Hi Gregor! Ich denke, daß der Gentest für Männer, aufgezogen am Fall Ulrike weit über das hinausgeht, was die "normale" Lynchmobsensationalität der Boulevardpresse angeht. Ich halte diese Forderung innerhalb einer kontinuierlichen Entwicklung in der Abschaffung sonstiger bürgerlicher Freiheitsrechte für zumindest faschistoid. Gegen die Volkszählung wurde von der Linken und dem kritischen Bürgertum zum Boykott aufgerufen, mit der richtigen Begründung, daß die Erfassung der Bevölkerung der erste Schritt im Nationalsozialismus auf dem Weg der Vernichtung von Teilen der Bevölkerung war. Die Forderung nach einem Gentest ist biologistisch, da sie ein "Täterprofil" nach der biologischen Zuschreibung erstellt, obwohl psychologische Fahndungsmethoden vollkommen ausreichen. Die Stoßrichtung ist offensichtlich ein weiterer Schritt hin zu einem autoritären Staat. Strafrechtlich ist es sinnlos. Was wäre denn, wenn der Täter nicht auf deutschem Boden leben würde? Der Zugriff auf den Körper ALLER erwachsenen Männer? Ich halte den Mechanismus dieser Forderung nicht für rätselhaft, sondern er ist zentrales Moment, klassisches Moment autoritärer Herrschaftsformierung. Das Kind als Symbol der Unschuld zur Forderung nach der Bestrafung eines Mörders,um die Forcierung repressiver, gegen die Mehrheit der Bevölkerung gerichteter Politik durchzusetzen, war und ist eine tradierte Strategie in der Etablierung von Herrschaftsgewalt. Ob in den Hexenprozessen die kirchlichen Schlächter den Opfern ihrer Vernichtungsmaßnahmen Kindstötung vorwarfen, die Nationalsozialisten den Juden Ritualmord (das Opfern von Säuglingen und Jungfrauen) unterschoben, die politische Struktur der Inszenierung eines Pogroms und dessen Transformation in institutionalisierten Terror ist sich historisch immer sehr ähnlich gewesen. Anhand eines spektakulären Einzelfalls wird eine Anschuldigung erhoben, wenn die Emotionen dann hochgepeitscht sind, können die lange vorher geplanten autoritären und polizeistaatlichen Maßnahmen durchgeführt werden. In diesem Punkt deckt sich die Forderung nach der Generfassung durchaus mit der den jüdischen Gemeinden im späten Mittelalter vorgeworfenen Brunnenvergiftung und den Verfolgungen von Kommunisten und Sozialdemokraten nach dem Reichstagsbrand. Man denke daran, daß der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst August, ebenfalls CDU, für ein nicht näher benanntes "namenloses Verbrechen" mit dem Gedanken spielte, die Folter wieder einzuführen. Es ging nicht um das Verbrechen, sondern um die Folter. Ähnlich wie es, das reißt du ja in deinem Artikel an, bei der Forderung nach der Todesstrafe, wie sie die NPD beispielsweise für Kinderschänder fordert, IMMER um die eigene Schuld und nicht um die Schuld des Delinquenten geht (denn der kulturanthropologische Ursprung der Todesstrafe ist das Menschenopfer an die Elemente der Natur). Der autoritäre (oder faschistische) Charakter zeichnet sich bekanntermaßen dadurch aus, daß er die ihm eigenen Perversionen und Sadismen, die durch die Unterordnung unter Hierarchien entstehen auf Menschen anderer Hautfarbe, anderer Nationalität, Geschlechtes etc. projeziert. Welches Potential sich da in den Phantasien den Kinderschänder (Pferdestecher, Hütchenspieler, Asylbewerber...) zu vierteilen, zu hängen oder zu vergasen manifestiert, sobald es entfesselt und in die Staatsgewalt integriert wird, zeigte sich in diesem Land mit Auschwitz in welthistorischer Einzigartigkeit. Auch bei Dieter Zurwehme wurde Volkes Stimme laut. "Ich bin bestimmt nicht für die Todesstrafe, aber bei so einem..." war der Satz, den ich sinngemäß am häufigsten hörte. Daß die Forderung nach einer sexualrassistischen Erfassungsmßnahme von dem Vertreter einer Partei kommt, die sich weigert, Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand anzuerkennen und unter der Hand nach wie vor davon ausgeht, daß eine kräftige Tracht Prügel noch niemand geschadet hat, liegt in der Logik der autoritären Projektion. Erschreckend ist, wie dreist und offen diese Typen wieder das formulieren können, was sie immer schon gedacht haben.
Ich stimme nicht mit dir überein in der Annahme, daß sexualisierte Gewalt in dieser Gesellschaft primär von Männern ausgeht. Was sexualisierte Gewalt unterhalb der Schwelle des Mordes betrifft, also Formen von Kindesmißbrauch oder psychischer Gewalt, so wird diese von Frauen in ähnlichem Maße angewandt. Eine Horrorvision wäre es, wenn anhand eines Einzelfalls hierzulande ähnliche Koalitionen unter dem Banner der politischen Korrektheit entstehen würden, wie sie in den USA längst gang und gäbe sind: Mit dem Aufhänger des harten Vorgehens gegen Frauenmörder könnten sich biologistisch und sexualrassistisch argumentierende "Feministinnen" aufgrund identischer Projektionsmechanismen mit ihren "Kameraden von der anderen Feldpostnummer" christlich-faschistischen Abtreibungsgegnern zusammentun, um die Gesellschaft in die 50er Jahre, wenn nicht ins Mittelalter zurückzubestrafen. Theodor Lessing, einer der wenigen, der den Massenmörder Fritz Haarmann als Resultat der sozialpsychologischen Verwerfungen des Nachkriegshannover der 20er Jahre und nicht als biologisches (heute wohl genetisches) Monster ansah, konkretisierte die Realität, auf der heute wieder faschistoide Pläne von CDU-Politikern gedeihen: "Und wenn in einem großen Volke vier Millionen Menschen arbeitslos sind, ohne daß die Regierung dem abhelfen kann, dann ist die Regierung verantwortlich für die Morde und Mordsprozesse, die im Lande erlitten werden." You are watching Big Brother.