Den Aufsatz kommentieren Lizenz zum WeitermachenBei der WTO-Ministerkonferenz siegte die Freihandelsdoktrinvon Christa Wichterich Freude wollte nicht aufkommen, als Mitte Dezember in Hongkong die Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO) nach sechs zähen Tagen mit der Einigung auf eine Abschlußerklärung endete. Kein Land und keine Verhandlungsgruppe waren so recht zufrieden mit dem ausgehandelten Deal, niemand hatte seine Interessen voll durchsetzen können. Und doch gab es einen Gewinner: die WTO. Sie wurde als Institution bestätigt, die die neoliberale Globalisierung durch multilaterale Regelsysteme und Verrechtlichung vorantreibt. Nach den Drohszenarien bei der WTO in Genf und der demonstrativen Senkung von Erwartungen im Vorfeld stand die Konferenz in Hongkong unter einem hohen Erfolgsdruck (siehe iz3w 289). Der Anspruch "make the process move forward" wurde zum Ziel an sich, dem sich niemand offen in den Weg zu stellen wagte. Nicht Entwicklungsziele, nicht der Ausgleich von asymmetrischen Handelsstrukturen, wie in Doha 2001 versprochen, waren die Leitorientierungen der Verhandlungen. Vielmehr herrschte die Logik des Aufrechnens - "was bekommen wir im Agrarsektor, wenn wir bei den Industriegütern nachgeben". Der Konsens von Hongkong bestand darin, daß sich alle Beteiligten auf die magische Formel der Marktliberalisierung als Türöffner für Entwicklung, Wachstum und Wohlstand einließen. Der Kompromiß von Hongkong ist somit eine Niederlage für jene globalisierungskritischen Kräfte, die auf eine Demontage der WTO als undemokratische Institution durch ein erneutes Platzen der Verhandlungen gehofft hatten. Hongkong erteilte allen Positionen wie "WTO entgleisen lassen" und "kein Deal ist besser als ein schlechter Deal" eine Abfuhr, obwohl gerade sie das öffentliche Bewußtsein darauf aufmerksam gemacht hatten, daß das neoliberale Modell weder automatisch Wachstum und Wohlstand schafft noch Armut beseitigt. Wie war das möglich? Das Verhandlungsszenario von Hongkong war zum einen durch eine fortschreitende Interessenfragmentierung des Südens und des Nordens gekennzeichnet, zum anderen durch ein Neuvermessen von Macht auf wirtschaftspolitischem Terrain. Der kurze Schulterschluß der G110 (ein Bündnis der Entwicklungs- und Schwellenländer) in Cancun, der 2003 die dortigen WTO-Verhandlungen noch zum Platzen gebracht hatte, blieb lediglich die Versuchsanordnung einer Einheitsfront. In Hongkong hatte sie keine gemeinsame Grundlage mehr. Die Formation der neuen Führungsquadriga - EU, USA, Indien, Brasilien - steht für das Ende der simplen Nord-Süd-Konfrontation und die nicht mehr umkehrbare Differenzierung des Südens. Die EU und andere Industrienationen nutzten diese Differenzierung in Hongkong, um Spaltungen zu vertiefen, etwa jene zwischen den ärmsten Entwicklungsländern (LDC), denen Sonderregeln und Ausnahmen von der Liberalisierung zugestanden werden, und anderen Entwicklungsländern. Als vertrauensbildende Maßnahme wurde vom Norden ein "Entwicklungspaket" angeboten, das den Ländern des Südens die Liberalisierung erleichtern soll. Zentral ist darin die Umdefinition von Entwicklungshilfe zur Handelshilfe ("aid for trade"). Die EU übernahm die Rolle als Falke der Liberalisierung, vor allem im Dienstleistungssektor, fürsorglich begleitet von einer mächtigen Lobby der Serviceindustrie. Gleichzeitig blockierte sie am heftigsten den überfälligen Abbau von Agrarsubventionen und geriet deshalb selbst unter massiven Druck, auch durch die USA. Die Einigung von Hongkong kam erst zustande, als die EU das Jahr 2013 als Auslauftermin für Exportsubventionen akzeptierte. Im Gegenzug ließen sich auch die schwächeren Länder des Südens trotz ihrer Furcht vor dem Auskonkurrieren einheimischer Industrien auf die "Schweizer Formel" für Zollsenkung bei nicht-agrarischen Gütern (inklusive Wald- und Fischprodukten) ein, die die höchsten Schutzzölle am stärksten reduziert, und stimmten ebenfalls der verschärften Liberalisierung des Dienstleistungssektors zu. Die heftigen Auseinandersetzungen in Hongkong um den Anhang des GATS (Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen) zeigen exemplarisch, daß es bei den multilateralen Abkommen nicht zuletzt um eine Regulierung der politischen Handlungsspielräume der einzelnen Regierungen geht. Durch die Einführung von "plurilateralen" Verhandlungsmethoden für die Liberalisierung von Dienstleistungen mit einem festen Zeitplan initiierte die EU einen Paradigmenwechsel im GATS. Statt flexibler, freiwilliger Marktöffnung wird nun auf Mindeststandards, sprich Liberalisierungsverpflichtungen gebaut. Erzwungene Marktöffnung aber verhindert andere Entwicklungswege und Wirtschaftspolitiken. Sie macht aus der Rede von der Alternativlosigkeit eine wirtschaftspolitische Realität. Ob schlicht erpreßt durch die mächtigen Geberländer und den Druck transnationaler Konzerne oder geleitet von der Hoffnung auf Teilhabe am großen Kuchen, ob aus Furcht, daß in bilateralen Abkommen das Machtgefälle zwischen den Verhandelnden noch stärker zu Buche schlagen würde, oder im Glauben auf Nachbesserungschancen bei den Folgeverhandlungen in Genf - jedenfalls verstummten die meisten Gegenstimmen, und es kam zur Einigung auf den Fahrplan zur progressiven Liberalisierung. Dieses Bekenntnis zum Multilateralismus hat der WTO neue Legitimation verschafft. Durch die neue Machtkonstellation ist sie nun vielleicht weniger vom Norden dominiert, aber nicht demokratischer, ausgewogener und fairer in ihren Verhandlungsmodi und Regeln geworden. An ihrer Ignoranz gegenüber anderen multilateralen Regelsystemen, wie den UN-Konventionen zu Menschenrechten und zur Biodiversität oder den Arbeitsschutzkonventionen der ILO, hat sich kaum etwas geändert. Schwache Länder und schwache Wirtschaftsakteure wie die Kleinbauern, Fischer und Gewerkschaften, die Kleinhändlerinnen und Migrantinnen, die in den Straßen von Hongkong demonstrierten, sind und bleiben im Abseits. Die 149 Mitgliedsländer gaben der WTO eine Lizenz zum Weitermachen. Zwei Reaktionen auf die Abschlußerklärung von Hongkong veranschaulichen die Richtung, in die die Weichen gestellt wurden. Den Handelsminister von Mauritius überkam "Verzweiflung". Er ist Koordinator der G 90, der kleineren und ärmeren Gruppe von Entwicklungsländern. Wirtschaftsminister Michael Glos als Vertreter des Exportweltmeisters Deutschland fühlte sich hingegen ermutigt, bei den Folgeverhandlungen "die Marktöffnungsinteressen unserer Industrie mit allem Nachdruck" voranzubringen. Christa Wichterich ist freie Publizistin und Gutachterin in der Entwicklungszusammenarbeit. Kontext:
sopos 3/2006 | |||
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