Den Aufsatz kommentieren Wiederholungszwang statt VergangenheitsbewältigungZur 2016 erschienenen Festschrift für Frank Deppevon Beate Iseltwald Anlässlich des 75. Geburtstags von Frank Deppe am 23.9. 2016 waren manche linke Zeitschriften voll des Lobes und der Feier für den Gratulanten. Ausgespart blieb in diesen Artikeln ebenso beflissen wie symptomatisch der Band "Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung", herausgegeben von Frank Deppe, Georg Fülberth und Jürgen Harrer (Pahl-Rugenstein Verlag, Köln, 1977). An diesem Band gab es Ende der 1970er Jahre heftige Kritik. Herausgearbeitet wurde, wie er die SED-Lesart der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung propagiert. Das betrifft u. a.:
Helga Grebing (1979, 213) stellt in Bezug auf den unwissenschaftlichen Charakter dieses Bandes fest, dass "die Auswahl der Bezugsliteratur nicht begründet wird und auch keine Auseinandersetzung mit kontroversen Literaturpositionen (von einigen Ausnahmen abgesehen) erfolgt". "Das Angebot der historischen Forschung zumindest für den Zeitraum bis 1933 (ist) weitgehend unbeachtet geblieben". Hendrik Skrzypczak (1978, 469) spricht von einer "selektiven Verengung des Wahrnehmungsfelds" und davon, dass hier "die Forschung zu wissenschaftlich drapierter Absicherung politisch vorgegebener Bewertungen" degeneriert. Der Leser könnte an dieser Stelle einwenden, das sei alles Schnee von vorgestern. Er wird annehmen, Deppe, Fülberth und Harrer hätten selbstkritisch erkannt, dass es sich bei dem rein vom politischen Ergebnisinteresse (Förderung des DKP-Einflusses) her geschriebenen Band um einen schwerwiegenden Fehler handelt. Wer dies erwartet, wird eines besseren belehrt durch die aktuelle Stellungnahme von Fülberth und Harrer mit der Überschrift "Im Tollhaus. Zur Geschichte der dt. Gewerkschaftsbewegung" (in: Klaus Dörre, Hans-Jürgen Urban (Hg.): Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10/2016). Der Artikel dokumentiert, wie wichtig es Fülberth und Harrer in dieser kleinen Festschrift für Deppe ist, den gemeinsamen Band von 1977 positiv hervorzuheben. Fülberth und Harrer nennen erstens keinen der oben genannten schwerwiegenden Kritikpunkte und nehmen zu keinem von ihnen Stellung. Sie bezeichnen zweitens die damalige Kritik als "shitstorm" (S. 26) und pathologisieren die kritischen Artikel als "Patientenkartei eines Irrenhauses". (Die Selbstverständlichkeit lässt tief blicken, mit der Fülberth und Harrer als jahrzehntelange Propagandisten der DKP-Politik und des Lobs der Sowjetunion auch h e u t e noch im Horizont der damaligen russischen Praxis denken, die darin bestand, politische Kritiker psychiatrisch zu traktieren.) Fülberth und Harrer versuchen sich drittens an einer Erklärung der Kritik aus den materiellen Interessen der Kritiker. "Gewerkschaftsapparate sind auch Arbeit- und Auftraggeber. Das gerade entstehende geistes- und sozialwissenschaftliche Prekariat drängte sich in Gestalt von Artikelschreibern, Referenten, Stellensuchenden mannigfacher Art an sie heran. Konkurrenz greift zu vielen Mitteln" (S. 27). Niemand hat Fülberth und Harrer aktuell aufgefordert, zu ihrem Band von 1977 und der finsteren Tradition DKP-treuer Geschichtspolitik Stellung zu beziehen. Ein sie insgeheim Beschäftigendes und Unerledigtes drängt Fülberth und Harrer dazu, im Fettnäpfchen zu baden. Und das tun sie dann auch reichlich. Dem von Deppe, Fülberth und Harrer herausgegebenen Band wurde in der Kritik Geschichtsklitterung und Geschichtsfälschung vorgeworfen. Was Fülberth und Harrer in dem Artikel aus dem Jahr 2016 abliefern, ist nicht weit davon entfernt. Die Kritik an ihrem Band von 1977 wurde im wesentlichen von Manfred Scharrer, Helga Grebing, Gerhard Beier und Peter von Oertzen formuliert (s.u.). Fülberth und Harrer wollen ihren Lesern tatsächlich einreden, die Kritik an ihrem Band von 1977 sei von "Stellensuchenden" aus dem "sozialwissenschaftlichen Prekariat" vorgebracht worden. Und selbst wenn es so gewesen wäre: Die Unterstellung von sachfremden Motiven für eine inhaltliche Position bei gleichzeitigem Mangel der sachlichen Auseinandersetzung mit diesen Gedanken sowie deren Reduktion auf die vermeintlichen Interessen derjenigen, der diese Gedanken artikulieren, sagt über das Streitthema inhaltlich rein gar nichts aus. Jeder Student der Geistes- und Sozialwissenschaften lernt im "Grundkurs wissenschaftliches Argumentieren" (Stichwort "argumentum ad personam" oder "argumentum ad hominem"), zwischen Argumentieren und Diskreditieren zu unterscheiden. Fülberth und Harrer denunzieren die Kritik an ihrem, zusammen mit Deppe herausgegebenen Band: Erstens als Trick, um in der Konkurrenz voranzukommen, zweitens als verzweifelter Einfall von "Stellensuchenden" aus dem "sozialwissenschaftlichen Prekariat". Die Methoden der DKP passten in den 1970er und 1980er Jahren zum autoritären und manipulativen Inhalt ihrer Politik.[2] Dass Fülberth und Harrer ihren, die SED-Legenden über die deutsche Arbeiterbewegung wiederholenden Text noch h e u t e legitimieren, ist erstaunlich. Dieser verstiegene Zweck lässt sich nur mit den dargestellten Methoden aus Fülberths und Harrers politischer Vergangenheit realisieren – einer Vergangenheit, die bei ihnen anscheinend partout nicht vergehen will. Dass Klaus Dörre und Hans-Jürgen Urban als Herausgeber des Heftes, in dem der besorgniserregend niveaulose und dreiste Artikel von Fülberth und Harrer erschien, ein derartiges Elaborat zulassen, wirft Fragen auf. Sie richten sich auch an den VSA-Verlag, der die Veröffentlichung eines Artikels mit solch offensivem Bekenntnis zu SED-Geschichtsfälschung und seiner nicht tolerierbaren Vorgehensweise der Veröffentlichung für wert erachtet. Es handelt sich um etwas anderes als einen längst vergessenen old boys club und seine desaströse "Geschichtspolitik" aus dem Jahre 1977, sondern um das offene Bekenntnis zu ihr im Jahre 2016. Anmerkungen[1] Diese "die Führung entscheidet"-Position passt zum DKP-Verständnis von Gewerkschaftspolitik: "Wegen ihres politischen Selbstverständnisses als der 'Avantgarde der Arbeiterklasse' sind die Mitglieder der DKP-orientierten Organisationen v. a. auf die Besetzung von Leitungsfunktionen fixiert. Die wichtigste Frage für diese Vertreter ist, wer die Arbeiterklasse führt. Dabei ist die selbständige Handlungsfähigkeit und Meinungsbildung der Arbeiter ihrer Meinung nach nicht möglich, da die Massen nur begrenzt einsichtsfähig sind. Wenn die Partei Gremien besetzt hat, besteht die wichtigste Aktivität in der Abfassung von Beschlüssen und Entschließungen, die Massenrückhalt für die in der DKP vorhandenen Positionen nach außen demonstrativ vorspiegeln sollen" (Hinrich Oetjen: Diskussionspapier zur Strategie der DKP und SDAJ im gewerkschaftlichen Jugendbereich. In: Frankfurter Rundschau vom 5.5. und 7.5.1979). Oetjen war damals Leiter der DGB-Bundesjugendschule Oberursel. Das Papier spielte in der Debatte um den Band von Deppe u. a. von 1977 insofern eine große Rolle, als es darlegte, welcher Vorgehensweise der DKP in den Gewerkschaften der Band zuarbeitet. Oetjens Text findet sich im Netz unter http://www.einemann.de/Dokumente/1979_Jusos_Gewerkschaften_Stamokap.php (Kopie des Rundschau-Artikels, leider fehlt der Anfang) sowie eingebettet in eine Auseinandersetzung der MLD mit der DKP unter http://www.mao-projekt.de/BRD/ORG/MLD2/MLD_1979_DGB_Oberurseler_Papier.shtml [2] Die DKP hat in den 1970er und 1990er Jahren nicht nur u. a. die Kernkraftwerke in den Ländern des "Realen Sozialismus" befürwortet und die Verurteilung von Rudolf Bahro wegen "landesverräterischer Sammlung von Nachrichten" und "Geheimnisverrats" zu acht Jahren Freiheitsentzug begrüßt, sondern auch ein sehr selektives und instrumentelles Verhältnis zu Arbeitskämpfen gepflegt. Vgl. dazu interessante Beispiele bei Oetjen (s. Anm. 1). Zusätzlich spielte die DKP die Rolle der Hilfspolizei gegen linke Gewerkschaftler, die nicht der DKP-Linie folgten. Die DKP hat sich immer als Anwärter auf die Führung des Staats aufgefasst und sich schon in Vorwegnahme ihrer imaginierten machtvollen Zukunft entsprechender Methoden bedient. "Sind DKP-Vertreter in den Gewerkschaften gefährdet, appellieren sie an die 'Solidarität aller Demokraten und Sozialisten'. Sie warnen davor, sich zum Instrument der 'Rechten' machen zu lassen., indem man die Präsenz der Kommunisten in den Gewerkschaften nicht verteidigt. Umgekehrt gilt die Parole von Solidarität und Einheit nicht mehr. Andere 'Linke' werden von der DKP insbesondere innerhalb der Gewerkschaften heftig bekämpft" (Oetgen, vgl. Anm. 1). Manche haben – im Gegensatz zu Fülberth und Harrer – ihr damaliges Verhalten inzwischen begriffen. Vgl. Franziska Wiethold: "Ich war Teil der 'Stamokaps', … wir haben in einer Art Auseinandersetzung z. B. gegen die 'undogmatischen' Sozialisten geführt, für die ich mich heute schäme" (F. Wiethold: Erinnerungen an Wolfgang Abendroth während der Studentenbewegung 1968. In H.-J. Urban, M. Buckmiller & F. Deppe (Hrsg.). Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie - Zur Aktualität von Wolfgang Abendroth (S. 203). Hamburg: VSA. LiteraturDie Kritik am von Deppe, Fülberth und Harrer herausgegebenen Band von 1977 findet sich in: Manfred Scharrer: Über Geschichtsfälschung – 'Kurzer Lehrgang' der Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, u.a. in: Langer Marsch, Nr. 38, November 1978 Und in: "Die Quelle" Hendrik Skrzypczak 1978: Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. In: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz (IWK), H. 4/1978 Helga Grebing: Eine große sozialwissenschaftliche und pädagogische Leistung? In: Gewerkschaftliche Monatshefte 4/1979 Gerhard Beier: Die Wiederentdeckung der Gewerkschaftsgeschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung 'Das Parlament', B 41/1979 v. 13.10. 1979 Peter von Oertzen: Thesen. In: Frankfurter Rundschau vom 11.4.1979 Manfred Scharrer: Zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung. In: Neue Gesellschaft 10/1979 Kontext:
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