Euer Arbeitsprogramm hat gegen Ende eine ziemliche Irritation bei mir ausgelöst. Eurem Plädoyer für Vielfalt stimme ich vorbehaltlos zu, (auch wenn man die Freiheit des Andersdenkenden nicht zweimal betonen muß (II,3 und II,5)) Auch die Diagnose eines Mangels an Proletariat leuchtet mir ein. Interessant finde ich Eure Überlegungen zu den Folgen der fortschreitenden Schließung des Weltmarktes für die Lohnarbeit. Wobei Euch wohl in Absatz V,1 ein Fehler unterlaufen ist, wenn Ihr von dem zukünftig riesigen Ausmaß des Anteils derer, die kontinuierlich Lohnarbeit verrichten, redet; ihr sprecht ja sonst gerade vom Gegenteil. Aber wieso die "Gelegenheit, sich vom Fetisch der Lohnarbeit zu befreien" günstig ist (V,3), leuchtet mir unter diesen Bedingungen gar nicht ein. Sollten die drop outs, um diese moderne Floskel für die Entrechteten, Geknechteten und Verächtlichen zu übernehmen, nicht mit Zuckerbrot und Peitsche bei der Stange gehalten werden können, scheint mir der Rückfall in eine zivilisierte Barbarei viel wahrscheinlicher als die Befreiung von der Lohnarbeit. Hier das Gegenteil zu vermuten, ist doch eher ein Taschenspielertrick nach dem Motto, wo die Not am größten, wächst das Rettende auch. Ich weiss, daß Adorno in den Reflexionen zur Klassentheorie am Ende ebenso argumentiert, wie Ihr im Absatz IV,1. Trotzdem halte ich dieses Konzept für eine opiat-ähnliche religiöse Denkfigur. Ebenso geht es mir mit Euren Überlegungen zum Wissensarbeiter. Den gibt es in dieser Form ohnehin nur in den führenden Industrienationen und auch dort kennzeichnet sich der arbeitslose wie auch der beschäftigte Diplom-Ingenieur in der Regel nicht durch besondere gesellschaftskritische Attitüden oder auch nur durch einen Überblick über den Produktionsprozeß. Dem dient erstens die Ausbildung zum Biotechnologen nicht, zweitens ist er in aller Regel auch kein Drop out und drittens greift er in seiner "kreativen Muße" eher auf die Angebote der Kulturindustrie zurück als den Fetisch der Lohnarbeit zu durchschauen. Ich sehe da kein Indiz für eine "neue Klasse für sich" (V,7) sondern höchstens vereinzelte Individuen, die nach einer Nische suchen. So wie wir. Daß es darum ginge "das Leben weitgehend ohne Lohnarbeit für sich zu entdecken und existenzgesicherte Freiräume jenseits der Lohnarbeit zu schaffen" (V,7) ist für jeden einzelnen von uns wahr. Aber an dem Problem der Existenzsicherung führt doch kein Weg vorbei, es sei denn, man versteht allein die Lottokönige, die Erben und die Stipendiaten als revolutionäre Klasse. Da sehe ich auch weder auf Seiten des Staates (Sozialpolitik) noch auf Seiten der Individuen eine Tendenz zur Entzauberung des Fetisches Arbeit, sondern im Gegenteil eine wachsende Bereitschaft zur Selbstausbeutung. Um das Leben in der existenzgesicherten Nischen zum politischen Programm zu erheben, scheint es mir doch eine zu private Lösungs- besser gesagt Kompromißformel zu sein.
1. Zu dem in eurem Pkt. I Dargelegten kann ich euch nur zustimmen. Das gilt bis in Abschnitt II., endet aber an der Stelle, wo ihr ohne Hinweise oder gar Beweise die Behauptung aufstellt, das Scheitern der Arbeiterklasse zur Macht zu gelangen sei "vorhersehbar" gewesen: "Dass dieser Versuch scheitern musste, war schon im Verlauf der Russischen Revolution von 1917 absehbar." Mit nachträglichen Weissagungen ist das so eine Sache. Nicht nur ihr Wert ist zweifelhaft, besser unersichtlich, sie geben auch Anlass über die Deutungsabsichten und Beweggründe der Verfasser zu spekulieren, was ich mir verkneifen will.
Was bitte ist ein "Produktionszusammenhang kritischerTheorie"? Klingt bedeutend, doch was bitte hat eine Theorie mit "Produktion" zu tun? Klingt etwa so, als wolle man die Realität als Verdoppelung in der Theorie nochmals produzieren. Das würde nichts nützen.
Das mehrfach von euch zitierte liberale Luxemburg-Wort über die Freiheit des Andersdenkenden will ich hier nicht "bierernst" verreißen, doch es stimmt eben nicht mehr, wenn darunter auch die Freiheit verstanden wird Nazipropaganda, Rassismus und Antisemitismus zu verbreiten. Von diesem Teil der gesellschaftlichen Realität kann nach Auschwitz nicht mehr wegabstrahiert werden.
Warum ist der Sozialismus eine "negative Utopie"? Müsste er nicht ein positives Ziel sein? Wenn er eine negative Utopie für die Studierstube bleibt, dann sitzt die Bourgeoisie sicher und lacht sich ins Fäustchen ob dieser Sozialisten und SozialistInnen. Utopia ist so fern und so irreal wie das christlich ersonnene Jenseits, es bleibt eine Vorstellungswelt.
Wenn ihr das Subjekt der revolutionären Veränderung, das Proletariat, negiert ohne ein neues zu benennen, so ist es natürlich nur konsequent, wenn ihr das Ziel der Veränderung nach Utopia verlegt, denn ohne Subjekt gibt es keine Veränderung.
Kommunismus nicht Sozialismus
2. Am Ende des Abschnitts II. zitiert ihr Marx unkorrekt. Ihr schreibt, dass es in der "Deutschen Ideologie" heißt, Sozialismus sei die "wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. ..." Bei Marx und Engels heißt es aber nicht Sozialismus, sondern Kommunismus. Das ist ein nicht unwesentlicher Unterschied. Als Kommunismus bezeichnen die Klassiker die reale Bewegung der Menschen, die für die Aufhebung des Kapitalismus und des Privateigentums kämpfen. Der Sozialismus dagegen ist eine Gesellschaftsform des Übergangs zur kommunistischen, klassenlosen Gesellschaft.
In den Offenen Kommunistischen Foren (OKF) spielt dieser Gedanke in wichtige, konstitutionierende Rolle, deshalb ist mir das Zitat sehr geläufig und euer Fehler ist mir gleich aufgefallen. Erläuternd möchte ich hierzu auf die "Gemeinsame Erklärung des bundesweiten Treffens der OKF" vom Juli 1999 hinweisen, die auf der Homepage der OKF nachgelesen werden kann.
Materialismus nicht "Ideologiekritik"
3. Unter III. bezieht ihr euch auf Marx, der die Notwendigkeit der Wissenschaft damit begründete, dass in der idealistisch geprägten bürgerlichen Gesellschaft Wesen und Erscheinung auseinander klaffen. Nach eurer Lesart sei es die Aufgabe der sog. "Ideologiekritik" sich an der "Rationalität" "abzuarbeiten". Die Rationalität ist aber nichts anderes als die bürgerliche Vernunftideologie, die wohl großteils auf Kant zurückgeht. Die von euch angestrebte "Verschränkung von Wahrem und Unwahrem" produziert nur neue Irrlichter, da sie sich nicht (zu)traut das Wahre vom Falschen zu trennen.
Um zu einem besseren Verständnis von Marx zu gelangen, ist es durchaus unzureichend Hegel als Stichwortgeber aufzurufen. Marx verwarf mit Feuerbach Hegels Idealismus und es war Feuerbach, der der ganzen Hegelei (Engels) mit seiner materialistischen und naturalistischen Erkenntnisweise ein Ende bereitete. Auch wenn Feuerbach die historische Herangehensweise fehlte, was Engels später polemisch kritisierte, so war er es doch, der den Idealismus, die Gläubigkeit, die ganze Spekulation, die mit Hegel ihren Höhepunkt erreichte, entzauberte.
Die menschliche Methode der Erkenntnis ist von Feuerbach klar benannt worden: Der Mensch nimmt seine Umwelt mit seinen Sinnen wahr, die sinnliche Wahrnehmung muss er ernst nehmen, um seine inneren Vorstellungswelten (Götter, Ideologien) zu überwinden und zu sich selbst zu finden. Zu "transzendieren", was ihr empfehlt, ist eine scholastische Methode. Feuerbach hat gerade die mittelalterliche Scholastik, die von katholischen Gelehrten entwickelt wurde, scharf kritisiert, weil sie die Welt vom Begriff her definiert, was auch Hegel noch tut. Der Begriff muss aber von Begreifen, also vom Greifen mit Händen, eben vom sinnlichen Wahrnehmen bestimmt werden, um eine wirkliche Erkenntnis auszudrücken.
Zusammenhänge herzustellen ist eben nicht "transzendieren", was ja bedeutet vom einen in den andern Bereich überzugehen. Damit wird uns aber nicht zu einer materiellen Erkenntnis verholfen, die die Widersprüchlichkeit der Dinge in ihren Zusammenhängen erfassen sollte. Die Vielheit ergibt das Ganze. Die Wahrheit ist immer konkret und die Dinge gilt es zu begreifen und auf den Begriff zu bringen so herum wird eine Erkenntnistheorie draus.
Wohin ist die Bourgeoisie verschwunden? Wohin das Proletariat?
4. Der Abschnitt IV. geht so schön los, auch wenn mir das mit der dem System entzogenen "Lebendigkeit" nur teilweise einleuchtet. Denn der kapitalistische Markt lebt und saugt alle Lebendigkeit, auch als kulturelle Kreativität, in sich auf. (Werbung!) Lebendig ist das schon, aber eben als Funktion des Kapitals.
Schon bei der Lektüre der ersten Abschnitte dachte ich daran, dass ihr wenn ihr das Proletariat verwerft wohl mit Marcuse und seinen "Marginalisierten" spekuliert. Und tatsächlich, ihr tut es! Gorz, der "Abschiednehmer", darf dann natürlich auch nicht fehlen. Doch es scheint eben nur so zu sein, dass die Lohnarbeit "obsolet" wird und die Arbeitsgesellschaft verschwindet. Der Anschein ist aber etwas anders als das Wesen der Erscheinung. Habt ihr schon mal davon gehört, das die Anzahl der Lohnabhängigen real weiter zunimmt? Wo bleibt da bloß die "Transzendenz" der "kritischen Theorie"? Nun, sie ist konvertiert, wie sich zeigt.
Wie behände ihr die Bourgeoisie "verdefiniert" ohne sie ganz wegzudefinieren, das hat was. "Gesellschaft soll nicht auseinanderfallen". Wohl gemerkt nicht die Gesellschaft, sondern Gesellschaft an sich oder was? Wenn sie es aber doch tut, wenn sie zerfällt in Bourgeoisie, Proletariat und Mittelklassen, ja was dann? Wir sollten Marx nicht loben und ihn im nächsten Atemzug für veraltet erklären, schon gar nicht wenn wir das Zerfallen der Gesellschaft sehen, aber seine Klassenanalyse, die dieses Zerfallen erklärt, trotzdem verwerfen.
"Wissensarbeiter" ist auch eine schöne "Ideologieproduktion". Warum sollten sich die Intellektuellen nicht mit der arbeitenden Klasse (Arbeiterklasse im weiteren Sinne) verbünden? Wäre das nicht eine bessere Alternative als auf die Revolte der "Nichtarbeiter" und die "Freiräume jenseits der Lohnarbeit" zu spekulieren. Merkt ihr nicht, dass ihr die Arbeiterklasse im Stich lasst?
Glaubt nicht, dass ich die Veränderungen der Klassengesellschaft negieren würde. Wenn wir darauf zu sprechen kämen, anhand der Realitäten, dann würde ich zuerst über den Sozialstaat und seine Funktionen sprechen aber das will ich nur anfügen.
habe gerade euer Arbeitsprogramm gelesen und möchte euch meine spontanen Gedanken dazu mitteilen, zumal ihr ja zum mittanzen einladet.
Ich finde den Artikel sehr gut und es hat Spaß gemacht ihn zu lesen!
Inhaltlich ist mir nur eine Kleinigkeit aufgefallen. Ihr schreibt: „an die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit...“ Diese Verquickung ist aus meiner Sicht nicht richtig. Denn ab dem Zeitpunkt, ab dem man von ‚national’ reden kann, also für Europa ca ab Ende des 18. Jahrhunderts (z.B. Hobsbawn: Nationen und Nationalismus), kann seit gar Jahrhunderten von lokaler Selbstgenügsamkeit was Rohstoffe und Produktionsprozesse/intern. Arbeitsteilung anbelangt, gar nicht die Rede sein. Das heißt natürlich nicht, dass man die Gewichtung, Ausdifferenzierung und neue Qualität der heutigen Globalisierungsprozesse sehr wohl von denen vergangener Jahrhunderte qualitativ unterscheiden muss.
Ein weiterer spontaner Gedanke war, dass bei eurem Artikel kein Hinweis auf die Rezeption der wallersteinschen Weltsystemtheorie zu finden ist, was mich erstaunt. Das ist eher eine interessierte Frage, ob ihr euch auch mit Wallerstein auseinandergesetzt habt oder nicht.
Was den Begriff Sozialismus anbelangt, liegt die Schwierigkeit darin, dass jede/r darunter etwas anderes versteht (was ja bei anderen Begriffen auch der Fall ist), es aber in diesem speziellen Fall aufgrund der früher existierenden und heute nicht mehr existierenden ‚realsozialistischen’ Staaten sofort damit assoziiert wird. Dadurch fällt es sehr schwer, in Diskussionen überhaupt erst mal aus der ‚Verteidigungsposition’ (was ja windschief ist, da niem
Hab wohl zu viel geschrieben, passte nicht alles. Hier der Rest:
(was ja windschief ist, da niemand (von euch) ernsthaft dem ‚Ostblock’ und seiner Herrschaftsform eine Träne nachweint) heraus zu kommen und sich diesen Schuh, der nicht passt, nicht überstülpen zu lassen. Dies macht es noch erforderlicher, klar zu stellen, was im Konkreten denn mit diesem Begriff gemeint ist, welche gesellschaftliche Vision damit verknüpft ist.
Ihr macht dieses ja in eurem Artikel deutlich und positioniert euch mit der kritischen Theorie etc. Was ich auch sehr gut finde ist, dass ihr klarstellt, dass es nicht um irgendein Dogma geht, sondern um kritische Reflexion – und auch um Ergebnisoffenheit.
Ich halte es dennoch für notwendig, einige Grundsätze für eine gerechtere (Welt-)gesellschaft, welche mit dem Begriff Sozialismus verbunden ist, explizit zu artikulieren, ohne, wie gesagt, auf ein fertiges oder gar dogmatisches Konzept hinaus zu wollen.
Dies wäre eher eine Erweiterung/Konkretisierung eures Programms und gleichzeitig könnte es dazu führen, dass gewisse Totschlagargumente gegen ‚Sozialismus’ ohne inhaltliche Auseinandersetzung ins Leere laufen würden.