Das Interview von Thomas Binger mit Gerhard Scheit macht deutlich, wohin ein Teil der Linken bereits gelangt ist: Unter dem Banner der Bekämpfung des Antisemitismus segelt diese Linke in die Arme von denjenigen, die sie zu bekämpfen vorgibt: Die herrschenden Klassen und ihre Ideologien. So betont Scheit, "daß der Antisemitismus in einer Welt, in der Kapital und Staat herrschen, nicht abgeschafft werden kann". Als Konsequenz daraus folgt allerdings nicht der Kampf gegen den Kapitalismus und für eine libertär-sozialistische Gesellschaft, sondern "die Analyse und den Kampf gegen Erscheinungen, die den Antsemitismus befördern oder verharmlosen". (In den Niederungen der Praxis, das läßt sich an den Auseinandersetzungen an der Uni Hannover ersehen, wird daraus eine Hexenjagd auf alle diejenigen, die die israelische Besatzungspolitik kritisieren, wobei der Vorwurf des Antisemitismus auch gleichzeitig als Beweis gilt. Aber derartige Absichten will ich Gerhard Scheit nicht unterstellen).
Auf einer derartig, gegen den eigenen Anspruch verengten Basis kommt Scheit dahin, die unbedingte Solidarität mit Israel gegen den sich in den palästinensischen Selbstmordattentaten "ausdrückenden antisemitischen Vernichtungswahn" einzufordern, durch die er Israel als Staat "unmittelbar bedroht sieht". Belege für seine Behauptung bleibt Scheit schuldig, stattdessen folgt die Behauptung, man könne sich "auf die Analyse der Propaganda" nicht beschränken und dürfe nicht davon abstrahieren, "in welcher Form diese Ideologie produziert wird". Im Handumdrehen werden aus "Kontinuitäten" vom Nationalsozialismus zum Islamismus "Analogie(n)", wird von der ideologischen Trennung von Finanz- und ´produktivem´ Kapital, wird vom Geldfetisch unmittelbar auf den Antisemitismus geschlossen, ganz so als wäre Hilferding oberster Stichwortgeber der Nazis gewesen etc. - der Kampf gegen die Ideologie des Antisemitismus bei Verzicht auf den Kampf gegen die ihm zugrunde liegenden sozialen Strukturen wird so selbst zur Ideologie und damit in sein Gegenteil verkehrt.
Auf eine Analyse und Durchdringung der konkreten Geschehnisse kann man dann getrost verzichten. Die Etablierung der Autonomiegebiete - als Vorläufer eines möglichen Staates als "antisemitisches Projekt" qualifiziert - scheint im Rückblick dann auch als "Aufbau der Infrastruktur des Suicide Bombing". Die gesamte israelische Politik ist aus diesem Blickwinkel als ein Akt der Notwehr gegen den antisemitischen Wahn der Palästinensischen Gesellschaft zu sehen, ganz so, als habe es nicht friedlichere Zeiten gegeben, als habe die Radikalisierung der verschiedenen palästinensischen Organisationen nicht erst durch die Besatzungspolitik der letzten Jahre einen Schub bekommen. Die Geschichte der PLO, die keineswegs in einer islamistischen, sondern in einer arabisch-nationalistischen Tradition steht, wird geflissentlich ausgeblendet.
Aber Scheit möchte sich lieber auf die "Erfahrungen" beziehen, die "seit den 90er Jahren gemacht werden konnten. Hier wurden ja die Grundlagen, daß die vielen Selbstmordanschläge stattfinden können" gelegt. Von was spricht er da? Vom dem gegen das Abkommen von Oslo forcierten Siedlungsbau, dem Besatzungsterror gegen Zivilisten, die Vernichtung der Existenzgrundlage zehntausender Palästinenser? Offenbar nicht.
Kein Wunder, daß Scheit nicht gescheites für eine Überwindung des Nahost-Konflikts anzubieten hat: "Es geht vor allem darum, die Möglichkeit des Schlimmsten aufzuzeigen". So kommt man zu einer nicht-kapitalistischen Form der Vergesellschaftung ohne Antisemitismus?
Dabei liegt die "Lösung" des Konflikts doch auf der Hand, auch wenn das sicher nicht Scheits Absicht ist: Die dauerhafte Ghettoisierung und Terrorisierung der palästinensischen Bevölkerung, bis die Kraft zum Widerstand, in welch schmutziger Form auch immer, gebrochen ist.Es braucht nicht viel Phantasie, sich auzumahlen, was im Falle des bevorstehenden Irak-Krieges sich für Konflikte innerhalb der Linken abspielen werden: Jeder Kriegsgegner wird zum Antisemiten abgestempelt werden, während umgekehrt jede Bombe auf Bagdad zur Verteidigung Israels umgedeutet werden wird. Sicher ist das auch nicht Scheits Absicht, objektiv befördert er aber solche Positionen.
Die Brüchigkeit der westlichen Zivilisation und damit der ihr innewohnende, latente und manifeste Antisemitismus wird damit nicht mehr problematisiert.
ich will gleich zu meiner Hauptkritik kommen: Warum macht es "angesichts der Zielsetzung der Vernichtungstaten überhaupt keinen analytischen Sinn mehr, noch akademisch zwischen Staat und der israelischen Gesellschaft zu unterscheiden" ? Damit vollziehst Du doch genau das, was Du an den Selbstmordkomandos kritisierst, nämlich die Kostruktion eines homogenen Kollektivs, das es bedigungslos zu bekämpfen oder zu verteidigen gilt. Als Gegenposition verweise ich nochmals auf die Argumentation von Moshe Zuckermann in "Logik der Okkupation".
Die undifferenzierte Betrachtung der palästinensischen Gesellschaft - wenn davon überhaupt noch die Rede sein kann - ist die Kehrseite einer solchen Betrachtung, die die inneren Widersprüche bei den Palästinensern völlig ausblendet. Äußerst wage finde ich in diesem Zusammenhang die Äußerungen Gerhard Scheits zum Begriff "islamischer Faschismus": Einerseits hält er diesen Begriff für "weniger geeignet, die Kontinuitäten zu bestimmen, die vom Nationalsozialismus zum politischen Islamismus führen". Auf die Nachfrage von Binger, ob "es denn eine direkte Linie vom Nationalsozialismus zum Islamismus" gebe, antwortet Scheit, die Verbindungslinien könne man "in der Analyse der Ideologien herausarbeiten". Weiter unten ist dann davon die Rede, daß die "Analogie zwischen Nationalsozialismus und politischem Islamismus" zu kurz greife.
Muß man solchen Ausführungen folgen? Das ganze läuft im Kern auf eine simple These hinaus: Es gebe einen unbedingten, unabhängig von allen konkreten historischen Bedingungen existierenden Vernichtungswahn der Palästinenser, der nur durch militärische Macht bekämpft werden kann - über Menschenrechtsverletzungen kann man dabei getrost hinweggehen.
Dennoch gab es immer wieder Versuche, zu einem Interessenausgleich zu kommen; doch der ist mit Fortsetzung der Okkupation, Ausbau der Siedlungen und Terrorisierung der Zivilbevölkerung nicht zu haben. Noch einmal der Verweis auf Zuckermann, der die Selbstmordattentate in Zusammenhang mit der Besatzung stellt und einen Ausgleich mit der palästinensichen Bevölkerung prinzipiell für möglich hält:
"Es ist der Aufschrei der Geknechteten und Erniedrigten und der Beleidigten, die zu nichts anderem fähig sind, als ´die Zerstörung des Landes Israel´ rauszukotzen. Rache ist für sie ein Lustgewinn - auch wenn im Gegenzug Ramallah, Nablus oder Jenin in Schutt und Asche gelegt werden. Wie man aus diesen Gewaltzirkeln rauskommt, ist aber nicht nur eine Frage des Bewusstseins, sondern auch eine der Veränderung von Strukturen. Und die momentan vorherrschende Struktur ist eine brutale Okkupation."
Das Credo der antideutschen Strömung ist dagegen die bedingungslose Verteidigung einer Fiktion, eines gedanklich konstruierten israelischen Kollektivs. Kritik an der Politik Israels stellt diese Fiktion in Frage. Konsequenz: Im besten Fall wird man als "omnipotenter, linker Staatsgründungsexperte" diskreditiert (wie Achim Rohde von Dir), im weniger angenehmen Fall wird man so folgerichtig und falsch zugleich mit dem Vorwurf des Antisemitismus belegt - und dabei haben Leute vom FSR Sowi und die Anti-Expo-AG in Hannover sich z.T. explizit auf "Bahamas" bezogen.
Im übrigen ist der weitere Weg von großen Teilen des Antideutschen Spektrums zur Rechtfertigung von Angriffskriegen, etwa auf den Irak, aus meiner Sicht nur eine Frage der Konsequenz: Bedroht der "islamische Faschismus" nicht generell Israel, etwa über Spendenzahlungen aus den arabischen Staaten für Familien von Selbstmordattentätern? Hat Tony Blair nicht schon darauf hingewiesen, daß der Irak diese unterstützt? Ist Saddam Hussein nicht ein "Widergänger Hitlers" (so Hans-Magnus-Enzensberger im Golfkrieg 1991)? Sind die USA nicht in ihrem Krieg gegen den (islamistischen) Terror deshalb zu unterstützen?
Noch sind das rhetorische Fragen. Ich befürchte, nicht mehr lange.