Den Aufsatz kommentieren Vom Bettler zum PennerDie sozialgeschichtliche Genese der Stigmatisierung von Armutvon Utz Anhalt "Was aber heißt hier
eigentlich Identität? Von der bloßen Lüge oder
von plumpen betrügerischen Tricks waren ihre
Selbststilisierungen weit entfernt. Hunderte von Malen
wiederholt, wird der Topos selbst zu einer Art von Wahrheit,
gewinnt er Objektivität auch denen gegenüber, die es
eigentlich besser wissen müßten." Die Ausgrenzung und Verfolgung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen: Obdachlosen, Bettlern und Armen, wie sie seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in der BRD wieder in zunehmendem Ausmaße betrieben wird, basiert auf einer historischen Tradition, die mit der Durchsetzung des Protestantismus als Ideologie des in der frühen Neuzeit erstarkenden Finanzbürgertums begann. Die Parallelen der österreichischen Bettlerverfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert zu heutigen Vertreibungen von Armen aus den Innenstädten sind frappierend. Auch die Argumentation der Obrigkeit und das Verhalten vieler Bettler und Bettlerinnen weisen verblüffende Ähnlichkeiten zur Gegenwart auf. Die Etablierung einer terroristischen Politik gegen die Armen, in diesem Artikel am Beispiel Österreichs beschrieben, war nicht Kennzeichen des "finsteren" Mittelalters, sondern im Gegenteil notwendiger Bestandteil im Aufbau frühkapitalistischer Herrschaftsformen. Gerade die Entstehung des bürgerlichen Gewissens war keinesfalls dem Großmut der Besitzbürger zu verdanken, sondern stellte für die Armen einen Rückschritt dar, deren Recht auf Almosenversorgung nunmehr zu einer wilkürlichen Entscheidung der Gebenden wurde. Viele Strategien im Broterwerb der Salzburger Bettler, ihre erfundenen Geschichten, ihre Kreativität der Selbstdarstellung beim Bettel erinnert durchaus an das Schnorrverhalten von Punks in Fußgängerzonen. Verblüffend ist, wie wenig sich im Kern an der Vermittlung von Herrschaft geändert hat. In einer Zeit, in der bürgerliche Politiker die Streichung der Sozialhilfe nach zehn Jahren erwägen, der zweite Arbeitsmarkt zerstört wird, der Sozialstaat abgebaut und die Wiedereinführung privater Armenversorgung durch Projekte wie die "Tafeln" forciert wird, also eine Auflösung einklagbarer sozialer Rechte und deren Umwandlung in freiwillige Gutmenschentaten stattfindet, gilt es eine historische Tradition in Erinnerung zu rufen, die in der Ermordung der Armen kulminierte. Zur Kultur und Lebensweise der Salzburger BettlerDie Mehrzahl der österreichischen Hexenfälle im späten 16. und 17. Jahrhundert entsprach Racheritualen. Indem die Bettler zu Hexen erklärt wurden, kündigte sich das Ende einer paternalistischen Armenpolitik an. Der Eindruck willkürlicher Bezichtigungen, der in vielen Quellen zur Hexenverfolgung auftaucht, resultiert wohl nicht zuletzt daher, daß der Fragen- und Fangfragenkatalog des Hexenhammers, die Vorverurteilung und dämonologische sowie satanische Lehre der Hexenrichter den sozialen Kontext, das soziale Motiv des Verdachts überlagerten, welches durchaus real und konkret war. Die magische Überhöhung ganz realer aggressiver Erwerbspraktiken einer zunehmend marginalisierten Bettlerschicht war gleichsam nur die konsequente Verlängerung der erfahrenen Repressionen, die den Konsens der Gebenden und Nehmenden zu sprengen drohten. Der Hexenprozeß, gegen die Bettler gerichtet, ächtete diese gesellschaftlich. Eine zunehmende Verelendung der Bettelnden, die sich in Erpressung und direkten Taten gegen das Vieh äußerte, kam einer Kriegserklärung an die bäuerliche Gemeinschaft gleich. Indem die Bettler zu Hexen erklärt wurden, kündigte sich das Ende einer paternalistischen Armenpolitik an. Am Ende der gesellschaftlichen Hierarchie angesiedelt, bekamen die unterbäuerlichen Schichten die Auswirkungen der ökonomischen Krisen am deutlichsten zu spüren. Die Bettler waren vormals Tagelöhner, Bauernknechte, Mägde und Holzknechte gewesen: ein Heer von Arbeitern und Arbeiterinnen, das auf Abruf bereit zu stehen hatte. Der Fall durch das Netz der ländlichen Gemeinschaft verlief rapide. Die Auflösung des familiären Sozialverbandes, vor allem durch den frühzeitigen Tod der Eltern, war eine der entscheidenden Weichenstellungen, die den Weg nach unten bahnten. So gaben von den Jüngeren, die das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, nach ihrer Gefangennahme wegen Bettelei etwa 37% an, frühzeitig Vater, Mutter oder beide Elternteile verloren zu haben. Mehr als zwei Drittel der Bettler stammten vom Land, die anderen waren überwiegend im Tagwerker- und Gelegenheitsarbeitermillieu aufgewachsen, das sich um die kleinen Städte und Märkte herum angelagert hatte. Dabei wies das Salzburger Land, im 30jährigen Krieg neutral geblieben, im 17. Jahrhundert ein relativ kontinuierliches Bevölkerungswachstum auf. Um 1600 begann der Niedergang des alpinen Bergbaus, der im 16. Jahrhundert noch eine Haupterwerbsquelle des Erzstifts dargestellt hatte. Nahezu jeder fünfte Bettler stammte aus Handwerkerfamilien. Auch hier überwog der Anteil des Landhandwerks. Diesen nicht zünftisch organisierten Landhandwerkern fehlten die sozialen Netze und die damit verbundenen Ehrvorstellungen, die ökonomische Notlagen zumindest für eine gewisse Zeit zu überbrücken halfen. Die Wandergesellen, deren nichtseßhafte Lebensweise dazu geschaffen schien, in die Bettlerszene abzugleiten, waren am wenigsten gefährdet, hielt diese doch das sehr hohe zünftische Ehrgefühl vom Betteln ab. Etwa 30% der Verhafteten waren Frauen - im Vergleich zu anderen Hexenprozessen erstaunlich wenig. Während die Hälfte der jungen Bettler das Alter von 16 Jahren noch nicht überschritten hatte, betrug der Anteil der Bettlerinnen unter 20 Jahren nur etwa ein Viertel, was daran lag, daß in einer patriarchalen Kultur die Männer weit früher auf die Straße geschickt wurden. Vom Absturz in Bettelei und Armut gab es selten ein Zurück. Betteltum wurde quasi vererbt. 21% der verhafteten Jugendlichen gaben an, daß schon ihre Eltern auf diese Art und Weise ihr Leben gefristet hatten. Es bedurfte für die besitzarmen Unterschichten nicht sonderlich vieles, um an den Bettelstab zu geraten, und dennoch war es ein Schritt ohne Wiederkehr. Für die Unterschichten hatten sich die Reproduktionsbedingungen im 17. Jahrhundert kontinuierlich verschlechtert, und daher mochte es für manche verarmte Familie tatsächlich naheliegen, ihre Kinder auf die Straße zu schicken, um so ihr Budget zu entlasten bzw. sich eine weitere, dringend benötigte Einnahmequelle zu verschaffen. Wo bei den Bettlern der familiäre Zusammenhalt nicht mehr intakt war, traten oft reale oder erfundene Paten an deren Stelle. Für die Unterschichten waren die Patenschaften eine Form von künstlicher Verwandtschaft, ein wichtiges soziales Sicherungsnetz, das den Fall ins Nichts aufzuhalten vermochte oder zumindest bremste. Die Bettler waren keineswegs total ausgegrenzt; die Beziehungen zur seßhaften, etablierten Welt blieben vielfältig und wurden über Verwandte und Bekannte, Paten und andere Bezugspersonen oft sorgfältig gepflegt. Man wollte diese Kontakte nicht verlieren, ohne die das nackte Elend drohte, und die Übergänge zwischen den saisonalen Beschäftigungsrhytmen der plebejischen Schichten in Stadt und Land und dem temporären Bettel waren fließend. Der bäuerliche Betrieb, dessen Funktionieren auf persönlichen Bindungen beruhte, besaß eine erstaunliche Integrationsfähigkeit. Am unteren Rand der Gesellschaft gab es ausgedehnte Grauzonen, in denen sich saisonale Beschäftigung und Erwerbslosigkeit abwechselten, partielle Integration und Desintegration beständig ineinander übergingen. Die Mobilität der Bettler war deutlich regional begrenzt und deckte sich weitgehend mit ihren Herkunftsorten. Dialektgrenzen waren für Menschen, die, in ihrer Existenz auf die Unterstützung anderer angewiesen, ein kaum zu überwindendes Hindernis. Die Grenzüberschreitung zur bürgerlichen Eigentumskriminalität war bei den Bettlern nicht so häufig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Und vor allem nicht so, wie es ihnen von der Obrigkeit immer wieder zur Last gelegt wurde. Auch wenn Obstdiebstahl und ähnliches des öfteren vorkamen, so wurde doch die Grenze zu schwereren Diebstählen oder gar zu Raub nur selten überschritten, da die Bettler sehr wohl wußten, daß ihr Wohlergehen stieg und fiel mit dem Rahmen, in dem sie sich bewegten. Im Gegensatz zur ländlichen Bettlertradition entwickelte sich die Salzburger Stadtbettlerszene. Diese, im wesentlichen eine jugendliche Subkultur, machte durch ihre Verhöhnung jeglicher Autorität, Lautstärke, Tumult und Verwünschungen sowie Verfluchungen auf sich aufmerksam. Gewalttätige Momente erhielten Einzug in die Bettlerkultur am stärksten durch ehemalige Soldaten und andere bewaffnete Randgruppen und Räuberbanden. Ohnmachtsgefühl und Rachephantasien der BettlerDie in der religiösen Ordnung festgeschriebene Dankbarkeit für den Erhalt des Almosens war mitverantwortlich für die Krise der Bettler in der frühen Neuzeit. Das Almosen genoß im Mittelalter noch eine rituelle Einbindung. Mit der Moralisierung im protestantischen Kontext der entstehenden Staatlichkeit und der Etablierung des Bürgertums verlagerte sich das Geben des Almosens immer mehr auf das Gewissen des Spenders. Die protestantische Erwerbsethik hielt zunehmend dazu an, das Spenden als Verschwendung und somit als Sünde zu begreifen. Frömmigkeit wurde immer stärker zur privaten Tugend erhoben. Der Bettler wurde nunmehr an der subjektiven Haltung gemessen, die er gegenüber dem Geschenk annahm. Der religiös eingegrenzte Austausch, von dem beide nur profitieren konnten, verlagerte sich auf ein Bitten und Betteln einerseits und das "großherzige Gewähren" einer milden Gabe andererseits. Es stand nun nicht mehr das Seelenheil des Spenders im Mittelpunkt, sondern die durch den Besitz materiellen Reichtums höhere Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie, verbunden mit der Selbstbefriedigung durch die gute Gabe. Der damit verbundenen Verhaltenserwartung konnte der Bettler indes kaum genügen - im Gegenteil, die Formen des Bettels wurden, bedingt durch einen immer stärkeren innerbettlerischen Konkurrenzkampf und eine immer massivere Verarmung, aggressiver und mußten zu einem unauflöslichen, für die Bettler letztendlich tödlichen Mißverständnis führen. Die ständische Ordnung blieb im mittelalterlichen Katholizismus gewährleistet; der Arme hatte sein Los in Demut zu ertragen, während der Reichtum von der Kirche in Repräsentationsobjekten angelegt wurde. Der Adel schuf großartige Schlösser, führte Krieg, arbeitete nicht und schlug seine Untertanen. War Armut an sich im mittelalterlichen Katholizismus nicht negativ besetzt, so änderte sich dieses Bild im Protestantismus erheblich. Das katholisch-päpstliche Gottesfundament beruhte auf einer patriarchalischen Linie, die vom männlichen Gott über den Papst und die Kirchenherren bis zum Familienvater reichte. Das feudalistische Ständeprinzip gab sich die Form eines innergesellschaftlichen Ausgleichs, der verhinderte, daß die Armen verhungerten. Ihnen wurde einerseits die Aussicht auf das Himmelreich versprochen, andererseits galt der Reiche nur dadurch als gut, indem er von seinem Reichtum den Armen etwas abgab. Er mußte sich also mit Almosen gewissermaßen den Zugang zum Himmelreich erkaufen. Die ständische Ordnung blieb dadurch gewährleistet; der Arme hatte sein Los in Demut zu ertragen, während der Reichtum von der Kirche in Repräsentationsobjekten wie prunkvollen Dömen und Kathedralen angelegt wurde. Der Adel schuf großartige Schlösser, führte Krieg, arbeitete nicht und schlug seine Untertanen. Der Protestantismus verbreitete sich vor allem im städtischen Bürgertum bei den Kaufleuten, Handwerkern usw., die gegen den Adel und den katholischen Klerus die neuen bürgerlichen Tugenden ins Feld führten: Sparsamkeit, Redlichkeit, Fleiß und Ordnung. Im Protestantismus, insbesondere im Calvinismus galt Reichtum nunmehr als etwas, das erarbeitet und (re-)investiert werden mußte. Der Adel galt als parasitär, der katholische Klerus als dekadent. Gleichzeitig wurde das Bettelwesen neu bewertet. Der Arme hatte nicht mehr das schwere Erdenlos zu tragen; er war arm aus Faulheit, denn Reichtum galt als das Resultat harter Arbeit. Dem folgte die neuzeitliche und in den späteren Jahrhunderten immer weiter verfeinerte Verächtlichmachung von Armut, die bis in die puritanisch geprägte US-Verfassung als pursuit of happiness eingegangen ist. Das Almosen galt nunmehr als etwas, das der Tüchtige dem Nicht-Tüchtigen aus Gnade überließ - kein Tauschakt mehr, sondern ein Gewähren. Der faule Bettler konnte keinerlei Recht auf die Gabe in Anspruch nehmen. Das spiegelt sich bis heute in der umgangssprachlichen Bezeichnung des Bettlers als Penner wieder. Das Bettelwesen wurde neu bewertet. Der Arme hatte nicht mehr das schwere Erdenlos zu tragen; er war arm aus Faulheit, denn Reichtum galt als das Resultat harter Arbeit. Dem folgte die neuzeitliche Verächtlichmachung von Armut, die bis in die puritanisch geprägte US-Verfassung als pursuit of happiness eingegangen ist. Das katholische Salzburg zeichnete sich bis in das 17. Jahrhundert durch eine relativ großzügige Armutspolitik aus. Trotzdem kam es auch hier zu einem zunehmend aggressiven Bettelverhalten. Die immer radikaleren Erwerbspraktiken der Vaganten zeigten sich u.a. in zunehmenden Verfluchungen. Daß die Bettler in einer eigenen Realität bzw. Subkultur lebten, in der sich Stilisierungen, Wunschvorstellungen und konstruierte Biographien mit realen und erdachten Fähigkeiten verbanden, zeigt auch die Vertrautheit der Bettlerkultur mit magischen Ritualen und Praktiken. Die von der Marginalisierung Betroffenen neigten dazu, den Bauersleuten ihre "besonderen" Fähigkeiten anzupreisen und dabei auch stark zu übertreiben. Exemplarisch ist hier der Fall des Abdeckersohns Hänsl Ridl, der 1677 der Kramerin Christina Zänklin anbot, ihr eine Salbe zu machen. Obwohl die mit der Kadaververwertung beschäftigten Abdecker über ein reichhaltiges volksmedizinisches Wissen verfügten, weckte dies bei der Kramerin den Verdacht auf eine Hexensalbe. Die vagabundierende Lebensweise der Bettler entzog sich der Kontrolle der Kirche und des Staates weitestgehend. Das Bestreben der Obrigkeit ging dahin, das bettelnde Vagantentum allgemein als magie-verdächtig darzustellen. Dies führte zur weitgehenden Isolierung von der Restgesellschaft. Das in Hexenprozessen immer wieder auftretende Element der Dämonisierung nicht opportuner, aber von alters her bekannter Verhaltensformen durch die staatliche Obrigkeit und durch die gegenreformatorische Kirche zeigt sich als Versuch, durch schärfste Kriminalisierung die Isolierung der Randgruppen voranzutreiben. Der Umbruch geschah innerhalb weniger Jahre. 1673 etwa ließ Thomas Kessler, Vikar in St. Veit, seinem Zorn freien Lauf: Die Bettler würden ketzerische Bücher verkaufen, Superstitiones einschwätzen, dem Volk sei das Vieh verzaubert. Im Unterschied zu den Anklagen wegen Schadenszaubers zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird im Jahr 1673 den Bettlern allein ihr Geschäft mit der Leichtgläubigkeit der Leute zum Vorwurf gemacht. Bereits 1677 offenbart sich im Fall Hänsl Riedl das neue Feindbild des Aberglaubens von Seiten der katholischen Kirche, die in Trennung zwischen dem Heiligen und Profanen auf Distanz zur Bevölkerung ging und immer weniger in das Volk hineinschauen konnte. Die unkontrollierbaren und daher für ihren Machterhalt gefährlichen Bereiche füllte die Kirche mit der angeblichen Existenz von schwarzer Magie. Der Hexenprozeß gab den Bettlern durch die Dämonisierung eine Macht und Stärke, die sie in Wirklichkeit gerne gehabt hätten: Sie überhöhten noch die Anklagepunkte durch grandioseste Selbstübertrumpfungen und holten sich das, was sie in ihrem Leben niemals bekommen hatten: soziale Anerkennung, die sich in ihrer Hinrichtung manifestierte. Die Bettler, bei denen das Spiel mit Zaubertricks, magischen Wundermitteln, Salben, Illusionen und erfundenen bzw. sich selbst erfindenden Geschichten zum Standardrepertoire ihres Lebensunterhaltes gehörte, die sich aber größtenteils nicht als Zauberer betrachteten, waren sich der Gefahr nicht bewußt, in der sie schwebten. Der Glaube an die Existenz von Schadenszauber und Gegenzauber war in der Bevölkerung und auch bei den Bettlern allgemein verbreitet. Die Fähigkeiten der eigenen Person wurden aber durchaus realistisch eingeschätzt: der Jackl konnte zaubern, man selbst konnte es nicht. Erkennbar ist ein Zusammenspiel von Rachephantasien der Bettler, wirklicher Ohnmacht und Demütigungen und deren Umkehrung im Hexenprozeß. Situationen, in denen sich ihre totale Abhängigkeit und Marginalisiertheit den Bettlern zeigten, gehörten zu ihrem alltäglichen Leben. Daß sich daraus Rachebedürfnisse ergaben, liegt auf der Hand. Da aber die Bettler aufgrund ihrer ohnehin sehr zwiespältigen Reputation in der Öffentlichkeit gezwungen waren, sich wenigstens innerhalb der bestehenden Normen zu bewegen, kanalisierte sich das Rachebedürfnis in Phantasien und imaginären Handlungen, wobei die Vorstellung vom stillen und heimlichen Schadenszauber eine besondere Bedeutung gewann. Die Wirksamkeit dieser Vergeltungsphantasien äußerte sich allein in der Furcht der von den Bettlern Gekränkten. Mit den Worten von Charles Baudelaire gesagt: "Eine Geschichte ist nur insofern wahr, wie der Zuhörer ihr Glauben schenkt." Das eigentlich perverse Element des Hexenprozesses zeigte sich in der Verdrehung, Verstümmelung und Satanisierung ganz realer Konflikte, die dem heimlichen Vergeltungsbedürfnis der Bettler in einer für sie zerstörerischen Art und Weise entgegen kam. Der Hexenprozeß gab ihnen durch die Dämonisierung eine Macht und Stärke, die sie in Wirklichkeit gerne gehabt hätten: Die Bettler überhöhten noch die Anklagepunkte durch grandioseste Selbstübertrumpfungen. Sie holten sich das, was sie in ihrem Leben niemals bekommen hatten: soziale Anerkennung, die sich in ihrer Hinrichtung manifestierte. Die Situation ist paradox: Ein Delinquent schafft sich durch die Überstilisierung eines vom Gericht erfundenen, aber von ihm selbst gleichzeitig herbeiphantasierten todeswürdigen Verbrechens die Grundlage seiner eigenen Todeswürdigkeit. Epilog: Exkurs und AusblickAnders als auf dem europäischen Festland erlangte die Vagabunden- und Bettlerverfolgung im angelsächsischen Raum aufgrund der frühzeitigen Ausbildung eines Zentralstaates im Zusammenhang der ursprünglichen Akkumulation eine weitgehend ohne magisch-mythische Stigmatisierung auskommende, d.h. säkulare Qualität. Im Übergang in die Moderne wurden die Menschen aus ihren feudalen Zusammenhängen gerissen und in Vagantentum und Bettlerei getrieben. Als solche wurden sie massenhaft gefoltert, versklavt und ermordet. Thomas Morus wußte in seiner Schrift Utopia davon zu berichten, daß Großgrundbesitzer ihre Bauern und Hörigen von den heimischen Feldern und Höfen vertrieben, um für die sich herausbildende Textilproduktion Schafherden auf den nun brachliegenden Äckern zu halten. Morus bezeichnete zynisch die Schafe als Menschenfresser, weil die Fortgetriebenen mit ihrem letzten Hab und Gut, jeglichen sozialen Halts beraubt in der Gegend umhervagabundieren mußten, mittellos in die Städte flüchteten, zum Betteln gezwungen waren und als Bettler erhängt wurden. Heinrich VIII. etwa ließ in seiner Zeit als König 72.000 Vagabunden in England ermorden. Erst allmählich, nachdem sich die modernen Verhältnisse herausgebildet hatten und die Textilmanufaktur durchkapitalisiert war, also mit modernen Maschinen betrieben wurde, reduzierte sich sprungartig das riesige Heer der Vagabondage, das vom Proletariat absorbiert wurde. Die repressive Gesetzgebung gegen Bettler transformierte sich in Disziplinierungsmaßnahmen der nicht an solche Arbeit gewöhnten ehemaligen Outlaws, die in "Workhouses" an die moderne Arbeitsdisziplin gewöhnt wurden. Bis in das 20. Jahrhundert hinein wuchs - von den regelmäßigen Krisenzyklen abgesehen - stetig der Bedarf an Arbeitskräften im Kapitalismus. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert scheint sich nunmehr ein ähnlicher Prozeß zu vollziehen, wie er sich zur Zeit der ursprünglichen Akkumulation abgespielt hatte: Eine stetig zunehmende Masse an Menschen wird aus den kapitalistischen Bindungen und Verwertungszusammenhängen entlassen und zu drop-outs gemacht - Ausgeworfene, die für das System keinen Nutzen mehr haben. Sie werden von einem autoritären Staat und von den erkalteten gesellschaftlichen Verhältnissen einem sozialen Tod überantwortet. Der Bettler wird zum Penner. Literaturhinweis:Norbert Schindler: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur der frühen Neuzeit, o.O. o.J.
sopos 3/2001 | ||||||||||||
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