Editorial
Bildung – mit diesem Begriff wurde einmal nichts anderes als das Autonomiebestreben des aufstrebenden Bürgertums gegenüber dem Adel verbunden – verselbständigte sich nach vorübergehenden, kurzfristigen Hoffnungen, die das Proletariat auf Emanzipation in sie hegte, zu einer Quelle der Herrschaft über das Bestehende. Nicht zufällig lautete ein wichtiger Slogan der alten Arbeiterbewegung „Wissen ist Macht“ – man versprach sich von aufgeklärten Menschen eine vernünftigere Welt. Ein starker Flügel der 68’er Bewegung wurde als die „Antiautoritären“ bezeichnet. In ihnen lebte die Vision der befreiten Gesellschaft durch „bessere“ Kinder fort; nicht zu guter letzt waren sie es, die die Prügelstrafe aus den Schulen verbannten und den Wissenschaftszweig der Pädagogik mit befreitem Leben füllten. Doch auch sie mußten – nicht zuletzt wegen mangelnder theoretischer Reflexion des Bildungsbegriffes – sich dem Bestehenden anpassen. Durch ihre Tradition war es immerhin wieder möglich geworden, Bildung zum Schlagwort für die Partizipation der Unteren am Gesamten wiederzubeleben.
Nach dem Scheitern der 68’er Bewegung entwickelte sich im Zuge des Zusammenbruchs des Ostblocks die Bildung immer mehr im Sinne der Herrschenden zur Ausbildung, wodurch die emanzipativen Impulse, die in dem Begriff rudimentär noch vorhanden waren, vollständig eingeebnet wurden. So wie in allen anderen Bereichen der Gesellschaft auch, richteten sich die Mechanismen des Bestehenden gegen das Ideal der Gleichberechtigung. Die durch die 68er losgetretenen Ansprüche verkamen zu einer kurzen Episode, die sich zwar auf alte Traditionen besannen – aber heute Gefahr laufen, sich im Sande zu verlaufen.
Dem Abbau dessen, was einst als Bildung verstanden wurde, – das humanistische Ideal des Sich-Bildens (Persönlichkeit ausbilden) und der Bildung des gesellschaftlichen Ganzen (Fortschritt) –, folgte die Konsequenz des „Umbaus des Sozialstaates“, welcher mit seiner Abschaffung gleichkommt.
An Stelle kritischen Bewußtseins wird mittlerweile die Bildung reiner Zweckrationalität gefördert, die im Begriff der bürgerlichen Vernunft einmal nur eine Facette ausgemacht hatte. Das bedeutet im logischen Resultat die Förderung der Techniker der praktischen Wissens (Sartre) – jener Gruppe, die das technische Know-How für die Projekte der Herrschenden bereitstellt und deren Wissen profitbringend weiteverkauft werden kann. Das Fachideotentum der Zweckrationalität ist im Begriff sich durchzusetzen.
Die klassische Bildung hingegen war untrennbar mit der Kunst verbunden. Reste dieses Bewußtseins finden sich heute verkrümmt in staatlich subventionierten Theatern und öffentlich rechtlichen Fernsehshows. Doch die Kunst wurde nach der konkurrenzlosen Durchsetzung des Bürgertums ähnlich bedeutungslos wie die Vision der „Bildung für alle“ – dem gebildeten und vernunftbegabten Menschen, der sich die Welt nach seinem Ebenbild einrichtet. Statt dessen wurde Bildung zum Privileg derer, die von je her auch ohne Bildung nicht zu den Armen der Welt gehörten. Dem kurzen Intermezzo der sozialen Bewegung folgte die nüchterne Wirklichkeit. Das Wort von der „Sozialpartnerschaft“ – ein Begriff, den keine Sprache außer die deutsche kennt – entpuppte sich als das, was es ursprünglich einmal war: als Ideologie.
Die Träger des Slogans „Rettet die Bildung“ rekurrieren meist unreflektiert auf diese repressive Entwicklung. Der Notstand des Heute wird zumeist durch die Verherrlichung des Gestern ausgerufen. Aber der Bildungsbegriff hatte seit jeher eine repressive Seite, die heute gerne von Linken unterschlagen wird. Es verbinden sich unter der neu aufkeimenden Revolte konservative und fortschrittliche Elemente, die im Ganzen aber kaum zur Emanzipation taugen. Vom Wohle Deutschlands ist meist mehr die Rede als vom Glück des Einzelnen. Dies umzukehren, um die Bildung in den Dienst des Glücks der Individuen zu stellen, wäre die eigentliche Aufgabe, damit Bildung des Selbst wie des gesellschaftlichen Ganzen keine konkurrierenden Pole desselben Begriffes mehr sind.
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