Ich stimme Deinem Beitrag zu. Als gedankliche Weiterführung möchte ich auf ein Buch von Rebekka Habermas aus dem Jahr 1991 aufmerksam machen: "Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der frühen Neuzeit".
Am Beispiel eines kleinen Wallfahrtortes in Oberbayern untersucht Rebekka Habermas die soziale Funktion des Wunderglaubens seit dem 16. Jahrhundert. Wunderglauben und Wallfahrt gewährleisteten in dieser Zeit den sozialen Zusammenhalt gegen Krankheiten, Gebrechen, Verhexungen, mithin gegen jede Form gefühlter Ohnmacht der Menschen. Zunächst wurde das ganze von der kirchlichen und staatlichen Obrigkeit gefördert, aber schließlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegen den heftigen Widerstand der armen Bevölkerung mit obrigkeitsstaatlicher Gewalt beendet. - Wallfahrten standen mit der Wohlstandsmehrung und der arbeitsamen Tugendlehre der Moderne im Widerspruch. In Bayern wurden die - man höre und staune: 124 Feiertage auf ganze 17 radikal reduziert. - "Willkommen in der Arbeitsgesellschaft" begrüßte die kapitalistische Moderne die traditionsvergessenen Menschen.
Wohl kann man sagen, daß die moderne Staatsräson eine autoritäre Antwort auf die Defizite der traditionalen Gesellschaften gewesen war. Denn darin offenbarte sich nichts geringeres als auch die Zerstörung des in der frühen Neuzeit recht ausgeprägten Gemeinsinns.
Vor allem aber muß mitbedacht werden - wenn die sozialgeschichtliche Genese des Bettels hervorgehoben wird, um der gesellschaftlichen Stigmatisierung des Bettlers in der Gegenwart eine zum Teil bessere Tradition der frühen Neuzeit entgegenzuhalten - daß Vergangenheit wie Gegenwart stets im Zeichen einer abzuschaffenden Herrschaft gestanden haben und stehen, und daß in dem Almosen eine zugleich furchtbare wie gutherzige Dialektik innewohnt:
"Zwar tun sie [die Almosen; nostal] den jeweils Bedürftigen immer unmittelbar Gutes an, affirmieren aber zugleich den objektiven Zustand eines gesellschaftlich determinierenden Bedürftigseins und die mit ebendieser Affirmation der sozialen Abhängigkeit einhergehende Institutionalisierung des sich gut vorkommenden Gewissens (ohne dabei freilich das Problem besagter sozialer Abhängigkeit auch nur annähernd an der Wurzel zu packen)."
Moshe Zuckermann (Von Gutmütigkeit und Koketterie, in: Ders.: Gedenken und Kulturindustrie, Berlin 1999, S. 70)
Das staatlich institutionalisierte Almosen hat die traditionale Ethik der frühen Neuzeit samt Wallfahrtskultur ersetzt, nachdem die Ideologie des individualistischen Liberalismus und seine pervertierte Form des Sozialdarwinismus den Konkurrenzkampf aller gegen alle bis zum barbarischen Exzeß, bis zum Kampf auf Leben und Tod, hochgepeitscht hat.
So gesehen: Grund zur Freude. ... (?!) - Der deutsche Sozialstaat spendet jährlich für politisches Asyl Gelder in Milliardenhöhe, für Entwicklungshilfe, Bildung, für Arbeitslose, Sozialhilfe, für Kinder, Mütter, ...
Das ist besser als Barbarei, aber am Sozialstaat der Gegenwart - auch an der Rolle der Sozialdemokratie des letzten Jahrhunderts - läßt sich auch eindrucksvoll aufzeigen, wie sehr die staatliche Wohlfahrt historisch als stabilisierender Faktor für die bestehenden Herrschaftsverhältnisse gewirkt hat: von der Wallfahrt zur Wohlfahrt.
Gleichwohl braucht man wohl niemandem klar zu machen, wie groß heute die Schwierigkeiten sind, den "Sozialstaat" auf seine gemeinwohlorientierte Verantwortung hinzuweisen. Wohl eher muß man schon darum heftig streiten, daß es sich dabei vor allem um objektive Strukturen der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse handelt, warum dieser Staat nicht wirklich im Dienste der Entrechteten steht.
Also besser zwar als Barbarei, aber schlechter als Sozialismus.
Wer heute Wohlfahrt vom Staat erwartet, muß sich verhalten, als wäre er auf Wallfahrt. Zeit wird es, daß die Menschen, im Stande ihrer Unfreiheit, sich von Staat und Kapital befreien.