Editorial
Für die Durchsetzung nationaler Interessen auf Ebene der Weltpolitik spielt die Souveränität von Nationalstaaten nach wie vor eine fundamentale Rolle. Jeder Nationalstaat strebt im Rahmen der kapitalistischen Staatenkonkurrenz nach mehr Einfluß, gar nach Hegemonie. Der deutsche Staat, die verspätete Nation - wie ihn Helmuth Plessner nannte - überzog in seinem zweimaligen Griff nach der Weltmacht, diese Welt mit fürchterlichen Kriegen und hat die Vernichtung der europäischen Juden zu verantworten. In der Folge war von den alliierten Sieger- und Befreiungsmächten Deutschland die staatliche Souveränität aberkannt worden.
Die Bemühungen Deutschlands um die Wiedererlangung seiner Souveränität begannen bereits mit der Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949. Aber erst seit dem deutschen Einigungsprozeß in den Jahren 1989/90 trägt der Versuch, die depotenzierte Staatsmacht wieder in Einklang zu bringen mit der ökonomischen Stärke des Landes, wirkliche Früchte. Dieser Prozeß läßt sich am treffendsten als Normalisierung bezeichnen.
Der Begriff der Normalität aber ist schillernd: er verweist nicht nur post festum auf den Mangel an staatlicher Souveränität seit der Nachkriegszeit bis zur deutschen Wiedervereinigung, den Habermas als postnationale Konstellation bezeichnet, sondern bezieht sich auch auf die Verbrechen der NS-Zeit, deren Schuld seit 1989 nach Ansicht vieler Realpolitiker als abgetragen gilt.
Die Normalisierung besitzt zwei spannungsgeladene Richtungen, die dialektisch ineinander verschränkt sind: zum einen bedeutet sie eine rückwärtsgewandte Restauration traditioneller Normen, zum anderen die Erfindung neuer Werte, die später einmal erst als Traditionen in Erscheinung treten sollen (Habermas): Demokratie, Pluralismus, Weltoffenheit, Toleranz, Zivilität und Friedfertigkeit.
Normalität wird im ersten Kontext als Anknüpfung an die Staatstradition des Bismarckschen Reiches von 1871 verstanden. Im zweiten Kontext wird unter Normalität der "westliche" Maßstab verstanden, also die Idee einer Republik, in der die Ideale der Französischen Revolution von 1789 verwirklicht sind. Es läuft dabei auf einen Vergleich mit den anderen westlichen Demokratien hinaus, in dem man zu dem Resultat komme, Deutschland müsse nunmehr als ein Nationalstaat westlichen Typs betrachtet werden. Dem europäischen Vergleich hält Deutschland freilich nur stand, wenn die nationalsozialistischen Verbrechen zugleich an der düsteren Seite der gesamteuropäischen Geschichte und an den Gewaltexzessen, die gegenwärtig in der Welt stattfinden, relativiert werden. ( Zurück zum Dossier... )
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