicht in die Schranken gewiesen werden. Während die Frage, ob es einen gerechten Krieg geben kann, innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert wurde, waren sich die Vertreter von Regierung und Opposition dagegen sicher, daß sie in voller Übereinstimmung mit den Menschenrechten handeln würden. Ausgerechnet jedoch diejenigen Verfechter der Kriegspolitik wie Rudolf Scharping, die sich zuvor nicht als Verteidiger der Menschenrechte von Asylsuchenden hervorgetan hatten, reklamierten nun am lautesten die Menschenrechte für das Vorgehen der NATO gegen Jugoslawien. Der Glaube der Kriegsbefürworter an die Richtigkeit der eigenen Position und der Eifer, mit dem kritische Einwände vom Tisch gewischt wurden, ließen die Verdrängung der eigenen Zweifel in den Köpfen rot-grüner Politiker erahnen. Die Bemühung der NATO-Vertreter, den Luftkrieg gegen Serbien zu "Luftschlägen" kleinzureden, hätte mißtrauisch machen sollen. Die Tatsache, daß die offiziellen Kriegsziele der NATO durch die Vertreibung von hunderttausenden von Menschen schon in den ersten Wochen verfehlt worden waren, kann kaum als Argument für die Richtigkeit dieses Krieges herhalten. Genausowenig leuchtet es ein, warum die Bombardierung von Kindergärten, Museen oder Staubsaugerfabriken der Einhaltung der Menschenrechte dienen sollte.[1] Gelten für die Menschen in Jugoslawien keine Menschenrechte? Aber es handelte sich wohl nicht um das falsche Mittel für einen an sich richtigen Zweck, der durch Verhandlungen nicht hatte erreicht werden können; die offizielle Begründung dieses Krieges führt sich selbst ad absurdum, wenn man berücksichtigt, daß der am Krieg beteiligte NATO-Partner Türkei selbst seit Jahren einen schmutzigen Krieg gegen die Menschen in Kurdistan führt, noch bis kurz vor dem Krieg Flüchtlinge aus dem Kosovo nach Jugoslawien abgeschoben wurden, da dort eine "systematische staatliche Verfolgung" nicht stattfinde, und das Abschiebe-Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Jugoslawien auch während des Krieges in Kraft war.[2] Es ist schon ein offener Zynismus, daß die italienische Regierung Flüchtlingslager aus dem Boden stampfte, nachdem die italienische Marine zuvor noch ein Schiff mit Flüchtlingen aus Albanien kurzerhand in der Adria versenkt hatte. Derartige Widersprüche lassen nur den Schluß zu, daß es den westlichen Staaten nicht um den Schutz der Menschen im Kosovo ging, sondern die angeblich "humanitären Ziele" nur zur politischen Absicherung eines anderen Ziels dienten. Viele Politiker der SPD und der Grünen wie z.B. Helmut Lippelt waren offenbar von der Zweckmäßigkeit dieses Krieges zum Erhalt der Menschenrechte ehrlich überzeugt. Der Weg zur Hölle ist allerdings mit guten Vorsätzen gepflastert. An den tatsächlichen Kriegszielen änderte das nichts. Wer die Verhandlungen in Rambouillet verfolgt hat, kann nur zu dem Ergebnis kommen, daß ein Schutz der Bevölkerung nicht oberste Priorität hatte. "Das Programm der NATO", so Michael Jäger im Freitag vom 2.4.1999, "monatelang als Kompromißvorschlag ehrlicher Makler zum Wohle beider Streitparteien präsentiert, hatte sich plötzlich in ein UCK-Programm verwandelt, und dies in politischer, militärischer und propagandistischer Hinsicht"[3]. Von der serbischen Seite wurde gefordert, der Stationierung von NATO-Truppen im Kosovo zuzustimmen. Nach drei Jahren sollte neu über den Status des Kosovo entschieden werden, unter der politischen Bedingung einer gestärkten UCK[4]. Das konnte nichts anderes bedeuten, als die Abspaltung des Kosovo von Jugoslawien vorzubereiten[5]. Ein solcher Vorschlag konnte von der serbischen Führung nur abgelehnt werden und mußte Massenvertreibungen im Falle eines militärischen Eingreifens der NATO geradezu provozieren[6]. "Die Bevölkerung in Pristina hat Angst vor einer blutigen Eskalation im Falle einer NATO-Intervention", berichtete die Neue Züricher Zeitung einen Tag vor dem NATO-Angriff[7]. Die Behauptung der NATO, die Vertreibungen seien ohnehin geplant gewesen, verdrehte die Zusammenhänge und diente nur zur nachträglichen Rechtfertigung dieses Aggressionskrieges. Hätte man eine Lösung im Interesse der Menschen im Kosovo angestrebt und dafür den Einsatz von Militär für notwendig gehalten, wäre die Stationierung einer internationalen Truppe unter UNO- oder OSZE-Befehl und unter russischer Beteiligung notwendig gewesen. Aber schon die Zahl der OSZE-Beobachter im Kosovo erreichte nicht den Umfang der anfänglich vereinbarten 2000 Leute. Die Überwachung des Kosovo und die Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen hatte offenbar nur einen Alibi-Charakter. In Rambouillet ging es um alles andere als um eine Lösung im Sinne der Menschen im Kosovo. Die amerikanische Außenministerin Madlaine Albright hat die NATO-Verhandlungstaktik folgerichtig sinngemäß so charakterisiert: der Verlauf der Verhandlungen in Rambouillet sei so gestaltet worden, daß man die serbische Seite für den Abbruch der Verhandlungen verantwortlich machen konnte, sollte sie sich dem westlichen Diktat nicht beugen. Mit anderen Worten: dieser Krieg ist von der NATO geradezu provoziert worden, wobei die Vertreibung hundertausender Kosovo-Albaner billigend in Kauf genommen worden ist. Die Forderung an die NATO-Staaten, neue diplomatische Initiativen zu ergreifen, ging also vor diesem Hintergrund am Kern der Sache vorbei. Die NATO, darauf verweist auch die wiederholte brüske Zurückweisung der russischen Initiativen sowie die Ablehnung der serbischen Waffenstillstandsangebote, hatte kein vorrangiges Interesse an einer friedlichen Lösung, sondern verlangte die bedingungslose Erfüllungen ihrer Forderungen. Der Krieg gegen Jugoslawien ist die außenpolitische Ergänzung von dem, was in der Bundesrepublik nach innen als "Gobalisierung" und "Sicherung des Standortes Deutschland" verkauft wird. Sowenig es bei der Kürzung der Sozialhilfe, der Löhne oder Kindergartenplätze oder dem Asylbewerberleistungsgesetz um "Humanität" geht, werden außenpolitisch "humanitäre" Interessen verfolgt. Vielmehr handelt es sich um die Verfolgung von Interessen, die aus der ökonomischen Dynamik des Kapitalismus resultieren[8]. Die Notwendigkeit für die Kapitaleigner, zu akkumulieren, führt zu der Tendenz, die Produktion absolut ohne Rücksicht auf die Ausdehnung der Märkte zu erhöhen. Diese Tendenz hat in den vergangenen Jahren zum Entstehen von riesigen Überkapazitäten und zur Überproduktion geführt, die nicht mehr durch unproduktiven Konsum - z.B. in Form von Verpackungen oder Werbung - und staatliche Nachfrage nach Rüstungsgütern absorbiert werden kann. Die Folge ist ein weltweiter Verdrängungswettbewerb und eine massive Kapitalvernichtung z.B. in Form von Betriebsstillegungen. In der Bundesrepublik wird diese Entwicklung unter dem mystifizierenden Begriff 'Globalisierung' verhandelt. Tatsächlich drückt sich darin nur eine Folge der Überakkumulation aus. Für das einzelne Unternehmen besteht der Ausweg aus der Absatzkrise in einer verschärften Rationalisierung. Dadurch verringert sich jedoch das Verhältnis von fixem Kapital zu der damit angewandten Arbeitskraft, was die Profitabilität tendenziell verringert. Begegnet wird dieser Tendenz durch Senkung der Kosten - besonders der 'Arbeitskosten' - und einer beschleunigten Expansion. "Die Erlöse sinken schneller als die Kosten", beschwerte sich etwa Bruno Adelt, Finanzvorstand bei VW. "Wenn der gesamte Markt nicht wachse, dann müsse man eben der Konkurrenz etwas wegnehmen. "Daß wir verdrängen wollen, ist doch klar"[9]. Der 'Wettbewerb' auf dem 'freien Markt' ist längst zu einem erbarmungslosen Kampf um den "Platz an der Sonne" geworden. "Die herrschende Meinung darüber in den kapitalistischen Demokratien ist bemerkenswert naiv, der Ton der Debatte ist außergewöhnlich aggressiv, ja kriegerisch geworden und obendrein scheint sich die Debatte von jeder Ziel-Mittel-Logik gelöst zu haben, so daß die Konkurrenz bzw. die Konkurrenzfähigkeit selbst zum obersten und alles beherrschenden Ziel der Politik, wo nicht gar zum Selbstzweck zu werden droht"[10]. Daß dieser Verdrängungswettbewerb auch mit politischen Mitteln geführt wird, liegt in der Logik der Sache. So heißt es beispielsweise in einer gemeinsamen Erklärung der SPD-Wirtschaftsminister und der wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD-Fraktionen in Bund und Ländern: "Die Anstrengungen deutscher Unternehmen zur Erschließung neuer Märkte müssen durch eine aktive Außenwirtschaftspolitik unterstützt werden. Ein Land, in dem jeder vierte Arbeitsplatz vom Export abhängt, kann es sich nicht leisten, daß unsere Unternehmen auf den Auslandsmärkten nur deshalb das Nachsehen haben, weil sich die Regierungen unserer Konkurrenten wirksamer für ihre Unternehmungen einsetzen. Die deutschen Botschaften im Ausland müssen sich stärker als bisher handelspolitisch engagieren. Die deutsche Entwicklungspolitik muß enger mit der Außenwirtschaftspolitik verzahnt werden"[11] . Wie diese "aktive Außenwirtschaftspolitik" auch ihre geostrategische und militärpolitische Ergänzung findet, ist in den verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesverteidigungsministeriums von 1992 nachzulesen. Diesen wird ausdrücklich ein "weiter Sicherheitsbegriff" zugrunde gelegt, und es wird folgendermaßen definiert, was darunter zu verstehen ist: "Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Konflikten jeglicher Art, die die Unversehrtheit und Stabilität Deutschlands beeinträchtigen können; Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität; Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu den strategischen Rohstoffen im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung"[12]. Unter 'gerecht' wird dabei freilich das gegenwärtige System mit seinem Raubbau an Mensch und Natur verstanden. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, mußte die Bundeswehr von einer hauptsächlich defensiv ausgerichteten Massenarmee in eine kleine, aber schlagkräftige Interventionsstreitmacht umgerüstet werden. Lebendig hat die Süddeutsche Zeitung diese Umstrukturierung beschrieben: "Jetzt steht Modernisierung ganz vorne - unter dem Aspekt der 'Leichtfüßigkeit' und Projektionsfähigkeit, und das kostet Geld. Mehr Transporthubschrauber sollen her, auch Nachfolger für die veraltete Transall. Der Airbus soll als Frachter rekrutiert werden. Für Langstreckeneinsätze soll die Marine zwei Versorgungsschiffe erhalten; ihre Schnellboote werden durch etwa 15 Korvetten ersetzt. Geplant ist eine neue, leichtere Panzer-Generation - auch ein leichteres, weil kleinkalibrigem Sturmgewehr. Damit sich der Infanterist in unvertrautem Gelände besser zurechtfindet, soll ein satellitengestütztes Kommunikationssystem aufgebaut werden (was die USA im Golfkrieg vorexerziert haben). Komplettiert wird das Projektions-Programm realistischerweise durch hochmobile Feldlazarette"[13]. Das hochstrapazierfähige, balkantaugliche Leichensackmodell wurde realistischerweise nicht erwähnt, aber es ist zu vermuten, daß auch daran gedacht worden ist. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und jetzige Vorsitzende des NATO-Militärauschusses Naumann hat in diesem militärpolitischen Sinne verlangt, der deutsche Soldat müsse "auch fern der Heimat" versuchen, "Krisen von seinem Land fernzuhalten, das während seines Einsatzes weiter in Frieden lebt"[14]. Von "Humanität" war in solchen Zusammenhängen bisher wenig die Rede.[15] Warum nun dieser Krieg? Der Balkan ist historisch ein Schnittpunkt gegensätzlicher geopolitischer Interessen. Rußland bzw. die Sowjetunion hatte traditionell das Interesse, den eigenen Einflußbereich bis an das Mittelmeer auszudehnen. Das hängt unter anderem damit zusammen, daß die Türkei die Durchfahrt vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer kontrollierte und den Einsatz der russischen Flotte im Mittelmeer unmöglich machte. Die westlichen Staaten - besonders Großbritannien und die USA - waren stets daran interessiert, ihre Vormachtstellung im östlichen Mittelmeer zu behaupten. Diesem Umstand ist die Existenz des Staates Albanien geschuldet; aus dem gleichen Grund wurde Thrakien nach den Balkankriegen 1912/13 Griechenland zugeschlagen. Auch die Niederschlagung der griechischen Volksbefreiungsbewegung nach dem II.Weltkrieg durch Großbritannien und die USA hatte ihre Ursache in der Eindämmung des russisch-sowjetischen Faktors. Durch die Erweiterung der NATO nach Osten - angeblich ein nicht gegen Rußland gerichteter Schritt - wird nun der Einfluß Rußlands in Mittelosteuropa erheblich beschnitten. Mit einem Beitritt Bulgariens und Rumäniens würde der Balkan eine von den NATO-Ländern beherrschte Region. Sowohl Bulgarien als auch Rumänien haben westlich orientierte Regierungen und die vom Westen geforderte Öffnung ihrer Märkte realisiert. Die von der rumänischen Regierung niedergeschlagenen Bergarbeiterproteste und die dadurch möglich gewordene Ankündigung, die nicht privatisierbaren Branchen mit über 100.000 Beschäftigten zu schließen, verweisen auf diesen Zusammenhang. Im Vertrag von Rambouillet wurde daher bezeichnenderweise auch festgelegt, "daß die Ökonomie des Kosovo gemäß den Prinzipien der Freien Marktwirtschaft funktionieren" müsse[16]. Jugoslawien bildet auf der Balkanhalbinsel im gewissen Sinne eine Ausnahme: die Führung in Belgrad hat sich aus innenpolitischer Rücksichtnahme gegenüber der Lohnarbeiterschaft bisher jeglichen Pressionsversuchen, die Märkte des Landes zu öffnen, resistent gezeigt. Das hat vermutlich mit der langen antiimperialistischen Tradition Jugoslawiens zu tun, das sich mehrfach der Intervention der Großmächte erwehren mußte, so im Ersten Weltkrieg dem Ausdehnungsbestreben Österreich-Ungarns und Deutschlands, im Zweiten Weltkrieg der Aggression des faschistischen Deutschlands, Österreichs und Italiens. Nach dem Krieg konnte sich die jugoslawische Volksbefreiungsbewegung unter Tito nicht nur der westlichen Beeinflussung erwehren, sondern auch dem Versuch der Sowjetunion, durch die Gründung sowjetisch-jugoslawischer Aktiengesellschaften Entscheidungsgewalt über Teile des ökonomischen Potentials zu bekommen. Mit der Veränderung der Einflußsphären auf dem Balkan ist Jugoslawien nun in eine prekäre Situation gekommen. "Schon in der Zeit, als Klaus Kinkel noch Chef des BND war", schreibt Eugen Drewermann im Freitag, "gab es Planspiele, wie man den Tito-Staat auf dem Balkan durch Ausnutzung der ethnischen Frage zerstückeln könnte, und mit der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens begann dieses 'Spiel' denn auch, sich zu realisieren"[17]. Die Anerkennung von Slowenien und Kroatien bildete einen vorläufigen Höhepunkt dieser Zerteilungspolitik[18]. Mit dem Bosnien-Krieg und dem Abkommen von Dayton wurde ein weiterer Schritt auf dem Weg der Zerstückelung Jugoslawiens zurückgelegt. Freilich war das zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegen den Willen Rußlands zu verwirklichen. Der Diktatfrieden von Dayton wurde schließlich auf der Basis eines politischen Kuhhandels möglich: der Westen akzeptierte den russischen Zugriff auf einen Teil des kaspischen Öls gegen eine Festschreibung des status quo auf dem Balkan. Die laxe Haltung des Westens gegenüber dem russischen Vormarsch in Tschetschenien, Transitland einer Pipeline zum Schwarzen Meer, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Der Freitag analysierte diesen Zusammenhang folgendermaßen: "Jüngstes Beispiel ist die Konzession beim 'Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa' (CFE), der Rußland nun doch erlaubt, bisher geltende Höchstgrenzen zu überschreiten, d.h. Panzer und schwere Artillerie im Kaukasus zu stationieren. Für die NATO ein strategisch weitgehend wertloser Vorgang, für die dortigen Menschen bedrohlich, sollten sie ihrem Unabhängigkeitswillen nicht abschwören. Dafür erwartet die NATO Konzillianz in der Bosnien Frage."[19] Ganz bedeutungslos war der Tschetschenienkrieg und die russische Politik im Kaukasus für die Westmächte allerdings nicht. "Die Drohung richtet sich auch gegen den Westen: sein Verhalten, nicht zuletzt in der Frage der NATO-Osterweiterung, werde mitbestimmen, ob und wie lange das letztlich von Rußland kontrollierte Öl Aserbaidschans und Kasachstans im Boden bleibe."[20] Mit der Zuspitzung der ökonomischen Krise in Rußland wurde dieses Szenario hinfällig, wie sich bei der Frage weiterer Kreditgewährung zeigte: der Westen erkaufte mit Kreditzusagen praktisch das Stillhalten Rußlands wärend des Krieges. Eine antiwestliche Radikalisierung der politischen Kräfte in Rußland könnte dieses Kalkül jedoch mittelfristig über den Haufen werfen. Daß die Regierung Milosevic trotz ihrer gegenüber Minderheiten rücksichtslosen Politik und ihrer undemokratischen Praktiken in der Bevölkerung Jugoslawiens lange einen relativ breiten Rückhalt hatte, hängt damit zusammen, daß Milosevic lange Symbol für den Widerstand gegen den Ausverkauf des 'nationalen' Produktivvermögens des Landes an westliche Konzerne mit all den damit verbundenen sozialen Konsequenzen war. Damit dürfte es mit dem Sturz des Milosevic-Regimes nun vorbei sein, wie das Beispiel der anderen Balkan-Staaten zeigt. Wie eine pro-westliche Regierung agiert, verdeutlicht exemplarisch das Beispiel Griechenland. Der Versuch der Regierung Simitis, die Kriterien von Maastricht zu erfüllen, hat eine beispiellose Demontage sozialer Rechte und Errungenschaften zum Ergebnis gehabt. Der Widerstand gegen diese Politik ist seit Beginn der 90er Jahre massiv angewachsen. Die konservative Tageszeitung Kathimerini kommentierte die zunehmende soziale Polarisierung anläßlich der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten der Hilfslehrer im Sommer 1998 mit den Worten, es sei unmöglich, "daß der Staat zu einem Punkt komme, wo er seine Politik nur noch mit der 'Hilfe' polizeilicher Kräfte durchsetzen könne", weil dadurch der Eindruck entstehe, "der Staat befinde sich im ständigen Gegensatz zum gesellschaftlichen Ganzen"[21]. Es ist umgekehrt: der griechische Staat verfolgt tatsächlich ein der breiten Mehrheit der Menschen entgegengesetztes Interesse, nur daß das nicht allen immer so erscheint. Jedes Lob aus Brüssel an Regierungschef Simitis war bisher von Protesten im eigenen Land begleitet. Es dürfte vor diesem Hintergrund nicht verwundern, daß Griechenland, das "schwarze Schaf" innerhalb der EU, von einer Anti-NATO-Stimmung erfaßt worden ist wie sonst kein anderes Land in Europa. Der Balkan ist jedoch nicht nur aus im engeren Sinne ökonomischen Gründen interessant. Für Italien, Deutschland und die anderen mitteleuropäischen Staaten ist der Balkan traditionell die Brücke in den mittleren Osten. Die wesentlichen Verkehrwege der Region verlaufen bislang über Serbien. Durch den Bürgerkrieg hatte sich der Verkehrsstrom zu einem großen Teil nach Italien und Griechenland verlagert. Wesentliche Profiteure dieser Verschiebung waren die Reeder der Region. Gegenwärtig befindet sich eine Autobahn von Igoumenitsa in Nordwest-Griechenland bis nach Alexandroupolis an der türkischen Grenze im Bau; finanziert wird dieses Projekt mit Mitteln der EU. Dennoch ist diese Straßenverbindung ein großer Umweg und hat mit der Seeverbindung von Ancona bzw. Bari in Italien nach Igoumenitsa in Griechenland ein Nadelöhr. Mittelfristig wäre eine Straßen- und Schienenverbindung über Bosnien, Montenegro, den Kosovo und Mazedonien ein lohnendes Projekt im Sinne ökonomischer 'Standortsicherung'. Mit dem Herausbrechen des Kosovo aus Jugoslawien, der Errichtung eines Protektorates und nicht zuletzt dem Sturz des Regimes Milosevic ist die NATO der Realisierung ihrer geopolitischen Interessen erheblich näher gerückt. Inwieweit Serbien ein Störfaktor bleibt, ist abzuwarten. Die Veränderung der Grenzen auf dem Balkan als 'Resultat' 'ethnischer', d.h. nationalistischer und rassistischer Konflikte ist seit dem Beginn des Bürgerkrieges in Jugoslawien eifrig propagiert und politisch gefördert worden. Die Massenvertreibungen, die als ethnische Säuberungen bezeichnet wurden, sofern sie von serbischer und nicht etwa von kroatischer Seite aus unternommen wurden, liegen in der Logik dieser Überlegungen. Im Falle des Kosovos bot sich auch eine solche "Lösung" an. Der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gerne zitierte Chefredakteur der Deister- und Weser-Zeitung, Hermann Griesser, argumentierte genau in diese Richtung: "Vernünftig wäre es dagegen, alle serbischen Kräfte aus dem Kosovo rauszuwerfen, das Land mit NATO-mitbestimmten Schutztruppen zu besetzen und als selbstständigen Staat anzuerkennen. Ein solcher Staat könnte in der Region dann zumindest so lange bleiben, bis das Volk in freier Abstimmung einen anderen Weg - zum Beispiel den Anschluß an Albanien - gewählt hätte"[22]. Indirekt bestätigte er damit die Vertreibungen der serbischen Truppen: wenn die Minderheiten innerhalb eines Staates dazu instrumentalisiert werden sollen, die Abspaltung eines Teilgebietes vorzubereiten, dann - so die Schlußfolgerung des Milosevic-Regimes - muß man eben diese Minderheit aus dem eigenen Territorium vertreiben. Die ökologischen Folgewirkungen dieses Krieges - und damit die Gesundheit und das Leben der Menschen auf dem gesamten Balkan - sind bislang nur am Rande thematisiert worden. Die Verseuchung von Luft, Wasser und Boden durch brennende Raffinerien und Chemieanlagen, zerstörte Depots, Versorgungsleitungen usw. sind dabei der eine Aspekt; schon Anfang April 1999 wurde auch vor den Wirkungen uranhaltiger Waffen gewarnt, wie sie zur Zerstörung von gepanzerten Fahrzeugen eingesetzt werden.[23] Das Uran hat dabei den Zweck, die Durchschlagswirkung der Munition zu erhöhen. Im Krieg am Golf waren solche Waffen von den USA bei der Bekämpfung irakischer Einheiten eingesetzt worden; auch in Bosnien sollen uranhaltige Geschosse zum Einsatz gekommen sein.[24] Von den US-Soldaten, die am Golf eingesetzt waren, leiden viele unter Symptomen, die bei der Verseuchung mit radioaktiven Substanzen auftreten. Die NATO hat nach offiziellen Angaben keine Apache-Hubschrauber und A-10-Kampfflugzeuge, die mit solchen Geschossen ausgerüstet sind, eingesetzt[25]. Aber auch ohne die Freisetzung großer Mengen radioaktiver Stoffe wird dieser Krieg in ökologischer Hinsicht langfristig katastrophale Folgen haben. Wie auch immer eine dauerhafte Nachkriegsordnung aussehen wird: Dem imperialistischen Krieg wird ein imperialistischer Frieden mit "freier Marktwirtschaft" in Jugoslawien folgen. Die westlichen Konzerne sitzen bereits in den Startlöchern, um mit einer großangelegten 'Wirtschaftshilfe' die "Neue Weltordnung" auf dem Balkan zu errichten. Ein Groß-Albanien - sollte es denn geschaffen werden - wird aber kaum zur 'Stabilisierung' der Region beitragen, nicht einmal aus Sicht der NATO-Strategen. Eine Destabilisierung Mazedoniens, das eine große albanische Minderheit hat, wäre die Folge. Und gibt es dort nicht auch eine bulgarische Minderheit? Und haben nicht die griechischen Nationalisten bereits eine 'griechische' Minderheit in Mazedonien ausgemacht? Das gegenwärtige albanische Regime verdankt seine Existenz der Niederwerfung der revolutionären albanischen Bewegung vom Frühjahr 1997 und der dauerhaften Stationierung von NATO-Truppen im Land. Mazedonien steht bereits länger unter dem 'Schutz' der NATO. Die Menschen im Kosovo werden sich auf Dauer kaum mit nationalistischen Phrasen abspeisen lassen, es sei denn, dem Westen gelingt es, diese mit Brot und Speck zu unterfüttern. Angesichts der gegenwärtigen politischen Bedingungen ist aber ein Entwicklungsmodell für den Balkan, daß sich nicht gegen die imperialistischen Mächte richtet, kaum vorstellbar. Es gibt gegenwärtig nur wenige, die sich eine Einheit der
Völker auf dem Balkan vorstellen können. Emir Kustoricas Film
"Underground", der genau diese Perspektive hochhält, ist im Westen
in den Feuilletons zerrissen worden, hat aber auf der Balkanhalbinsel
durchaus positive Resonanz gefunden. Es ist durchaus möglich,
daß trotz Krieg und Terror sich eine Gegenbewegung Bahn bricht.
Nach der Periode der Kriege auf dem Balkan 1912-1922 entstand nicht
zuletzt aus den Anti-Kriegsbewegungen eine radikale sozialistische
Srömung, die die Vorstellung einer Balkan-Föderation
weitertrug. Auch wenn diese Utopie nach dem Zweiten Weltkrieg nur
teilweise realisiert werden konnte - es gibt diese Tradition, und die
Menschen, die sie vertreten, verdienen die Unterstützung gegen den
vom Westen mit seinen Bomben geförderten völkischen
Nationalismus, der bisher Terror und Vertreibung zur Folge gehabt
hat. Anmerkungen[1] Vgl. die Tagebuchaufzeichnung der Literaturwissenschaftlerin Vladislava Gordic aus Novi Sad im Freitag vom 16. April 1999, sowie Frankfurter Rundschau vom 29. April 1999. Die Zerstörung der gesamten Infrastruktur Jugoslawiens wird - neben den unmittelbaren Kriegsopfern - noch zahlreiche Menschenleben kosten. [2] Ein Sprecher von ProAsyl hat in einer Diskussionssendung im Deutschlandfunk am 7. April 1999 nocheinmal darauf hingewiesen; vgl. auch die Stellungnahme von ProAsyl in der Frankfurter Rundschau vom 9. April 1999. [3] Vgl. "Out of UNO", Freitag vom 2. April 1999. [4] Vgl. "Warum die Bedingungen von Rambouillet nicht angenommen wurden", Analyse in der griechischen konservativen Tageszeitung Kathimerini vom 28. März 1999. [5] Der SPD-Politiker Egon Bar im Interview mit dem Freitag: "Wenn das stimmt, was mein Freund Czempiel aus Frankfurt gesagt hat, daß Truppenstationierungen der NATO für ganz Serbien vorgesehen waren, dann ist das unannehmbar für Milosevic". Freitag vom 9. April 1999. Es ist mittlerweile herausgekommen, daß es zum Vertrag von Rambouillet ein geheimes Zusatzprotokoll gibt, das eine weitreichende Beschränkung der Souveränität Jugoslawiens nicht nur im Kosovo zum Inhalt hat. Vgl. Tagesschau um 17.00 Uhr am 12. April 1999 sowie Die Tageszeitung vom 12. und 13. April 1999. [6] Der Generalmajor Alexander Wladimirow, Vizepräsident des Kollegiums der Militärexperten Rußlands schrieb am 26. März 1999 (!) in der Moskauer Wochenzeitung Wjek: "Zweifelsohne wird dies ein Krieg bis zur vollständigen Vertreibung aller Albaner auf das Territorium Albaniens noch in der ersten Kriegswoche sein. (...) Um eine solche Entwicklung zu verhindern, wird die NATO gezwungen sein, Bodentruppen einzusetzen, also das Kosovo zu okkupieren". Zitiert nach Freitag vom 9. April 1999. Ein solcher Einsatz war aber offensichtlich nicht geplant, die Massenvertreibungen sind also bewußt in Kauf genommen worden. Sich nachher über die besondere Grausamkeit der jugoslawischen Einheiten überrascht zeigen, ist ein besonderer Fall von Heuchelei. Die NATO-Staaten hätten sich aus innenpolitischen Gründe die Übernahme einer derartigen "Verantwortung" kaum leisten können. Für die eigene "humanitäre" Einstellung etwas riskieren möchte keiner. [7] NZZ vom 23. März 1999. In einer Einschätzung des Auswärtigen Amtes vom 24. März heißt es, es drohe "keine Verfolgung durch die serbisch dominierte Staatsmacht wegen der Volkszugehörigkeit der Kosovo-Albaner". Frankfurter Rundschau vom 23. April 1999. [8] Diese Problematik kann hier nicht entwickelt, sondern nur angerissen werden. Verwiesen sei z.B. auf die zusammenfassenden Darstellungen bei Eugen Varga, Die Krise des Kapitalismus und ihre politischen Folgen, hrsg. und eingeleitet von Elmar Altvater, Frankfurt am Main 1969. [9] Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 29.März 1996. [10] Michael Krätke, Standortkonkurrenz - Realität und Rhetorik, in: Ökonomie ohne Arbeit - Arbeit ohne Ökonomie? Kritische Interventionen Bd. 1, Hannover 1997. [11] Zitiert nach Konkret 9/1995 S.21. [12] Zitiert nach Freitag vom 29. März 1996. [13] Süddeutsche Zeitung vom 29.2.1996. [14] Der Spiegel 44/1995 vom 30.10.1995. [15] Vgl. z.B. auch die empirische Untersuchung von Wolfgang Michal, Deutschland und der nächste Krieg, Berlin 1995. [16] Freitag vom 23. April 1999. [17] "Stahlhelm-Pazifismus", Freitag vom 9.April 1999. In Konkret sind bereits mit dem Beginn des Bürgerkrieges auf dem Balkan ähnliche Positionen vertreten worden; das bemerkenswerte ist, daß mit Drewermann sich ein Prominenter aus der katholischen Tradition diese Sichtweise zu eigen gemacht hat. [18] Vgl. "Brennend nach Aktion", Der Spiegel Nr. 26 vom 26. Juni 1995. [19] Freitag vom 22. September 1995. [20] Curt Gasteyger, "Ölpoker am kaspischen Meer", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Mai 1996. [21] Kathimerini vom 12. Juli 1998. [22] Deister- und Weser-Zeitung vom 24. April 1999. [23] So ein Beitrag von Thanasis Geranios vom Institut für Kern- und Teilchenphysik der Universität Athen in der linksliberalen griechischen Tageszeitung Eleftherotypia vom 9. April 1999. [24] Ebd. [25] Vgl. den Beitrag "Ein 'stummer Giftgaskrieg' in Jugoslawien" von Knut Krusewitz, Umwelt- und Friedensforscher an der TU-Berlin, in der Frankfurter Rundschau vom 29. April 1999. Photos (4): Bundeswehr Bildarchiv Kontext:
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