Den Aufsatz kommentieren Die Borderlinisierung der GesellschaftZur Entwertung des Menschenvon Utz Anhalt
Wir leben in einer Zeit, in der schon das Nachdenken über gesellschaftliche Verhältnisse, das Denken selbst als Anachronismus erscheint, als zwecklos, weil nicht kommerziell verwertbar. Die politischen Rahmensetzungen, wie etwa die ökonomische Übertragung der Darwinschen Lehre auf gesellschaftliche Verhältnisse, mit der massiver Sozialabbau gerechtfertigt wird, das Bekenntnis der herrschenden Parteien von Bündnis 90/ Die Grünen bis zur CSU zu einer neoimperialistischen Außenpolitik mit Schaffung einer Berufsarmee analog zu den amerikanischen Marines oder der französischen Fremdenlegion, die Zerstörung der Institutionen des Sozialstaats, an den Schulen, an den Universitäten und in den Betrieben, wie auch die Bekämpfung des Rechtsextremismus mit den Mitteln des starken Staates (denn nur dieser darf in der BRD das Recht haben, abzuschieben) bedingen gesellschaftliche Erosionserscheinungen, die bis in die Individuen hineinreichen. Dem gegenüber erscheint das Eingangszitat von Gert Schäfer wie ein absurdes Relikt vergangener Zeiten. Der Mainstream der Mentalitäten fällt zurück hinter die Forderungen der Französischen Revolution. Wie Rainer Trampert erkannte: "Die Menschen werden zu Dingen und die Dinge werden zu Menschen."[1] Die gesamtgesellschaftliche Regression forciert die Verkehrung sämtlicher emanzipatorischer Forderungen in ihr Gegenteil. Die gesamtgesellschaftliche Regression forciert die Verkehrung sämtlicher emanzipatorischer Forderungen in ihr Gegenteil. Ein Sich-Aufhalten innerhalb der neuen rackets, wie schon Adorno die autoritären Zusammenschlüsse nannte, bedingt eine Verwässerung von politischen Ansätzen, die mit Erosion von Gesellschaft einhergeht. Begrifflichkeiten für das zu finden, was sich seit den 90er Jahren in der gesellschaftlichen Realität vollzogen hat, fällt schwer, da jede Analyse für sich in Anspruch nehmen muß, sich von den Auflösungsprozessen zu befreien. Da auch (Links-)Intellektuelle Teil der Gesellschaft sind, ist das aber nicht möglich. Meinungsmache funktioniert heute über primitivste Topoi, denen das Gegenüber fehlt, oder es wird schlicht nicht zur Kenntnis genommen. Gegenaufklärung erfolgt auf allen Kanälen, sickert bis durch die kleinsten Ritzen ins Individuum ein. Auch wenn in Seattle, Prag und Nizza neue Widerstandsformen gegen den neoliberalen Wahnsinn erkennbar wurden, wiederholt die Restlinke größtenteils unreflektiert ihre Tradition. Unverständliche Gewalt ist gesellschaftliche Wirklichkeit geworden, worin sich eine entpolitisierte, sinnlose und dabei menschenverachtende Brutalität ausdrückt, die ihren Erklärungsansätzen nicht mehr gerecht wird. Ein Paradigmenwechsel hat stattgefunden, in dem alles sofort aufgekauft und vermarktet werden kann, jede Komplexität verplättet, jede Auseinandersetzung zum Stereotyp reduziert wird. Ein phantastisches Beispiel dafür ist der sog. Aufstand der Anständigen. Allein die Rede vom bürgerlichen Anstand, die Selbstdefinition über bestimmte ethische Tugenden, steht im Gegensatz zu der antisozialen Politik, die die Bundesregierung betreibt. Zugleich ist die Aufgabe jeglichen bürgerlichen sozialen Gewissens erforderlich, um sich dem Leistungsrassismus dieser Gesellschaft anzupassen. Eine Umkehrung der Werte findet statt, die nicht zuletzt mit der Selbstliquidation letzter rudimentärer sozialdemokratischer Positionen zu tun hat. Absurd erscheint es, als Linker Grundpfeiler klassischer sozialdemokratischer Politik in Erinnerung rufen zu müssen. Jedoch: Die Resignation des sozialdemokratischen Wahlvolks, diese Mischung aus Fatalismus und einem Nicht-Glauben-Wollen an die Realität der Schröderschen Sozialdarwinisierung, steht in engem Zusammenhang mit der Verzerrung ehemals bürgerlich-demokratischer Vorstellungen. Im Vergleich mit den Lichterketten der "Gutmenschen" Anfang der 90er Jahre zeichnet sich der Aufstand der Anständigen durch eine vollkommene Inhaltslosigkeit derjenigen aus, die sich daran beteiligen. Dies ergibt sich durch den nicht aufhebbaren und gleichzeitig nicht erfaßten Widerspruch in der Erfahrung der Primitivierung und Zerstörung jeglichen sozialen und demokratischen Zusammenhangs in der Alltagsrealität und einer gleichzeitigen Frontstellung gegen Neonazis durch diejenigen, die diese Primitivierung zum Naturgesetz erklären. Die Veränderung des Koordinatensystems in Richtung eines von der rot-grünen Regierung getragenen Prozesses, der noch am ehesten durch den Begriff Konservative Revolution bezeichnet werden kann, läßt offensichtlich Rechtsradikale paradoxerweise als Projektionsschablone erscheinen, auf der die Entwertung der Demokratie erkennbar wird, was die Nazibanden selbstverständlich nicht sympathischer macht. Das, was sich in den Prozessen der Entsolidarisierung und der sich vollziehenden Vernichtung der demokratischen Wirklichkeit in vollem Gange befindet, hat schlimmeren Charakter hat als der offene Terror von Stiefelnazis. Das, was in den Prozessen der Entsolidarisierung und der sich vollziehenden Vernichtung der demokratischen Wirklichkeit in vollem Gange befindet, hat schlimmeren Charakter hat als der offene Terror von Stiefelnazis. Der Big Brother kommt von oben und von unten zugleich. Nur im Kontext des Klassenantagonismus läßt sich die Welle der Entsubjektivierung, der paralysierten und narkotisierten Entmenschlichung als gesamtgesellschaftlicher Prozeß begreifen, dergegenüber das Insistieren auf sozialer Verantwortung und solidarischer Vergesellschaftung als schlechter Witz, als Lächerlichkeit erscheint. Es gibt keine Freiräume mehr, in denen eine individuelle Entfaltung von sozialem und kreativ-spielerischem Leben möglich wäre. Mit diesen Freiräumen verschwindet die Erinnerung. Mit der Erinnerung verschwindet die Entwicklung von gesellschaftlichen Alternativen, werden auch die ehemals progressiven Kräfte zu Teilen der gesellschaftlichen Regression. Vor dem Hintergrund, daß Schily nicht Kanther ist und Schröder nicht Kohl, veränderte sich der mentale Raum in ein schwarzmagisches Jagdgebiet, daß durch Fehlen eines Kontrapunktes in vielerlei Hinsicht schlimmere Gifte bereitstellen kann, als es das Kohlregime vermochte. Der Linke läßt sich nur von einer linken Hand schlagen, ohne sich zu wehren. Während die ideologischen Pfeiler der momentanen Zerschlagung sozialen Bewußtseins als progressiv erscheinen, gilt das Festhalten an der Perspektive eines anderen, menschenwürdigen Lebens als konservativ. An dieser Perspektive festzuhalten wirkt innerhalb des aktuellen Schubs von Verdinglichungsprozessen als Signal aus einer anderen Welt von, wie Hermann Gremliza es 1990 bezeichnete, hypermarginalisierten Outlaws. Kritisches Denken wird nicht mehr absorbiert, sondern erscheint im Strudel der gesellschaftlichen Auflösungsprozesse als fremdes Element, das von außen kommt und wird als Feind betrachtet. Die entsubjektivierten Individuen, die zugleich Täter und Opfer sind, bejahen fit for fun den Prozeß ihrer eigenen Liquidation. Nur noch Spuren erinnern daran, was sie einmal gewesen sind. In Anlehnung an Adornos Autoritären Charakter[2] und Karl Heinz Roths Entdeckung von Neigungen im Proletariat, unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen sich selbst vernichten zu wollen,[3] können Triebkräfte ausfindig gemacht werden, die die Selbstaufgabe der Generation Golf bedingen. Die eigentliche Frage ist aber, wie mit der von ihr nicht mehr erfaßbaren Entleerung und Gehirntötung umgegangen werden kann, ohne in Resignation zu verfallen, wo sich überhaupt noch Ansatzpunkte finden lassen, um der Regression entgegenzuwirken. Wie kann die Zukunft aussehen, wenn jegliche emanzipatorische Politik vereinnahmt, vermarktet und in ihr Gegenteil verkehrt wird? Es gilt der gesellschaftlichen Entwicklung zum Trotz an einem emphatischen Vernunftbegriff festzuhalten. Der wichtigste Ansatzpunkt ist die Wiedereraneignung der Vergangenheit, nicht in einem esoterischen Sinne als affirmative Verstärkung der Erosion, sondern als historischer und mentalitätsgeschichtlicher Vergleich der historischen Borderlineperioden, die mit ähnlichen ekstatischen Selbstzerstörungsfeiern der Massen und dem Widerstand dagegen verbunden waren. Mit Borderlinisierung wende ich einen Begriff aus der Psychologie auf gesellschaftliche Mentalitätsstrukturen an. Gemeint ist die Auflösung gesellschaftlichen Zusammenhalts, die sichtbar wird durch Spiritualisierung der Öffentlichkeit, Kollektivierung von irrationalen Wahnvorstellungen, chaotische Vernichtung sozialer Beziehungen, die durch religiöse Kompensation kanalisiert werden. Es gilt, kollektive Gegengifte bereitzustellen, die dem Einzelnen eine Möglichkeit geben, dem Wahn nicht zu verfallen, sich zu politisieren. Analyse und Reflexion sind Waffen um der Borderlinisierung entgegenzutreten. Die sozialen Verhältnisse, die innerhalb gesellschaftlicher Auflösungsprozesse vereinfacht und schablonenhaft reproduziert werden, müssen dechiffriert werden. Eine Periode, die sich als mentalitätsstrukturelle Analogie aufdrängt, ist die frühe Neuzeit in Mitteleuropa,[4] die durch den Aufbau einer allgegenwärtigen Hölle, den Danse Macabre, religiöses Sektierertum, soziale Verelendungen, die denen im heutigen Bangladesch ähneln, Apokalyptik, die kollektive Ritualisierung von psychischen Krankheitsprozessen durch Veitstänze und gleichzeitig durch die Durchsetzung des städtischen Finanzbürgertums als kulturell hegemonierende Klasse gekennzeichnet ist. In der Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts entstanden aber auch die ersten Eckpfeiler der europäischen Aufklärung: Es kristallisierte sich eine Vorstellung vom Individuum und ein damit verbundenes verbindliches Rechtssystem heraus, das den Täter als Subjekt wahrnahm. Das Resultat dieses Prozesses mündete in der Formulierung der bürgerlichen Freiheitsrechte. Selbst Machiavelli, seiner Zeit weit voraus, ist als Aufklärer anzusehen, da er das Rationalitätsprinzip gegenüber der Schicksalsergebenheit und dem göttlichen Gesetz festschrieb. Im Unterschied zu Thomas Hobbes unterwarf Machiavelli menschliche Machtpolitik nicht einer abstrakten Natur, sondern dem individuellen taktischen und strategischen Kalkül. Der Versuch der Intellektuellen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, das von Krisen, Seuchenwellen, Kriegen und religiösem Wahn heimgesucht war, verbindliche Theorien zu schaffen, um das Chaos zu ordnen, mag im Hinblick auf die Französische Revolution von 1789 als Geplänkel von abergläubischen, dem Mittelalter verhafteten Gelehrten erscheinen. Es ist aber weit mehr, da in der Zerstörung und Grausamkeit des 16. und 17. Jahrhunderts, verursacht durch Kanonen und Pest, d.h. durch die sozialstrukturellen Katastrophen in Europa, von Gelehrten die Weichen für die bürgerlichen Freiheitsforderungen der amerikanischen und französischen Revolution gestellt wurden. Dessen gilt es, sich zu erinnern. Da die Zerstörung des sozialen Raumes nicht begriffen wird, vollzieht sich dieser Prozeß in der Masse irrational, über Symbolik, Bilder, durch Vereinfachungen, die zu einer plakativen Konkretisierung des Abstrakten führen. In gesellschaftlichen Krisenperioden wiederholen sich bestimmte mentalitätsgeschichtliche Aspekte. Da die Zerstörung des sozialen Raumes nicht begriffen wird, vollzieht sich dieser Prozeß in der Masse irrational, über Symbolik, Bilder, durch Vereinfachungen, die zu einer plakativen Konkretisierung des Abstrakten führen. Anzeichen dieses Mechanismus lassen sich vor allem auch in der Spiritualisierung der bundesrepublikanischen Politik erkennen. Damit ist an dieser Stelle nicht der Esoterikmarkt gemeint, den ich andernorts erörtert habe, sondern eine spirituelle Wertsetzung von Mentalitäten durch die herrschende Politik. In dieser spiegeln sich, wie bei gesetzten Scheibchen in einem quasi zeitlosen Raum die Fragmente historischer Prozesse wider. Die Borderlinisierung der Verhältnisse wird von den Herrschenden nur noch als Aufhänger genutzt, die Aufhebung der Geschichte zu zementieren. Sie setzen ein neues, im Begriff Zivilgesellschaft gekennzeichnetes, antidemokratisches Herrschaftskonzept durch. Die Erosion der sozialen Verhältnisse läßt sich nicht durch eine Verschwörungstheorie erklären. Allerdings läßt sich mit Fug und Recht rekonstruieren, daß die ökonomischen Ziele, die von den "Chicago Boys" definiert wurden, von Ronald Reagan bis Bill Clinton, von Margaret Thatcher bis Tony Blair, von Helmut Kohl bis Gerhard Schröder und anderen Politikern umgesetzt und durch den Esoterik- und Psychoboom ideologisch unterfüttert wurden und werden. Unterstützt wurde diese konservative Revolution nicht zuletzt dadurch, daß mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung linker Theorie abrupt das Stigma eines gescheiterten Projektes aufgedrückt wurde. Auch die Sozialdemokratie hat mit der Auflösung der ideologischen Konfrontation ihre zentrale strategische Position, die Errichtung eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, verloren. Wenn Gerhard Schröder als event-manager das Projekt "Zerstörung der Sozialdemokratie" leitet, wenn eine Million Menschen auf der Love Parade ihr eigenes Verschwinden feiern, wenn im Zuge der sog. Globalisierung das Primat der Unternehmensinteressen über alle gesellschaftlichen Bereiche zum Naturgesetz verklärt wird, dann ist dies sowohl Ausdruck als auch Triebkraft der gesellschaftlichen Borderlinisierung. Wenn zur Jahrtausendwende, d.h. aufgrund einer Zahl im christlichen Kalender ein Taumel ausbricht, wenn eine Sonnenfinsternis zu einer Unzahl von Welterklärungsansätzen führt, wenn die Externsteine plötzlich zur Kultstätte erklärt werden, wenn Antje Vollmer auf den Spuren von Heidegger und Nietzsche wandelt, wenn Joseph Martin Fischer die politische außerparlamentarische Opposition von 1968 auf das gewalttätige Gruppenverhalten junger spätpubertierender Männer reduziert, dann kann dies nicht allein aus einer postmodernen Beliebigkeit heraus erklärt werden. Wenn Gerhard Schröder als event-manager das Projekt "Zerstörung der Sozialdemokratie" leitet, wenn eine Million Menschen auf der Love Parade ihr eigenes Verschwinden feiern, wenn im Zuge der sog. Globalisierung das Primat der Unternehmensinteressen über alle gesellschaftlichen Bereiche zum Naturgesetz verklärt wird, dann ist dies sowohl Ausdruck als auch Triebkraft der gesellschaftlichen Borderlinisierung. Um dem extremen Leistungsdruck dieser Verhältnisse entsprechen zu können, ist ein permanentes Sich-Aufhalten in einem psychischen Ausnahmezustand erforderlich, der jegliches menschliches Bedürfnis nach Wohlbefinden, Ruhe und sozialem Leben ad absurdum führt. Während den atomisierten Individuen permanent suggeriert wird, das Leben sei schön und Deutschland ein reiches Land, in dem es allen, die es nur wollen, gut geht, ist ihnen die Ahnung genommen worden, daß diese Suggestionen nicht stimmen können. Der Anpassungsdruck, unter dem sie leben, könnte ihnen einen Hinweis geben, wenn nicht die Basis dafür bereits zerstört wäre. Während nichts mehr ist, der Zug mit Vollgas nach vorne rast und, wer nicht mitmacht, bereits verloren hat, wird die Erinnerungsfähigkeit gemordet. Mit der Erinnerungsfähigkeit, die Emanzipation überhaupt erst ermöglicht, verschwindet die Fähigkeit zur Reflexion: "Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. Damit ist dem historischen Materialisten genug gesagt. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt" schrieb Walter Benjamin in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte und forderte, "die Geschichte gegen den Strich zu bürsten." Demokratie basiert auf dem Wissen um die individuellen Freiheitsrechte, auf der Fähigkeit zur Selbstdefinition, auf dem Bewußtsein über die historische Genese von gesellschaftlichen Kämpfen, mit einem Wort: auf der freien Verantwortung der Individuen. In den ideologischen Topoi, die die politische Klasse untereinander in wechselseitiger Beliebigkeit hin- und herschiebt, ist für Geschichte als Erörterung sozialer Konflikte kein Raum. Es gedeiht eine Biologisierung und Medizinisierung der Verhältnisse. Das riecht nach Organizismus, nach einer riesigen Kathedrale, in der die eingefrorenen Befehlsempfänger starr ihre Funktion erfüllen. Alles wird eins und alles wird gleich. So wie bei den Borg in der Serie Star Trek. Während analog zum historischen Faschismus team-coaches das Oben und Unten der Konzernstrukturen mit Abschnitten im Gehirn erklären und die grauen Herren bei Momo als vage Vorausahnung der heutigen Realität erscheinen, möchte man sich eine Kugel in den Kopf jagen, bevor man zum zuckenden amorphen Insekt im tiefgekühlten Bienenstock wird. Demokratie basiert auf dem Wissen um die individuellen Freiheitsrechte, auf der Fähigkeit zur Selbstdefinition, auf dem Bewußtsein über die historische Genese von gesellschaftlichen Kämpfen, mit einem Wort: auf der freien Verantwortung der Individuen. Sie setzt eine materielle Sicherheit dieser Individuen voraus, die Möglichkeit zur freien Mitbestimmung über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Wirklichkeit der psychischen Deformationen, die Entleerung, das nicht mehr erfaßbare Ferngesteuertsein der Massen, die Grabeskälte, die sich über das Leben in den Städten gelegt hat, läßt den lebendigen demokratischen Prozeß nicht mehr zu. Das, was an sozialen Verwüstungen heute als Folge der Deregulierungspolitk erkennbar ist, fällt auf die Zeit vor 1789 zurück. Wolfgang Kreutzberger schrieb 1993: "Die Theorie krisenbedingter Regression geht zwar auch von psychologischen Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Realität aus, interpretiert die massenhafte Zuwendung zu projektiven Flucht- und Angriffsmechanismen aber nicht als Ausfluß statischer Charaktermerkmale, sondern als Ergebnis kollektiv traumatisch erfahrener krisenhafter Verhältnisse, welche die davon Betroffenen hinter erreichte Niveaus von Toleranz zurückfallen lassen."[5] Die in diesem Zitat beschriebenen Regressionen können ohne Übertreibung als bestimmendes Moment des heutigen Zeitgeistes angesehen werden. Was noch Anfang der 90er Jahre zu Recht als Antrieb für rechtsradikale Formierungen gedeutet wurde, erscheint nunmehr in allen Medien als die Basis gesellschaftlichen movens'. Dabei steht der Anpassungsdruck im Leistungsrassismus in Konfrontation zu dem, was Kreutzberger noch als Toleranz bezeichnete. Es ist unklar, worauf die momentane Realitätsverrückung hinein in ein soziales Nichts führen wird; klar ist, daß es nichts Gutes sein kann. Der Mechanismus von Flucht und Angriff, die Borderlinisierung, ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Er richtet sich nicht mehr bloß gegen marginalisierte Minderheiten, exekutiert von ebenfalls marginalisierten Rechtsextremen, sondern wurde mittlerweile zum Psychokrieg aller gegen alle. Was die deregulierten Arbeitsprozesse kennzeichnet, ist von Adorno als Pseudoaktivität beschrieben worden: Anpassung, Aktion und Reaktion, fressen und gefressen werden. Da Gesellschaft als solche hier weder benannt werden kann, noch benannt werden darf, wird die hektische und panische Definition von Freund und Feind zur einzigen Möglichkeit der Selbstverortung. Dies setzt als notwendige Bedingung eine Traumatisierung voraus, welche aber nicht, wie Kreutzberger noch vermutete, eine besondere Auszeichnung Rechtsradikaler ist, sondern Basis neoliberaler Vergesellschaftung. Es gibt keine gemeinsame soziale Realität mehr, statt dessen die "Tafeln": Rückkehr mittelalterlicher Armenfürsorge. Passend dazu sind Bestrebungen von Politikern der CDU, nach 10 Jahren die Sozialhilfe zu streichen. So verwundert es nicht, daß Antje Vollmer Nietzsche für sich entdeckt und dessen "Raubtier im Menschen" wieder in aller Munde ist. Die Innenstädte gleichen einem Horrorfilm. Was in rasantem Ausmaß ansteigt, ist die Menge an "drop outs", die kaputt sind, als zerstörte Wracks auf der Suche nach verlorenen Teilen ihrer selbst getrieben durch die Städte irren - die Verlorenen. Die Situation erinnert an einen Krieg, die Umherirrenden an Opfer und Mittäter dieses Krieges. Die Durchgeknallten, die es früher auch schon gab, bestimmen das Straßenbild mehr und mehr. Gab es in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts noch die Integrationsangebote von wohlmeinender sozialarbeiterischer Seite, gilt inzwischen die brutale Logik des Marktes, die besagt, daß der, der aus dem Geschäft draußen ist, verrecken darf. Die Apokalyptik wird für den gestrauchelten Einzelnen faßbar. Es gibt keine gemeinsame soziale Realität mehr, statt dessen die "Tafeln": Rückkehr mittelalterlicher Armenfürsorge. Passend dazu sind Bestrebungen von Politikern der CDU, nach 10 Jahren die Sozialhilfe zu streichen. Es gibt kaum noch gesellschaftliche Kräfte, die imstande wären, sich gegen diese Entwicklung zur Wehr zu setzen. Die wenigen, die es tun, sind maßlos überfordert und gelten als auf dem Sprung in den Wahnsinn: Die Benennung dessen, was ist, wird, wenn sie überhaupt zur Kenntnis genommen wird, als paranoid bezeichnet. Eine weiteren historischen Analogie, die heute gerade von vielen Laien geäußert wird: der Vergleich mit der Weimarer Republik, drängt sich auf. Die psychischen Verkrüppelungen der Opfer der gegenwärtigen Deregulierungsprozesse erinnern an die Aggressionspotentiale, die sich zu Beginn der 20er Jahre bei den jungen Männern entwickelten, die nichts anderes als das Töten im Krieg gelernt hatten. Erschreckend ist der diffuse Charakter der Gewalt, ihre Ununterscheidbarkeit. Gewalt dient nicht mehr der Unterscheidung verschiedener Subkulturen voneinander (und als Revierverhalten, Gangverhalten, Kampf um sozialen Status und soziale Verortung bezeichnet werden kann), die traditionellen Muster von Jugendgewalt fallen weg. Die Täter werden immer jünger, die Kämpfe immer brutaler, der Sinngehalt läßt immer mehr nach. Was zählt, ist allein die Skrupellosigkeit. Trotz alledem: Statt sich eine Kugel in den Kopf zu jagen, sollte man lieber Johannes Agnoli lesen. Der formulierte in seiner Vorlesung zur Subversiven Theorie: "Es ist der Mensch, der sich als Subjekt versteht, sich gegen das bloße Objektsein wehrt - in der Politik, in der Religion, in der Philosophie, als einzelner, als Gruppe, als Masse. Man kann sagen, daß die Subversion als solche das schlechthin menschliche Phänomen ist. Der Mensch wendet sich dagegen, Spielball der göttlichen Allmacht zu sein."[6] Die Erinnerung einer emanzipatorischen Tradition, ein politisiertes Bewußtsein ist ein wirksames kollektives Gegengift gegen die Entfremdung und Vereinzelung der Individuen. Beispielhaft hierfür ist Frankreich: Auch dort ist die Rechte stark. Auch dort formierten sich rassistische Kräfte. Aber dort besetzten die Arbeitslosen die Arbeitsämter, um ihre Rechte einzufordern. Hierzulande sind Fälle bekannt, in denen Arbeitslose morgens mit Aktenkoffer das Haus verlassen und abends wiederkommen, da sie nicht mit der Schmach leben können, ohne Lohnarbeit zu sein. Dort belagerten 70.000 Arbeiter die EU-Konferenz in Nizza. In Deutschland gab es zwei gescheiterte Revolutionsversuche: 1848 begab sich das liberale Bürgertum freiwillig unter die Knute des reaktionären Preußenstaats, 1918 zerschlug die deutsche Sozialdemkratie die proletarische Revolution. In diesem Land leben wir. Wenn Johannes Rau preußische Tugenden wie "Selbstaufopferung" und "Dienst am Ganzen" einfordert, "Unterordnung", "freiwillige Selbstaufgabe" wieder einmal en vogue sind, so gilt es, dem eine andere Tradition entgegenzustellen: die der Enrages der französischen Revolution. Dort setzte Leclerc das Recht jedes Menschen zu genießen in den Mittelpunkt seiner Forderungen. Bedenken wir dies in der gegenwärtigen Lage, wohl wissend, daß die preußische Variante des Neoliberalismus nicht ohne Alternativen ist. Die Parole des Widerstands gegen IWF und Weltbank in Prag: "Her mit dem schönen Leben" ist ein Wegweiser in die richtige Richtung. Anmerkungen[1] Rainer Trampert, Verpaßt Deutschland den Anschluß? CD zur Lesung. 2000. [2] Theodor W. Adorno, Studien zum Autoritären Charakter. [3] Karl Heinz Roth, Und es begann die Zeit der Autonomie. Verlag Libertäre Assoziation. o.O.o.J. [4] Diese Analogie soll nicht mißverstanden werden als eine ahistorische Gleichsetzung im Sinne des bürgerlich beliebigen "Das war schon immer so". Es geht vielmehr darum, daran zu erinnern, daß die gesellschaftlichen Erosionsprozesse sozialgeschichtlich zu erklären sind. Das ist eine Voraussetzung dafür, ein Instrumentarium zu schaffen, mit dem sich heute emanzipatorische Forderungen formulieren lassen. [5] Wolfgang Kreutzberger, Aus der Mitte der Gesellschaft. Rechtradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland. [6] Johannes Agnoli, Subversive Theorie. Die Sache selbst und ihre Geschichte. Freiburg 1996. S. 29. Kontext:
sopos 1/2001 | ||||||||||||||
|
This page is part of the Sozialistische Positionen
website <http://www.sopos.org>
Contents copyright © 2000-2007; all rights reserved. Maintained by webmaster@sopos.org |