Den Aufsatz kommentieren Kollisionskurs in GriechenlandDie Ideologie der Modernisierung in Hellas nähert sich dem EndeVon Gregor Kritidis Für die griechische Linke stellt der geplante Beitritt Griechenlands zur Europäischen Währungsunion eine historische Herausforderung dar. Die mit der Erfüllung der Maastrichter Konvergenzkriterien verbundene Durchsetzung neuer Formen gesellschaftlicher Herrschaft hat in den 90er Jahren mehrfach zu schweren sozialen und politischen Konflikten geführt. Bisher konnte sich die Ideologie der "Modernisierung" noch unangefochten behaupten. Durch die politischen Auseinandersetzungen der vergangenen Zeit hat das Selbstbild des politischen Establishments in Griechenland jedoch erhebliche Kratzer bekommen. Die Ereignisse im Spätsommer 2000 haben die sozialen Gegensätze der griechischen Gesellschaft wieder an die Oberfläche treten lassen. Nach dem überaschend deutlichen Wahlsieg im April 2000 war die Position der regierenden PASOK (Panhellenische Sozialistische Bewegung) unter Premierminister Kostas Simitis unangefochten. Mit dem Fortgang der großen öffentlichen Bauvorhaben - neben den Vorbereitungen auf die Olympiade 2004, auch die Brückenverbindung Rio-Antirio, die West-Ost-Nationalstraße in Nordgriechenland, der neue Athener Flughafen in Spata und die Teileröffnung der neuen Athener Metro - und nicht zuletzt mit der Aussicht auf einen raschen Beitritt zur Europäischen Währungsunion schien die PASOK ihrem Image als politische Kraft der "Modernisierung" gerecht zu werden. Die soziale Zerrissenheit der griechischen Gesellschaft war aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt. Zwei Ereignisse im September brachten schließlich die Regierung auf ihrem Kurs ins schlingern: Zum Einen der Schiffbruch der Fähre "Express Samina", die zu der Reederei Minoan Flying Dolphins gehört, welche das Fährgeschäft in der Ägäis dominierent. Zum Anderen das vom Kultusminister Pangalos in Umlauf gesetzte Gerücht, ein führendes Parteimitglied habe sich von einem bekannten Industriellen auf dessen Yacht einladen lassen. Das Fährunglück legte die skandalösen Geschäftspraktiken der griechischen Reedereien sowie deren Verfilzung mit dem Ministerium für Handelsschiffahrt offen. Trotz immer wieder vereinzelt geäußerter Kritik an den Sicherheitsstandards der vielfach überalterten Fähren, mit denen die Routen in der Ägäis bedient werden, wurden diese "Modernisierungsdefizite" jahrelang von der Regierung gedeckt.[1] Und auch als durch den Untergang der "Express Samina" Menschenleben zu beklagen waren, bemühte sich die um das Tourismusgeschäft besorgte Regierung Simitis vorrangig um Schadensbegrenzung. Im Unterschied zum Erdbeben im September 1999, als es den staatlichen Stellen zumindest gelang, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, sah sich die PASOK diesmal einer breiten öffentlichen Kritik ausgesetzt. Die Äußerungen des ehemaligen Außenministers Pangalos hingegen lösten einen beispiellosen innerparteilichen Machtkampf aus, dessen Hintergrund die Auseinandersetzung führender griechischer Wirtschaftsgruppen um die Aufteilung des Kommunikations- und Energiesektors bildet. Diese "Yacht-Messerstechereien" (so die konservative Tageszeitung Kathimerini) fügten der Ideologie einer über den Partikularinteressen schwebenden, nur der ökonomischen Vernunft verpflichteten Regierung der "Modernisierer" erheblichen Schaden zu und dürften der PASOK noch erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Ein Rückblick auf den Aufstieg der "Modernisierer"-Fraktion innerhalb der Sozialisten verdeutlicht, welche Veränderungen der politischen Kräfteverhältnisse mit diesen Entwicklungen verbunden sind. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten die weltmarktorientierten Konzerne ihre politische Strategie schrittweise geändert. Der Versuch, die radikale Demontage des griechischen Sozialstaats durch die Unterstützung der konservativen ND (Nea Dimokratia) durchzusetzen, war zu Beginn der 90er Jahre am Widerstand der Gewerkschaften mit dem Sturz der Regierung Mitsotakis gescheitert. Unter diesen Umständen gewann die Position, nicht mehr eine bestimmte Partei, sondern die kapitalfreundlichen Fraktionen in allen Parteien durch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu fördern, erheblich an Bedeutung. Die von allen Parteien einschließlich der parlamentarischen Linken getragene Einführung des privaten Fernsehens und Rundfunks, mit der das bisher von der PASOK dominierte staatliche Rundfunkmonopol aufgebrochen wurde, bildete dazu einen wichtigen Hebel. Die führenden griechischen Konzerne stiegen ins Mediengeschäft ein und begannen, in immer stärkerem Maße, die "Modernisierer" in der PASOK zu unterstützen, die sich nach dem Tod von Andreas Papandreou mit der Wahl von Kostas Simitis zum Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten im Kampf um die Parteiführung durchsetzen konnten. Ein wichtiger Faktor in dieser innerparteilichen Auseinandersetzung spielte auch der Gewerkschaftsflügel der PASOK (PASKE), der mit seinem Votum für Simitis erheblich zur Niederlage der "Traditionalisten" um Akis Tsochatsopoulos beitrug. In der folgenden Zeit konnten die "Modernisierer" um Simitis ihre Machtposition stetig ausbauen. Einerseits gelang es ihnen, einzelne Konzerne gezielt auf ihre Seite zu ziehen - etwa durch gesetzliche Neuregelungen, die Unternehmen mit hohen Außenständen bei der öffentlichen Hand, wie den Fernsehsender SKY gezielt begünstigten. In anderen Fällen wurden staatliche Schlüsselpositionen mit Konzernvertretern besetzt. Dazu sei angemerkt, daß die Beeinflussung des Staatsapparates, besonders in der gegenwärtigen Phase, für fast alle größeren Unternehmen von unmittelbarer Bedeutung ist, da der staatliche Sektor in Griechenland traditionell wesentlich größer ist als in den Mittel- und Nordeuropäischen Ländern, und die laufenden Privatisierungen den Erwerb äußerst lukrativer Filetstücke staatlicher Unternehmen versprechen. Zudem hat der Staat mit den öffentlichen Großprojekten wirtschaftlich bedeutsame Mittel zu verteilen. Andererseits gelang es Simitis, breite Teile der Mittelschichten sowie die Schicht der überdurchschnittlich verdienenden Arbeitnehmer zu gewinnen, die der immer noch stark ausgeprägten klientelistischen Vetternwirtschaft traditionell kritisch gegenüberstehen und sich von der Erneuerung der staatlichen Infrastruktur den Anschluß an mitteleuropäische Standards erhoffen. Vor diesem Hintergrund war es nach dem überraschend deutlichen Wahlsieg der PASOK bei den Parlamentswahlen im April 2000 nur noch eine Frage der Zeit, wann der Kampf um die "Beute" entflammt. Das Vorspiel dazu bildete eine breite Debatte über die Verflechtung von Politik und führenden Großunternehmen, bei der die oppositionelle ND versuchte, sich mit einem Saubermann-Image der Unkorrumpierbaren wieder stärker ins politische Geschäft zu bringen. Exemplarisch dafür war die Stellungnahme von Parteiführer Karamanlis in der diesbezüglichen Parlamentsdebatte: "Die Deregulierung wichtiger Sektoren der Wirtschaft wie der Telekommunikation und der Energie schafft die Voraussetzungen für eine erneute Stärkung der organisierten Interessen und ihrer politischen Stärke. (...) Diese Interessen erwerben schon jetzt die Kontrolle der Massenmedien mit dem Ziel, die öffentliche Meinung in Beschlag zu nehmen, die Staatsmacht einzuschüchtern und die Politik vollständig zu unterwerfen."[2] Ein Teil der ND habe "dem Kapitalismus den Krieg erklärt" bemerkte dazu säuerlich die zur Lambrakis-Gruppe gehörende und PASOK-freundliche Tageszeitung To Vima.[3] Der konservative "Sozialismus" der ND richtet sich allerdings ausschließlich gegen die Politik der PASOK, keinesfalls jedoch gegen den Kapitalismus schlechthin. Die ND hat sich in den letzten zehn Jahren zu einer Partei entwickelt, welche die Interessen der Kapital- und Konkurrenzschwachen Unternehmensgruppen vertritt. - Und die haben an Regulierung und Protektionismus durchaus ein Interesse. Die Debatte um die "Verflechtung" krankte freilich unvermeidlicherweise daran, daß die spezifisch klientelistische Form der Korruption nicht ein Fehler, sondern die Voraussetzung des politischen Systems in Griechenland ist. Es war daher auch kaum ein Statement zu vernehmen, daß nicht in irgendeiner Weise mittelbar oder unmittelbar interessenpolitisch motiviert war. So reproduzierte die Debatte faktisch die Abhängigkeit des politischen Establishments insgesamt vom "außerinstitutionellen Faktor". In diese Auseinandersetzung schlug das Gerücht von Kultusminister Pangalos wie eine Bombe ein. "Die Auseinandersetzung der 'Barone' des Geldes und der Medien tendiert dazu, unkontrollierbare Ausmaße anzunehmen", vermeldete die konservative Kathimerini im September 2000: "Der Krieg, der zwischen dem Lager des Herrn Lambrakis und dem des Herrn Kokkalis ausgebrochen ist, hat die grundlegende Allianz der Unterstützung des Ministerpräsidenten zerbrochen, ein Umstand, der ihn vor ein schmerzhaftes Dilemma stellt."[4] Diese für die Regierung Simitis unerfreulichen Entwicklungen trugen erheblich dazu bei, die Ideologie der "Modernisierung" wieder mit der sozialen Realität Griechenlands zu konfrontieren. So wurde z.B. in verschiedenen Zeitungen die Wirkungen der Börsentalfahrt des vergangenen Jahres kritisch reflektiert, die die quantitativ größte monetäre Umverteilung seit dem Ende der Diktatur zur Folge gehabt hatte. Die von der Regierung Simitis betriebene Demontage sozialer Errungenschaften im Zuge des geplanten Beitritts zur europäischen Wahrungsunion hatte freilich schon zuvor zu erheblichen sozialen Konflikten geführt. Der Widerstand gegen die Politik der PASOK ist seit Beginn der 90er Jahre massiv angewachsen. Die konservative Tageszeitung Kathimerini kommentierte die zunehmende soziale Polarisierung anläßlich der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten der Ersatzlehrer im Sommer 1998 mit den Worten, es sei unmöglich, "daß der Staat zu einem Punkt komme, wo er seine Politik nur noch mit der 'Hilfe' polizeilicher Kräfte durchsetzen könne", weil dadurch der Eindruck entstehe, "der Staat befinde sich im ständigen Gegensatz zum gesellschaftlichen Ganzen."[5] Tatsächlich ist es umgekehrt: der griechische Staat verfolgt ein der breiten Mehrheit der Menschen entgegengesetztes Interesse - allerdings erscheint das nicht allen immer so. Bisher war jedes Lob aus Brüssel für Regierungschef Simitis von Protesten im eigenen Land begleitet. Die notwendige Konsequenz aus der vorgeblich alternativlosen Politik der "Einbahnstraße" in Richtung Währungsunion ist der fast schon permanente Griff zu autoritären Mitteln, die freilich weitgehend akzeptiert werden. Die PASOK kann sich dabei sogar die Dreistigkeit erlauben, die eigene Gewalttätigkeit als positiv darzustellen. So wurde die Einstellung von Security-Personal für die Schulen als Beitrag zum Kampf gegen die Arbeitslosigkeit verkauft. Nachdem die massiven Schülerproteste 1998/99 fast zum Sturz der Regierung Simitis geführt hatten, stellte diese Maßnahme unverhohlen die Stärke und Aggressivität der "Modernisierer" zur Schau. - Ein Stärke, die allerdings im wesentlichen in der politischen Schwäche ihrer Gegner besteht.[6] Die Abhängigkeit des politischen Establishments von den kapitalistischen Interessengruppen ist ein relativ neues Phänomen. Noch zu Beginn der 90er Jahren spielte die parteipolitische Bindung großer Teile der Bevölkerung eine bedeutende Rolle. Der jeweils regierenden Partei ermöglichte diese politische Verankerung eine relative Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Partikularinteressen. Die mit dem Niedergang der realsozialistischen Staaten verbundene "Entideologisierung" des politischen Lebens und die Frontalangriffe auf den Sozialstaat haben die staatstragenden Parteien in den letzten zehn Jahren in eine stärkere Abhängigkeit einzelner Großunternehmen und Interessengruppen gebracht. Als Konsequenz findet die ökonomische Konkurrenz verschiedener Wirtschaftsgruppen Ausdruck in parteipolitischen Kämpfen findet. Der damit verbundene "Verlust an Glaubwürdigkeit" der politischen Parteien ist eine notwendige Folge dieser Krise des spätbürgerlichen Politikbetriebes. Es ist kein Zufall, daß in dieser Phase die Konfrontation mit den Gewerkschaften an Schärfe gewann. Mitte September beschloß der Dachverband der Gewerkschaften, die Allgemeine Arbeiterföderation Griechenlands (GSEE), erstmalig seit dem Sturz der Junta 1974 einstimmig - d.h. einschließlich der Vertreter der PASKE - und gegen das Votum der Verbandsspitze, aus dem griechischen "Bündnis für Arbeit", dem "sozialen Dialog" vorerst auszusteigen und für Oktober einen generellen Proteststreik auszurufen. Den Anlaß dafür bildete die von der PASOK angestrebte Privatisierung der griechischen Telefongesellschaft OTE sowie eine Reihe arbeits- und versicherungsrechtlicher Verschlechterungen. So war unter anderem geplant, Massenentlassungen erheblich zu erleichtern, eine flexible 38-Stunden-Woche mit jährlicher Berechnungsbasis einzuführen, die die Möglichkeit eines elfstündigen Arbeitstages einschließt, die Ausweitung der Teilzeitarbeit, die Senkung der Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen und die Kürzung der staatlichen Zahlungen an das Gesundheitssystem zu ermöglichen. Auf der internationalen Messe in Thessaloniki ließ Ministerpräsident Simitis keinen Zweifel daran, daß die Regierung bereit sei, dieses Programm mit allen Mitteln durchzusetzen: "Wir werden voranschreiten, welche Brüche und Konfrontationen auch immer notwendig sein werden."[7] Diese "Kriegserklärung" (so die linke Wochenzeitung Prin) hatte allerdings schon im Vorfeld zu Auseinandersetzungen innerhalb der PASOK und zu einem Schulterschluß aller Strömungen der PASKE gegen die eigene Regierung geführt. Unter diesen Umständen wuchs die Bereitschaft innerhalb der GSEE, der Durchführung der Regierungspläne mit Proteststreiks zu begegnen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß der der ND nahestehende Gewerkschaftsverband DAKE bei der OTE in der Privatisierungsfrage der eigenen Partei wegen ihrer Unterstützung des Regierungsentwurfs schwere Vorwürfe machte. Die darin zum Ausdruck kommende Schwächung der parteipolitischen Bindungen stellt eine neue, wenn auch keinesfalls stabile Tendenz innerhalb der Gewerkschaftsbewegung dar. Mögliche Bruchpunkte deuten sich darin jedoch an. Der Generalstreik am 10. Oktober - nach Angaben der GSEE der größte seit 15 Jahren - war von der Beteiligung her gesehen ein voller Erfolg. Selbst im gewerkschaftlich vergleichsweise schlecht organisierten privaten Sektor schwankte die Beteiligung um 40%, während die Teilnahme im staatlichen Sektor und im öffentlichen Dienst ca. 60% erreichte. Von wirklichen Kampfmaßnahmen gegen den Kollisionskurs Simitis' sind die Gewerkschaften dennoch weit entfernt. Zwar gibt es Brüche bis weit in die PASOK und selbst in das Lager der "Modernisierer" hinein, und die einzelnen Richtungsgewerkschaften rücken näher zusammen. Für einen wirksamen Widerstand gegen das Regierungsprogramm fehlt jedoch der politische Wille und die dazu notwendige ideelle Basis. Die Oktoberstreiks hatten daher eher den Charakter eines Placebo, mit dem der soziale Unmut kanalisiert werden sollte. Exemplarisch deutlich wurde dieser Umstand in der Person des Vorsitzenden des Arbeiterzentrums von Thessaloniki, Awramopoulos, der einerseits den Achtstundentag in einem konkreten Konfliktfall von Gewerkschaftern mit einer Baufirma als "persönliche Angelegenheit"[8] der betroffenen Arbeiter charakterisierte und andererseits lautstark den Generalstreik propagierte. Es ist daher davon auszugehen, daß die Gewerkschaften ihre politische Linie im Grundsatz weiter verfolgen werden. Der "soziale Dialog" mit der Regierung ist nur ausgesetzt, was sich schon daran ersehen läßt, daß die Treffen mit dem Arbeitgeberverband SEV zu keinem Zeitpunkt abgebrochen wurden. Der GSEE fehlt der Wille und das politische Konzept sich unter den historisch veränderten Bedingungen der Regierungspolitik entgegenzustellen, wie an der Praxis ihres linken Flügels deutlich, der von der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) dominiert wird. Die KKE hält auch nach dem Niedergang des Ostblocks den Anspruch aufrecht, im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Gruppen gegen die "Oligarchie" einen griechischen Arbeiterstaat erkämpfen zu wollen. Ein derartiger Traditionalismus ist freilich unter den Bedingungen der kapitalistischen "Globalisierung" völlig zahnlos. Faktisch war die KKE in den letzten zehn Jahren zu keinem Zeitpunkt in der Lage, eine politische Offensive zu starten. Statt dessen war man hauptsächlich damit beschäftigt, den status quo zu erhalten - in Zeiten frontaler Angriffe auf die sozialstaatlichen Errungenschaften eine unmögliche Aufgabe. Die im Kern nationale Ausrichtung der KKE hat daher in den letzten Jahren zu einer stärkeren Annäherung an nationalistische Kreise und sogar an die sozial reaktionäre orthodoxe Kirche geführt. Der bisherige Höhepunkt dieser Annäherung bestand darin, die PASOK nicht bei dem Vorhaben zu unterstützen, den Eintrag der Religionszugehörigkeit im Paß zu streichen.[9] In der gewerkschaftlichen Praxis der KKE korrespondiert ein kruder Verbalradikalismus mit der Tendenz zur Anpassung an die sich ständig verschlechternden Gegebenheiten, wobei die rassistische Abgrenzung der kommunistischen Verbände von Migranten durchaus üblich ist. In den letzten Jahre hat die KKE zwar konsequent versucht, die sozialen Kämpfe zur Verbreiterung ihres parteipolitischen Einflusses zu nutzen, dies bedeutete jedoch immer den Kampf gegen die tatsächlich dabei zu Tage tretenden emanzipativen Tendenzen und hatte daher kaum Erfolg. Bei allen wichtigen Streiks und politischen Kämpfen der 90er Jahre haben die unabhängigen linken Gruppen eine wesentliche Rolle gespielt, auch wenn ihr Einfluß auf den bürgerlichen Politikbetrieb bislang gering ist. Die größte und wichtigste Organisation der radikalen Linken ist die Neo Aristero Revma (Neue linke Strömung, NAR), die aus einer Abspaltung der KKE hervorgegangen ist. Da diese einen großen Teil der Kommunistischen Jugend umfaßte, hat die NAR einen relativ geringen Altersdurchschnitt und verfügt über ein beachtliches intellektuelles Potential.[10] In den letzten Jahren hat sie sich systematisch bemüht, alle
politischen und sozialen Kämpfe gegen die Neustrukturierung
kapitalistischer Herrschaft weiterzutreiben und sich politisch neu zu
orientieren. Bemerkenswerter Weise hat es dabei einen tiefen Bruch mit
der parteikommunistischen Tradition gegeben, was sich unter anderem in
der Öffnung gegenüber anderen linken Theorietraditionen, einer
intensiven Auseinandersetzung mit ökologischen Fragestellungen und
der Abkehr von dem Anspruch, sich selbst als alleinige Avantgarde der
Arbeiterklasse zu begreifen, ausdrückt. In der NAR hat sich im
Gegensatz zum parteikommunistischen Traditionalismus die Position
durchgesetzt, daß die Emanzipation der Arbeiterklasse alle
Lebensbereiche umfassen muß und sich nicht auf die Erkämpfung
politischer Macht im nationalen Rahmen beschränken darf. Im gewissen
Sinne ist die NAR damit den Auffassungen des italienischen Operaismus
oder dem klassischen Syndikalismus näher als dem orthodoxen
Marxismus parteikommunistischer Prägung. Die objektive Schwierigkeit
bzw. Unmöglichkeit, eine umfassende Sozialismuskonzeption zu
entwickeln, die den gegenwärtigen Bedingungen kapitalistischer
Herrschaft entspricht, hat dabei zu Positionen geführt, wie sie sich
in Teilen der US-amerikanischen Gewerkschaftsbewegung durchgesetzt haben:
der Kapitalismus wird radikal bekämpft, ohne daß eine genaue
Vorstellung darüber existiert, wie eine Vergesellschaftung jenseits
kapitalistischer Verhältnisse aussehen könnte. Im Gegensatz zum
klassischen Syndikalismus mit seiner apolitischen Grundposition stellt
die NAR aber an sich selbst den Anspruch, zur Neuformulierung
marxistischer Theorie beizutragen und begreift sich ausdrücklich als
politische Organisation. Dieses Bewußtsein in den Kreisen der NAR
bildet aktuell sowohl die Stärke als auch die Schranke ihrer
politischen Praxis. Gegen die totale Verwertung der Welt ein neues
emanzipatives Projekt zu formulieren, setzt allerdings ein höheres
Niveau an internationaler Kooperation in Praxis und Theorie voraus. Die
Einsicht, daß in der gegenwärtigen Phase tiefgreifenden
gesellschaftlichen Wandels die Linke sich selbst theoretisch neu
orientieren muß, wenn sie die bestehende Gesellschaft in die Luft
sprengen will, ist immerhin ein großer Schritt voran. Anmerkungen[1] Tatsächlich ist die schrankenlose Ausnutzung von Mensch, Material und Natur kein Problem gesellschaftlich rückständiger Verhältnisse oder mangelnder Konkurrenzfähigkeit. Die Minoan Flying Dolphins (MFD), bis 1997 eine Betreibergesellschaft weniger Tragflügelboote, hat in den letzten Jahren systematisch Konkurrenzunternehmen mit größtenteils überalterten Flotten übernommen, obwohl absehbar war, daß bis zur Öffnung des Fährgeschäfts in der Ägäis 2002 alle älteren Schiffe per Gesetz aus dem Verkehr gezogen würden. Der MFD ging es bei dieser Strategie darum, mit geliehenem Kapital den Markt zu monopolisieren und durch den Betrieb alter, d.h. abgeschriebener Schiffe die Beschaffung neuer Hochgeschwindigkeitsfähren zu finanzieren. Das Resultat dieser Geschäftspraxis ist eine Zweiteilung der MFD-Flotte in einen modernen Teil, mit dem die Transportbedürfnisse des zahlungskräftigeren Publikums bedient werden, und einen veralteten, dem die breiten Massen ihre Seelen verkaufen dürfen. Die zum Teil chronisch kapitalschwachen Reedereien wurden für den Verlust ihrer Unabhängigkeit mit umfangreichen Beteiligungen an der MFD entschädigt, was nicht unbedingt selbstverständlich gewesen war: In der Vergangenheit wurde die Konkurrenz im Redereigeschäft nicht selten mit bezahlten Killern ausgetragen. - Die Verfilzung der MFD mit der Regierungspartei wird unter anderem dadurch deutlich, daß der Präsident der MFD, Klironomou, PASOK-Mitglied und ehemaliger Bürgermeister Iraklions, der größten Stadt Kretas ist. Vgl. die Ausgaben der Eleftherotypia vom 27.9. - 3.10.2000 und To Vima vom 20.10.2000. [2] Zit. nach Prin, Zeitung der unabhängigen Linken vom 3.9.2000. [3] To Vima vom 9.9.2000. [4] Kathimerini vom 24.9.2000. [5] Kathimerini vom 12.7.1998. [6] Es sei angemerkt, daß die Regierung nicht einmal davor zurückschreckte, das Stören des Unterrichts per Gesetz mit Haftstrafen zu bedrohen. Man muß schon mit Blindheit geschlagen sein, einer derartigen "Bildungspolitik" noch einen progressiven Charakter zugestehen zu können. [7] Flugblatt der Neuen Linken Strömung vom Oktober 2000. [8] Prin vom 1.10.2000. [9] Wer nicht ein ausgewiesenes Mitglied der griechisch-orthodoxen Kirche ist, hat in Griechenland traditionell mit Diskriminierungen zu rechnen. Das gilt u.a. für die moslemische Minderheit in Thrakien und die Zeugen Jehovas. [10] Die NAR gibt die Wochenzeitung Prin heraus. Z.T. englischsprachige Informationen gibt es unter: http://www.come.to/prin. Aufschluß gibt auch ein etwas älterer Artikel von Nikos Kotsias, Die Linke im politischen System Griechenlands und ihre Krise, in: Z, Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Nr. 9, März 1992. Kontext:
sopos 12/2000 | |||
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