Den Aufsatz kommentieren Solidarität und Klassenkampf?Von Pfründen, Steuergeschenken und PlünderungenJurgis Rudkus Unter Millionären und Milliardären ist es in den letzten Jahren fast zu einer Mode geworden, großzügig mit dem eigenen Vermögen gemeinnützige Zwecke zu fördern. In Frankreich scheint sich dergestalt gar eine stille Revolution zu ereignen. Sechzehn wohlhabende Persönlichkeiten haben dort im August 2011 in einer Petition an die französische Regierung angeregt, Individuen mit einem Jahreseinkommen von 500.000 Euro oder mehr einen "außergewöhnlichen Beitrag zur Überwindung der Krise" von 3% ihres zu versteuernden Einkommens leisten zu lassen, bis Frankreichs Staatsverschuldung auf 3% des BIP gesunken sei. Daneben sieht ihr Rettungskonzept vor, die Steuern für Alkohol und Tabak zu erhöhen sowie die Kapitalertragssteuer auf Immobilien zu revidieren.[1] Solch ein großzügiges Steuerangebot lässt aufhorchen, soll das Füllhorn hier doch bedingungslos in die staatliche Kasse gelehrt werden, die es nach staatlichen Maximen und damit, zumindest theoretisch, nach dem Gemeinwohl, also gerade nicht nach den Präferenzen einer Privatperson, verteilt. Eines der klassischen Argumente gegen die Philanthropie, sie würde keine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums sein, da die Ausgaben von der Willkür und den Prioritäten Einzelner abhingen, greift hier dementsprechend nicht. Im britischen Guardian wurde denn auch anerkennend getitelt: "Indem sie freiwillig anbieten mehr Steuern zu zahlen, haben die 'patriotischen Millionäre' ein dringend nötiges Zeichen der Solidarität gesetzt". Umgehend wurden die Spendierhosen tragenden Dagobert Ducks, entsprechend dem Motto "Einer für alle, alle für Einen", zu Steuer-Musketieren gekürt. Man ging sogar soweit, parallelen zu Millionären in der europäischen Geschichte anzudeuten, die engen Kontakt zu sozialistischen und kommunistischen Parteien pflegten.[2] Wahrscheinlicher als links-radikale Parteiprogramme zu verfolgen ist allerdings, dass die reichen Französinnen und Franzosen mit ihrem Aufruf dem Beispiel des US-amerikanischen Unternehmers Warren Edward Buffett gefolgt sind. Der milliardenschwere Großinvestor zählt zu den Reichsten der Welt und ist neben Microsofts Bill Gates einer der Gründer des Philanthropie-Großunternehmens "The Giving Pledge", in dem sich die teilnehmenden Personen dazu verpflichten, einen Großteil ihres Vermögens für gemeinnützige Zwecke zu spenden. Kurz vor Veröffentlichung des Briefes der französischen Magnaten forderte Buffett in der New York Times, die Superreichen nicht weiter zu "verhätscheln", sondern allen US-amerikanischen Haushalten mit einem Jahreseinkommen von mehr als einer Million Dollar deutlich höhere Steuern abzuknöpfen – die Millionäre und Milliardäre würden auch ihren Anteil zur Überwindung der Krise leisten wollen. Buffett zeichnet dabei in seinem Aufruf ein Bild der Ober-Oberschicht, in dem sie es satt hat, ständig hofiert und bevorzugt zu werden. "Wir [Buffett und seine megareichen Freunde, Anm. d. Verf.] werden mit Geschenken überhäuft von Gesetzgebern in Washington, die sich verpflichtet fühlen uns zu beschützen, fast so als seien wir Fleckenkäuze oder irgendeine andere vom Aussterben bedrohte Spezies", so Buffett in seinem Aufruf, und er mahnt, dass er und seine megareichen Freunde "lang genug von einem Milliardär-freundlichen Kongress verhätschelt worden sind". Denn während "Arme und die Mittelklasse für uns in Afghanistan kämpfen, und während die meisten Amerikaner sich abmühen über die Runden zu kommen, erhalten wir Mega-Reichen weiterhin unsere außerordentlichen Steuererleichterungen." Dabei würden die meisten von ihnen "nichts dagegen haben, auch mehr Steuern abgenommen zu bekommen, vor allem wenn so viele ihrer Mitbürger wirklich leiden." Zurück führt Buffett diese Schonung auf die Vorstellung, dass hohe Steuerausgaben Großkapitalisten von weiteren Investitionen abschrecken würden, mit dem Resultat, dass die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert würde. Dem hält er entgegen, dass zwischen 1980 und 2000, einer Zeit, in der Spitzensteuersätze und Kapitalertragssteuer signifikant gesunken seien, 40 Millionen Jobs abgebaut wurden. Buffett untermauert seine These mit der Versicherung, dass er niemanden kenne, den mögliche Steuerzahlungen vor Kapitalgewinnen zurückschrecken lassen würden: "Menschen investieren um Geld zu machen, und potentielle Steuern haben dabei noch niemanden abgeschreckt."[3] Buffetts Artikel ist eine Solidaritätserklärung an die Mittel- und Unterschicht Amerikas – die ihr ganz nebenbei Anerkennung dafür zollt, dass sie für angeblich kollektive Interessen auf US-amerikanischen Kriegsschauplätzen kämpft und stirbt –, und gleichzeitig ein Appell, der den Schwarzen Peter, dass er und seine Millardärs-Freunde sich bisher nicht wenigstens an den finanziellen Opfern beteiligt hätten, den politischen Eliten in Washington zuschiebt. Nicht unverhältnismäßiger privater Reichtum ist demnach das Problem, sondern dass Reiche gehindert würden, ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand beizutragen; nicht Klassen blockieren Solidarität, sondern staatliche Institutionen. Folgt man Buffett und Co, so will es fasst scheinen, als stünde eine Zeitenwende an. Doch selbst mit ein wenig Skepsis ausgerüstet könnte man immer noch meinen, dass wenigstens Teile der Schicht der Superreichen in den USA und Frankreich sich endlich an die Seite der Habenichtse stellten und einer schamlosen Klientelpolitik ins Gewissen reden würden. In scharfem Kontrast zu derlei Solidaritätsbekundungen stehen allerdings die Reaktionen auf die im August tobenden "London Riots". In der Nacht vom sechsten auf den siebten August, knapp zwei Wochen vor der Veröffentlichung von Buffetts Artikel und drei Wochen vor dem französischen Brief im Le nouvel Observateur[4], brachen in London großflächige Massenunruhen aus, die drei Nächte andauerten und auch auf andere englische Städte übergriffen. Sie entzündeten sich am Tod Mark Duggans aus, der während seiner Festnahme von einem Polizisten erschossen wurde. Behauptungen, der Polizeibeamte hätte geschossen nachdem Duggan auf ihn gefeuert hätte, stellten sich später als falsch heraus[5]. Die dubiosen Umstände und eine zurückhaltende Informationspolitik der Polizei im Zusammenhang mit dem Vorfall gaben Anlass zu einer Demonstration, in der Informationen über die Umstände des Vorfalls eingefordert wurden. Die Proteste entwickelten sich jedoch schnell zu einem Plünderungs- und Verwüstungsfeldzug durch sozial prekäre Stadtteile Londons und andernorts, die keinen direkten Zusammenhang mehr mit dem Fall Duggan erkennen ließen. Aktiv waren dabei primär Jugendliche der Viertel. Die plötzliche Heftigkeit schockierten weit über die Stadtgrenzen hinaus. Der britische Premierminister David Cameron ging hart mit den "Missetätern" ins Gericht: "Dieses Verhalten ist Kriminalität, schlicht und einfach. Man muss ihm entgegentreten und es niederschlagen."[6] Garry Shewan, stellvertretender Polizeipräsident von Manchester, sprach gar von "schlichter Gesetzlosigkeit". Für ihn war die Sache klar: "Wir wollen es absolut klar machen – sie [die Demonstranten und Plünderer, Anm. d. Verf.] haben nichts, wogegen sie protestieren könnten. Es gibt nichts im Sinne einer Ungerechtigkeit und es gab keinen Funken der hierzu geführt hat."[7] Als Ursachen für das Verhalten der Plünderer wurden zumeist mangelnde Aufsicht und eine fehlgeschlagene Erziehung durch das Elternhaus, fehlende Bereitschaft einer ehrlichen Arbeit nachzugehen und die Erwartung nach schnellem Reichtum sowie Langeweile und die pure Lust am Chaos ausgemacht. Ed Miliband, Vorsitzender der britischen Labour-Partei, erkannte zwar an, dass es "verschiedene Ansichten über die komplexen Ursachen für das, was geschehen ist" gebe. Doch auch er stellte klar, dass "es keine Entschuldigungen hierfür gibt".[8] Die Sachlage schien erdrückend eindeutig. Cameron machte dementsprechend deutlich, dass man solcherlei Ungehorsam nicht duldet und entschlossen sei, ein Exempel zu statuieren: "Wir werden sicherstellen, dass gerichtliche Verfahrensweisen und Gerichtsverfahren beschleunigt werden und die Menschen können mit mehr, viel mehr Verhaftungen in den kommenden Tagen rechnen. Ich bin entschlossen, die Regierung ist fest entschlossen Gerechtigkeit walten zu lassen und diese Menschen werden die Konsequenzen ihres Verhaltens spüren."[9] Anstatt auf Deeskalation, Dialog, Ursachenforschung und -behebung setzte man auf die starke Hand des Polizeiapparates. Cameron erklärte, es sei "ganz klar, dass wir mehr, viel mehr Polizei in unseren Strassen benötigen, und wir brauchen noch mehr entschiedeneres polizeiliches Vorgehen. … Und ich habe diese deutliche Botschaft für die, die für dieses Fehlverhalten und die Kriminalität verantwortlich sind. Ihr werdet die volle Wucht des Gesetzes spüren. Und wenn ihr alt genug seit diese Verbrechen zu begehen, dann seit ihr alt genug für die Bestrafung."[10] Die Selbstgewissheit, Selbstverständlichkeit, schonungslose Härte und Rigorosität mit der die Straftäter abgeurteilt wurden, ist bestechend. Es wurde kein Zweifel daran gelassen, dass es sich bei den aufbegehrenden Jugendlichen um eine außer Rand und Band geratene Horde Gelegenheitskrimineller handele, denen juristisch und durch polizeiliche Härte die Leviten zu lesen seien. Ein besorgniserregendes Demokratieverständnis äußerte sich dabei nicht nur in moralischer Hinsicht, sondern auch formal-juristisch: innerhalb der ersten zwei Wochen gab es bereits über 1000 Verurteilungen.[11] Gerichtsverfahren schienen der Strafverfolgung eher im Wege zu stehen, immerhin werde die Schuldigkeit vom gesunden Menschenverstand nahegelegt – die Justiz muss dem Urteil lediglich die Rechtskräftigkeit verleihen. So bemerkte der Polizeibeamte Stephen Kavanagh, dass "einige Plünderer fort gebracht wurden bevor sie irgendetwas tun konnten, aber es war dieses vereinte Vorgehen [zwischen Community Leadern und der Polizei, Anm. d. Verf.], dass den Unterschied gemacht hat."[12] Das, technisch betrachtet, die "Plünderer" damit gar keine waren, schien ihn nicht zu stören. Die British Metropolitan Police geht gar soweit, eine Fotogalerie von im Zusammenhang mit den Ausschreitungen Verurteilten im Internet zu veröffentlichen, samt Namen, Geburtsdaten und Adressen[13]. Dies geschehe, "damit Gemeinschaften überall in London sehen können, dass diejenigen, die an den abstoßenden Szenen, die uns alle geschockt haben, teilgenommen haben, zur Rechenschaft gezogen worden sind. Ich will eine klare Botschaft an die Involvierten senden: Ihr werdet nicht davon kommen." (Commander Simon Foy)[14] Solch öffentliches Zur-Schau-Stellen, Brandmarken und Erniedrigen von Verurteilten erscheint in einem demokratischen Rechtsstaat hochgradig zweifelhaft. Es verstört umso mehr, vergegenwärtigt man sich die derzeitige Situation in Syrien. Freilich ist London nicht Damaskus, Cameron kein Assad und es wäre fatal die gesellschaftlichen Umstände oder die Härte der Reaktionen hier nebeneinander zu stellen. Jegliche Beschwörung eines harten staatlichen Durchgreifens, gepaart mit einer gewissen Arroganz im Recht zu sein verstärkt vor dem Hintergrund der Ereignisse in Syrien aber zumindest das Unbehagen. Die unverhältnismäßig autoritäre Härte gegenüber den Delinquenten berücksichtigend sollte man sich denn auch hüten, die Ausschreitungen in Tottenham und anderen sozial prekären Stadtvierteln vorschnell als Exzesse gelangweilter und egomanischer Jugendhorden ohne jegliche politische Legitimation abzuurteilen, nur weil die Ausschreitungen politische Parolen vermissen ließen und auf Plünderungen und (mutwillige) Zerstörungen hinausliefen. Protest, ob bewusster oder unbewusster, kann sich in vielerlei Form Bahn brechen. Wie der Großteil von uns sind diese Jugendlichen darauf angewiesen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und mehr oder weniger ausgiebig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Die systemimmanente Ausbeutung wäre bereits genug Anlass zum Protest. Immer häufiger wird ihnen jedoch nicht einmal mehr die Möglichkeit gegeben, ihre Arbeitskraft überhaupt noch zu verkaufen, um so wenigstens einen geringen Lohn zu erhalten. Als Arbeitskräfte sind sie häufig schlicht überflüssig, als wenn auch noch so gering-potente Konsumenten werden sie dennoch umworben. Tagtäglich wird ihnen der gesellschaftliche Reichtum in Form einer an Gütern überbordenden Schaufensterauslage vorgeführt und über Werbungen der Besitz von (teuren) Waren angepriesen. Die Teilhabe an diesem Reichtum enthält die kapitalistische Organisation sozialer, gesellschaftlicher Verhältnisse ihnen aber eben dadurch vor, das sie ihre Arbeitskraft nicht für entsprechenden Lohn verkaufen können. In der spontanen, exzessiven Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, wie er in der Plünderung von Geschäften geschah, schwemmen der verordnete Verzicht auf Teilnahme am gesellschaftlichen Prozess und die blanke Chancenlosigkeit der Jugendlichen eruptiv an die Oberfläche.[15] Dass sie ihren Protest dabei nicht anders als durch die Verwüstung des eigenen Lebensumfeldes vorbringen, in ordentlich politisch organisierter, artikulierter Weise etwa, ist dabei nicht dem Fehlen einer Agenda oder dem vielbeschworenen Werteverfall geschuldet, sondern ist selbst bereits Folge ihrer systematisch sich reproduzierenden sozialen Stellung und den Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, die diese ihnen bereithält. Besonders geschmacklos ist in diesem Zusammenhang im Übrigen, hartes Durchgreifen damit zu rechtfertigen, dass die Exzesse die sich nicht an ihnen beteiligende Mehrheit in den betroffenen Vierteln träfe und man unbedingt deren Sicherheit gewährleisten müsse – statt Anteil zu nehmen an dem durch die Zerstörung ihres Lebensumfelds entstandenen Leid, wird belohnt, dass sie sich nicht gegen ihre durch die soziale Ordnung perpetuierte Benachteiligung erhoben haben. Tatsächlich werden die wahren Zusammenhänge verschleiert und die stillhaltende Mehrheit wird als tragische Opfer und Kronzeugen für die Kriminalisierung der Täter instrumentalisiert. Zu den Steuerinitiativen zurückkehrend ist nun aufschlussreich, dass sich Buffett und Co mit dem Teil der unteren Klassen solidarisieren, der mehr oder weniger bereitwillig etwa den Krieg in Afghanistan und damit die Interessen des Kapitals trägt, also die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse unangetastet lässt, während in London der Teil die staatliche Macht zu spüren bekommt, der ansetzt, sich seinen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zu holen, und damit, bewusst oder unbewusst, die sozialen Verhältnisse herausfordert. Entsprechend zielt das Angebot der dukatenschweren Gönner/innen denn auch nicht auf eine Veränderung – eine gerechte Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums – ab, sondern auf eine Stabilisierung der gegenwärtigen sozial-ökonomischen Verhältnisse. Die Solidaritätsbekundungen der Superreichen nun aber aufgrund zeitlicher Nähe als direkte, beschwichtigende Reaktion auf die Ausschreitungen zu deuten, um einem internationalen Flächenbrand den Wind aus den Segeln zu nehmen scheint mir zu simpel. Zwar beinhalten sie zweifellos derlei klassenkämpferisches Potential. Allerdings beinhalten die Initiativen Implikationen, die vermuten lassen, dass es sich um mehr als Beschwichtigungsversuche handelt. Dass die westlichen Staaten zunehmend in finanzielle Bedrängnis geraten, ist kein Geheimnis. Das Großkapital kann hingegen nicht auf die Armut abfedernde und finanzielle wie logistische Infrastruktur zur Verfügung stellende Funktion des Staates verzichten. Angeboten wird von den Magnaten nun zeitlich begrenzt privates Kapitel zur Gegenfinanzierung der Krise. Ein Einsatz privaten Vermögens beeinträchtigt dabei weder den Wert noch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Zudem lässt sich durch die Darstellung des Angebots als großzügige Tat die zeitliche Beschränkung der Steuererhöhung einfacher durchsetzen. So werden gesetzlich verankerte, langfristige Erhöhungen von Unternehmenssteuern durch die kurzfristige Aufwendung eines Bruchteils des privaten Vermögens abgewendet. Im Falle der französischen 'Musketiere' lässt sich noch ein spezifisch europäischer Faktor ausmachen. Angefangen beim Bankrott Islands und dem Absturz des keltischen Tigers Irland, über Griechenland bis hin zu Italien: die Eurozone ist seit geraumer Zeit in ökonomischer wie politischer Bedrängnis. Europäische Unternehmen, und nicht zuletzt auch die den Unterzeichnenden gehörenden und überantworteten, haben massiv von der europäisch koordinierten Wirtschaftspolitik und Einführung des Euros profitiert. Eine kurzfristige Finanzspritze in den Staatshaushalt vergrößert auch hier langfristig die Chancen, den Euro und die Eurozone zu stabilisieren, um auch weiterhin europäische Gewinne zu sichern. Gleichzeitig fungieren die Angebote aber auch als effektive Kampagne, das eigene Image im Blick der Bevölkerung aufzubessern. Dabei wird dem Glauben an "gute" und "schlechte" Kapitalisten Vorschub geleistet und sich von den in der Öffentlichkeit in Verruf geratenen "Turbokapitalisten" abgegrenzt. So wird sich ein Wettbewerbsvorteil vor den "schlechten Kapitalisten" gesichert, der ganz nebenbei auch noch Widerstandspotentiale hemmt oder ablenkt, indem Öl ins Feuer des Märchens vom guten Kapitalismus geschüttet wird. Und schließlich werden hierdurch die herrschenden, neoliberalen politischen Kräfte gestärkt. Welcher Regierungschef kann sich schon damit brüsten, Reiche zur Kasse gebeten zu haben? Während Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy vorerst auf die Finanztransaktionssteuer setzt, ist US-Präsident und ehemaliger bürgerlicher Hoffnungsträger Barrack Obama mit der Ankündigung seiner "Buffettsteuer" bereitwillig auf das Angebot eingegangen. Der volkswirtschaftliche Nutzen solcher Steuererhöhungen wird von Ökonomen allerdings bezweifelt, würden dabei doch gerade einmal 0,3 Prozent der Bevölkerung zur Kasse gebeten. Das Gesamtvolumen taugt wohl kaum dazu, die Staatsfinanzen zu sanieren.[16] Zumal nach Buffetts Forderungen der Spitzensteuersatz lediglich auf Niveau der Reagan-Ära angehoben würde[17]. Von einem sozialen Ausgleich kann also kaum die Rede sein. Letztendlich sollen hiermit wohl eher die augenscheinlichsten Ungerechtigkeiten im Steuersystem verschleiert werden, in der Aufwärmphase für den Präsidentschaftswahlkampf ist solch eine Meldung freilich strategisch gut positioniert. Umso mehr stellt sich die Frage, von welchen gesellschaftlichen Entwicklungen die Initiative der Superreichen Ausdruck sein könnte. Ein kursorischer Blick auf die Briefschreiber und –schreiberinnen verweist hier, so meine ich, auf Umbrüche und Macht- sowie Konkurrenzkämpfe innerhalb der kapitalistischen Klasse. Zwölf der sechzehn Unterzeichnenden des französischen Appells haben eine enge Bindung an ihre Unternehmen (davon allein drei an L'Oréal), entweder familiärer Art, durch sich mitunter über mehrere Dekaden erstreckende Arbeitsverhältnisse, oder aber als Firmengründer[18]. Auch Buffett ist seit 1965 in die Firma Berkshire Hathaway involviert, seit 1970 als Vorsitzender und CEO. Diese langfristige und damit enge Anbindung an ein Unternehmen steht in deutlichem Kontrast zu besonders im Zuge der Wirtschaftskrise in die Kritik geratenen Managern und anonymen Kapitalgebern des Kapitalismus neoliberaler Spielart, die die Unternehmen regelmäßig (und unter Ausschüttung großer Abfindungssummen) wechseln. Es könnte nun also sein, dass Unternehmer und eng an einzelne Unternehmen angebundene Manager mehr und mehr unter Druck geraten ihre Stellung zu halten, sich in den Briefen also Kapitalisten zu Wort melden, die sich im Zuge der Neoliberalisierung der Wirtschaft ins Hintertreffen geraten sehen. Warum auch sollte der Neoliberalismus an der Kapitalistenklasse spurlos vorübergegangen sein? Es kündigte sich damit einerseits die Entmündigung von Teilen der kapitalistischen Klasse und eine weitere Konzentration, mindestens jedoch die Umverteilung von Kapital auf andere (respektiv weniger) Individuen und Unternehmen an. Deuteten die Steuerangebote nun aber tatsächlich auf solch eine Ablösung alter kapitalistischer Eliten zugunsten ungebundener Kapitaleigentümer an, so würde dies gleichzeitig auf eine Verschiebung in den Formen der Kapitalorganisation hinweisen. Damit ist eine gesteigerte Ungebundenheit von Kapital an Unternehmen und industrielle Produktionsmittel gemeint, was zum einen seine größere Mobilität nach sich zieht. Zum anderen heißt das jedoch, dass die Kapitalverwertung sich auf noch abstrakterer Ebene realisiert und noch weniger an industrielle Produktionsverhältnisse gebunden ist, sondern Kapital zum primären Produktionsmittel avanciert. Nicht zuletzt tritt in diesen Ereignissen aber auch ein selbstbewusst kapitalistisch auftretender Staat in Erscheinung, der längst mit anderen Akteuren um Kapital konkurriert. Der Staat reduziert dabei immer stärker seine Rolle als sozial-gesellschaftliche Einrichtung und verlegt sich immer mehr und offener auf die Bereitstellung von Dienstleistungen und Infrastruktur für das Großkapital – Bereitstellung von Infrastruktur, Kontrolle und Verwaltung der gesellschaftlichen Arbeitskraft, Armenverwaltung und zunehmend, wie sich an den Ereignissen in England zeigt, die Sicherung der Konsumsphäre. Aus dieser Perspektive statuierte der offen-autoritäre Umgang mit den Ausschreitungen in London dann einerseits zwar ein Exempel, um jedweden Dissens mit den Verhältnissen bereits im Keim zu ersticken. Neben der Funktion eine Warnung an die unteren Klassen abzugeben sollte das Muskelspiel des Staates andererseits aber wohl letztendlich demonstrieren, dass dieser in der Lage ist, die produzierenden und konsumierenden Massen unter Kontrolle zu halten und so das Vertrauen des Kapitals in ihn zu stärken. Die Steuergeschenke hingegen wären als Zeichen an den Staat zu bewerten, um eine mächtige Allianz zu erneuern und sich die Gunst der Staatsmacht vor den neoliberalen Aufstrebenden zu sichern. Weder ist also das großzügige Angebot mehr Steuern zu zahlen ein selbstloser Akt der Solidarität mit den von Existenznöten geplagten unteren Klassen, noch die Unruhen in London ein simpler Akt roher Gewalt und Ausdruck moderner Dekadenz. Ganz im Gegenteil lassen sich hinter dem Schein der Großzügigkeit der geläuterten Dagobert Ducks bei genauerer Betrachtung handfeste, kapital-ökonomische Vorteile für die Steuerangebote identifizieren. Sie könnten sich dabei als vielschichtige strategische Maßnahme alter Eliten entpuppen, um die eigene Stellung in der kapitalistischen Klasse zu halten und zu sichern. Hielten diese Thesen einer detaillierten Analyse stand, ließe sich demnach abschließend kein Weniger an Macht oder eine Bedrängnis des Kapitals feststellen, sondern vielmehr eine weitere Steigerung und Umorganisation der Durchkapitalisierung der Gesellschaft verzeichnen. Dabei wäre einerseits eine Veränderung in der Kapitalerwirtschaftung und -verwertung zu verzeichnen, andererseits ein verändertes Auftreten des Staates. Komplimentiert wird dieser Wandel durch einen richtungslosen, chaotischen, dadurch aber um so eruptiveren Klassenkampf von unten. Die Analyse der Ereignisse verschafft Einblicke in den historisch-spezifischen Stand des Kapitalismus und seiner Klassen- sowie Produktionsverhältnisse, in denen sich sowohl die Macht der von den gegenwärtigen sozialen Verhältnissen profitierenden Klasse ausdrückt als auch ihr ungebrochener Herrschaftsanspruch. Die unreflektiert geäußerte, ungebremste und autoritäre Vehemenz, mit der in England allerdings auf die Auseinandersetzungen reagiert wurde, legt, trotz allem Pessimismus, auch die hochgradige Brisanz von solch spontanen Ausbrüchen für das Kapital offen und, noch bedeutender, die Unzufriedenheit und das Potential der sozial Benachteiligten, Übergangenen und Ausgebeuteten. Anmerkungen[1] http://www.guardian.co.uk/world/2011/aug/24/wealthiest-french-citizens-ask-to-pay-more-tax, abgerufen 03.12.2011; http://www.guardian.co.uk/world/2011/aug/29/tax-us-more-say-wealthy-europeans, abgerufen 03.12.2011 [2] "In volunteering to pay more tax, the ‚patriotic millionaires’ have set a much needed example of solidarity", http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/aug/24/france-tax-patriotic-millionaires, abgerufen 03.12.2011 [3] http://www.nytimes.com/2011/08/15/opinion/stop-coddling-the-super-rich.html, abgerufen 03.12.2011 [4] http://tempsreel.nouvelobs.com/actualite/economie/20110823.OBS8954/exclusif-l-appel-de-tres-riches-francais-taxez-nous.html, abgerufen 03.12.2011 [5] http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/09/mark-duggan-police-ipcc, abgerufen 31.01.2012; http://www.ipcc.gov.uk/news/Pages/pr_090811_dugganupdate.aspx, abgerufen 31.01.2012 [6] "This is criminality, pure and simple, and it has to be confronted and defeated." http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/09/david-cameron-announces-recall-parliament, abgerufen 03.12.2011 [7] "We want to make it absolutely clear -- they have nothing to protest against. There is nothing in a sense of injustice and there has been no spark that has led to this." http://www.huffingtonpost.com/2011/08/10/london-riots-2011-cameron_n_923016.html, abgerufen 03.12.2011 [8] http://www.huffingtonpost.com/2011/08/10/london-riots-2011-cameron_n_923016.html, abgerufen 31.01.2012 [9] "We will make sure that make court procedures and processes are speeded up and people should expect to see more, many more arrests in the days to come. I’m determined, the government is determined that justice will be done and these people will see the consequences of their actions." http://www.euronews.net/2011/08/09/cameron-rioters-will-feel-full-force-of-the-law/, abgerufen 03.12.2011 [10] "… it is quite clear that we need more, much more, police on our streets and we need even more robust police action. … And I have this very clear message for those people who are responsible for this wrongdoing and criminality. You will feel the full force of the law. And if you are old enough to commit these crimes, you are old enough to face the punishment." http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/09/david-cameron-announces-recall-parliament, abgerufen 03.12.2011 [11] http://www.guardian.co.uk/uk/2011/aug/17/london-riots-police-1000-charged, abgerufen 03.12.2011 [12] "Some looters were taken away before they got into doing anything, but it was that joint action that made the difference." Http://www.huffingtonpost.com/2011/08/10/london-riots-2011-cameron_n_923016.html, abgerufen 03.12.2011 [13] Die Galerie der Operation Withern ('austrocknen') ist auf Flickr einsehbar: http://www.flickr.com/photos/metropolitanpolice/sets/, abgerufen 03.12.2011 [14] "… so that communities across London can see that those who took part in the appalling scenes which shocked us all have been brought to justice. I want to send a clear message to those involved that you will not get away with it." http://www.independent.co.uk/news/uk/crime/warning-after-2000-held-over-london-riots-2343747.html, abgerufen 03.12.2011 [15] Die auf Interviews mit beteiligten Jugendlichen beruhende Studie "The August riots in England„ (National Centre for Social Research) macht als eine der Hauptmotivationen der Unruhen „die Aufregung, freies Zeug zu bekommen – Dinge, die sie ansonsten nicht in der Lage wären zu haben" ("the thrill of getting free stuff – things they wouldn’t otherwise be able to have") aus. http://www.natcen.ac.uk/media/769715/the%20august%20riots%20in%20england%20summary.pdf, abgerufen 03.12.2011 [16] http://american.com/archive/2011/august/obamasfollytaxingtherich, abgerufen 31.01.2012; http://www.stern.de/politik/ausland/haushaltsdefizit-in-den-usa-obamas-will-mit-Buffett-steuer-millionaere-zur-kasse-bitten-1729103.html, abgerufen 31.01.2012; http://www.huffingtonpost.com/2011/09/19/obama-deficit-plan-buffet-rule-taxes-medicare_n_969403.html, abgerufen 31.01.2012 [17] Ehrman, J. & Flamm M.W. (2009): Debating the Reagan presidency, Maryland: Rowman&Littlefield, 34 [18] Unternehmenszugehörigkeiten einiger Unterzeichner/innen: JEAN-PAUL AGON, seit 1978 für L’Oréal tätig, seit 2006 als CEO und 2011 als Vorsitzender; LILIANE BETTENCOURT, Hauptanteilseigner an L’Oréal und Tochter des Firmengründers; MARC LADREIT DE LACHARRIÈRE, seit 1976-91 für L’Oréal tätig, 1984-91 als Vize-Präsident und Geschäftsführer, 1991 dann Gründung der Firma Fimalac sowie Administrator der Casino Gruppe, zu der auch L’Oréal gehört; MAURICE LÉVY, seit 1971 für Publicis tätig, seit 1987 als CEO; CHRISTOPH DE MARGERIE, Sohn der Champagner-Dynastie Taittinger, seit 1974 für Total tätig, seit 2007 als CEO; FRANCK RIBOUD, folgte seinem Vater und Gründer des später in der Danone Gruppe aufgegangenen Unternehmens Boussois-Souchon-Neuvesel Antoine Riboud 1996 als Vorsitzender und CEO der Gruppe; LOUIS SCHWEITZER, seit 1986 für Renault tätig, 1992-2005 Vorstandsvorsitzender, 2005 Wechsel in den Verwaltungsrat und dessen Vorsitz; JEAN-CYRIL SPINETTA, ab 1980 Vorsitzender und CEO bei Air Inter, die 1990 mit Spinetta zunächst Teil der Air France Gruppe wurde und 1997 schließlich in Air France aufging, von der Spinetta Vorsitzender und CEO wurde, seit 2003 Vorsitzender und CEO der AF-KLM Gruppe
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