Den Aufsatz kommentieren Die Grenze der AnpassungArgentiniens Krise droht sich auszuweitenvon Alberto R. Bonnet Die Eins-zu-eins-Anbindung des Peso an den US-Dollar und die gleichzeitige Liberalisierung des internationalen Warenverkehrs bedeuteten für Argentinien einen konstanten Zwang, die Exploitation der Arbeitskraft zu erhöhen. Der argentinische Kapitalismus der Nachkriegszeit hatte eine Besonderheit: Die Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit sowie zwischen den verschiedenen Kapital-Fraktionen drückten sich in Form periodischer Inflationsschübe aus. Ihr Höhepunkt war die Hyperinflation von 1989/90. Sie muß als eine gewaltige Offensive des Kapitals gegen die Arbeit verstanden werden, als außerordentliche Enteignung, oder genauer: als Wiederholung des Prozesses der ursprünglichen Akkumulation.[1] Die Kaufkraft der Löhne sank täglich, die Arbeitslosigkeit erreichte nie gekannte Ausmaße und die Arbeiter sahen sich zu Plünderungen gezwungen, um Lebensmittel zu beschaffen. Aber mit der Inflation wurden auch die Mechanismen zur Kosten/Gewinn-Rechnung zerstört und die Zahlungsketten unterbrochen. Kurz: die Kontinuität der Akkumulation war nicht mehr gewährleistet. Das Gesetz zur Währungsparität zwischen Peso und US-Dollar im Jahre 1991 war ein Versuch des argentinischen Großbürgertums, den hyperinflationären Episoden der Jahre 1989/90 und dieser Form des Klassenkampfes ein Ende zu bereiten. Ein Experiment, das zehn Jahre danach mit der Finanzkrise und dem Aufstand der Massen sein Ende fand. Die Eins-zu-eins-Anbindung des Peso an den US-Dollar war ein besonderer Ausdruck des neoliberalen Modells in Argentinien in den 90er Jahren. Die Festsetzung des Wechselkurses und die gleichzeitige Liberalisierung des internationalen Warenverkehrs bedeuteten für Argentinien einen konstanten Zwang, die Exploitation der Arbeitskraft zu erhöhen. Des traditionellen Mittels der Abwertung der eigenen Währung beraubt, mußte sich die internationale Konkurrenzfähigkeit und die Eingliederung Argentiniens in den Weltmarkt direkt auf die Erhöhung der Produktivität der Arbeitskraft und auf die Senkung der Lohnkosten stützen. Die Aufgabe der Politik bestand also darin, die Ausbeutung der Arbeit zu erhöhen. Sie war eingebettet in ein neoliberales Disziplinierungsregime, das in den 90ern die bürgerliche Hegemonie sichern sollte. Dieses Regime basierte auf einem Deal: Die Arbeiter mußten eine bis dahin ungekannte, durch die Währungsparität verstärkte Ausbeutung akzeptieren. Im Gegenzug mußte das Bürgertum die hyperinflationäre Enteignung stoppen.[2] Dies geschah auf zwei Arten: In expansiven Phasen (1991 bis Anfang 1994 und Ende 1995 bis Mitte 1998) wurden zuerst die vorhandenen Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung durch Rationalisierung der Arbeitsprozesse bis ins Extrem ausgereizt, danach wurde in neue Technologien investiert. In rezessiven Phasen (Anfang 1994 bis Ende 1995 und nach 1998) dagegen mußten und konnten – unter den Bedingungen extrem großer Arbeitslosigkeit – die Löhne gedrückt werden. Asienkrise ohne EndeDer nach neoliberaler Vorstellung nicht-interventionistische Staat unternahm in dieser Zeit alles, um die Kapitalrentabilität zu fördern. Während der Regierungen Menems und De La Rúas sank der Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung, wurde eine Steuerreform eingeführt und die Privatisierung vorangetrieben. Um den Ausbeutungsgrad der Arbeitskraft zu erhöhen, reformierte der Staat das Arbeitsrecht, was die Prekarisierung zahlreicher Arbeitsverhältnisse zur Folge hatte. Selbst die Einkommen im öffentlichen Dienst wurden beschnitten. Bei der Betrachtung der genannten rezessiven und expansiven Phasen wird evident, daß sie vom Zu- bzw. Abfließen externen Kapitals beeinflußt waren. Die Abhängigkeit von den Kapitalströmen teilt das argentinische Modell mit allen neoliberalen Modellen. Die Sanktionen, die in den Bewegungen des Geldkapitals ausgedrückt sind, stellen die allgemeinste Form des Kapitalkommandos im Weltmarkt dar. In diesem Sinne kann man selbstverständlich die argentinische Krise mit den Krisen in anderen lateinamerikanischen Ländern in Verbindung bringen. Allerdings bedeutete die Währungsparität in Argentinien aufgrund der damit verbundenen gesteigerten Ausbeutung der Arbeit eine extrem harte Form dieser Abhängigkeit. Als Konsequenz des letzten großen Kapitalabzuges durch in- wie ausländische Gläubiger und Investoren kam es im Dezember 2001 zum Ausbruch der Krise. De facto hat sich Argentinien nie von den Konsequenzen der von Asien ausgehenden Krise 1998 erholt. Sie erreichte das Land als Folge der Krise in Brasilien in der zweiten Hälfte desselben Jahres. Viel stärker noch als 1995 schlug die Rezession in eine Depression und offene Deflation um. Das Bruttoinlandsprodukt fiel zwischen 1999 und 2001 um 7,5 Prozent, die Investitionen sanken um 44,8 Prozent, die Arbeitslosenrate vom Oktober 2001 errang den Spitzenwert von 18,3 Prozent. Im Verlauf der Krise Ende 2001 wurde der Schuldendienst zur untragbaren Last und der internationale Markt für Staatspapiere schloß seine Türen für argentinische Anleihen. (Un)begrenzte PerspektivenDie von den Menem- und De La Rúa-Administrationen angesichts des depressiven Szenarios angewandte Wirtschaftspolitik war die einzige, die noch möglich war, ohne die Währungsparität aufgeben zu müssen. Sie bestand aus einer Serie von Anpassungen der öffentlichen Einkommen und Ausgaben, was die künstliche Aufwertung des Peso und die Depression nur noch verschärfte. Gleichzeitig wurden neue Verhandlungen mit den internationalen Finanzorganisationen aufgenommen. Diese weitere Offensive des Kapitals gegen die Arbeit, die auf eine Senkung der Nominallöhne und -preise abzielte, um die Wettbewerbsfähigkeit wieder her zu stellen, fand seine Grenze im Aufstand vom Dezember 2001. Die Graffitis an den Mauern Buenos Aires' bringen es auf den Punkt: »Die Grenze der Anpassung ist der Widerstand der Angepaßten.« Die Zahlungsunfähigkeit gegenüber den internationalen Gläubigern zeigte, daß die Weltmarktintegration Argentiniens auf der Basis der Währungsparität gescheitert war. Der Zusammenbruch des Dollar-Peso wurde zum Debakel des gesamten argentinischen Bankensystems. Beides zusammen könnte mittelfristig in der ganzen Region nachwirken. Die Wachstumsperspektiven Lateinamerikas waren in den letzten Jahren ohnehin schon sehr begrenzt. Bereits seit 1999 war ein Rückfluß der produktiven und der Finanzkapitale bemerkbar und die Mengen und Preise der Waren, die von den rezessiven Ökonomien im Norden nachgefragt wurden, gingen 2001 drastisch zurück. Die Ängste der WährungshüterMit der argentinischen Krise verschlechterte sich das ganze lateinamerikanische Panorama noch weiter. Die argentinischen Importe aus Lateinamerika gingen auf ein Drittel zurück. Dies wirkte sich auf Uruguay, Chile, Paraguay und, wenn auch in geringerem Maße, auf Brasilien aus. Die internationalen Investoren reagierten mit Mißtrauen auf die Zahlungsausfälle und sorgten somit für einen Anstieg der Zinsen in Uruguay und Brasilien. Die transnationalen Konzerne fuhren ihre Investitionen zurück und reagierten damit auf die Verluste, die sie durch die Abwertung des Peso in den privatisierten und anderen argentinischen Unternehmen machten. Die aktuellen Probleme Uruguays und Brasilien sind symptomatisch für die Probleme im lateinamerikanischen Kontext, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Uruguay wurde direkt von der argentinischen Krise erfaßt. Auf das Zusammenschrumpfen seiner Einkünfte aus dem Export und dem Tourismussektor folgte die rasante Flucht der Bankguthaben, angesteckt durch die Bankenkrise in Argentinien. Das drängte drei der großen Institute des uruguayischen Bankensystems – ein bedeutender Faktor im regionalen Finanzgefüge, eng verflochten mit den argentinischen Banken und eine Einkommensquelle mit Schlüsselstellung – an den Rand des Zusammenbruchs. Die staatlichen Reserven dezimierten sich und das wiederum erzwang, wie in Argentinien, das Einfrieren der Guthaben per Dekret. Der Fall Brasilien ist etwas anders gelagert. Seine Wirtschaft ist drei bis viermal größer als die Argentiniens und trotz der engen Verflechtungen im Mercosur im Falle einer Krise des kleineren Nachbarlandes weit weniger verletzbar als umgekehrt. Trotzdem zeigen die jüngste Abwertung des Real, die Einstufung als Risikoland seitens des IWF, der Anstieg der Zinsen für Brasilien und die Börsen-Einbrüche, daß auch die brasilianische Wirtschaft von der neuen Finanzkrise erschüttert werden kann. Die seit Ende 2000 nicht mehr abklingenden Ängste des IWF, dass Argentinien zum Epizentrum einer regionalen Krise werden könnte, mögen sich als berechtigt erweisen. Deshalb hatte der IWF zwischenzeitlich seine Strategie geändert: Anstatt direkt in die krisenhafte Ökonomie Argentiniens zu intervenieren, sollten sie und ihre Auswirkungen von der Umgebung isoliert werden. Noch im World Economic Outlook vom April 2002 prahlte der IWF mit dem angeblichen Erfolg dieser Strategie und begründete dies mit den begrenzten regionalen Auswirkungen der argentinischen Krise. Die nur vier Monate später gewährten Megakredite an Uruguay und Brasilien (insgesamt 30 Milliarden Dollar) und die neuen Verhandlungsrunden mit Argentinien belegen allerdings, daß die Ängste sich nicht verflüchtigen. Anmerkungen:[1] Ursprüngliche Akkumulation meint hier nicht die historischen Embryonalformen kapitalistischer Akkumulation (z. B. feudale Aneignung von Ernten), sondern die immer wieder neu erfolgende Zurichtung der Bevölkerung auf kapitalistische Verwertung (etwa durch Hyperinflation). Zur Kontinuität der Ursprünglichen Akkumulation siehe die Arbeiten von Massimo De Angelis und Werner Bonefeld unter www.commoner.org.uk [2] Eine ausführliche Analyse dieses Zusammenhangs findet sich in Cuadernos del Sur 33 (Buenos Aires 2002) oder auf der Website der Zeitschrift Theomaia (Ausgabe número especial-invierno de 2002) Alberto R. Bonnet ist Dozent für Ökonomie und
Sozialwissenschaften an den Universitäten Buenos Aires und Quilmes. Er
promoviert derzeit über die Krise der Währungsparität, ist
Mitherausgeber der Zeitschrift Cuadernos del Sur und Autor zahlreicher
Bücher und Artikel.
sopos 10/2002 | |||
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