Ich las gerade deinen sehr guten Artikel über Neoliberalismus. Wo ich weitergehen möchte als Du, ist allerdings die Notwendigkeit des religiösen Charakters dieser Doktrin. Abgesehen davon, daß sich unter einem materialistischen Geschichtsansatz soziokulturelle Applikationen verschiedener Religionen duchaus fassen lassen, wenn auch nicht religiöser Glaube selbst, denke ich durchaus, daß der Neoliberalismus religiöse Qualität besitzt, sowohl in seinen Doktrinen als auch in seinen Auswirkungen. Bei seinen Apologeten finden sich verschiedenste Topoi, die aus archaischen Religionen bekannt sind. Gerade im Bereich der Esoterik, die vielen neoliberalen Firmenphilosophien als Wegweiser dient, treten Muster auf, wie sie im Neoliberalismus Verwendung finden. Es wäre zwar bösartig, religiösen Menschen per se rationale Denkvermögen oder Asozialität zu unterstellen, es gibt jedoch durchaus ein Wechselspiel zwischen dem Aufkommen religiöser Vorstellungen und der Zerstörung sozialer Strukturen wie auch der von dir beschriebenen Schizophrenie. Tatsächlich kam es in den westlichen Ländern mit dem Durchbruch des Neoliberalismus zu einer Respiritualisierung der Öffentlichkeit, daß, was Kratz als das erste Merkmal einer Konservativen Revolution bezeichnete. Was zeichnet Religionen aus? Sie haben Gläubige und Priester. Sie sind irrational und basieren auf Glauben, in der Regel innerhalb eines geschlossenen Glaubenssystems. Sie folgen Ritualen, die der Aufrechterhaltung dieses Glaubenssytems dienen.Im Unterschied zum Marxismus-Leninismus, der häufig als Ersatzreligion bezeichnet wurde, aber mit traditionellen Religionen nichts zu tun hatte, nicht aber im Unterschied zum deutschen Faschismus, dessen Basis ein spirituell-neuheidnisch-germanisches System war, sind Selbstverortungen innerhalb des Neoliberalismus religiös. Neoliberale "Teams" gehen auf Visionssuche, lassen sich von Taoismus-Experten beraten, definieren sich über buddhistische Karmavorstellungen, finden ihr Heil in der Hindumythologie. Hier bietet sich für die geisteswissenschaftliche Forschung ein breites und neues Feld, das nicht allein mit den tatsächlichen Vereinnahmungsungsmechanismen des kapitalistischen Marktes erklärt werden kann. Was ich allerdings denke ist, daß die sozialpsychologischen Verwüstungen, in denen es nicht um das Was, sondern nur noch um das Wie geht, von den vereinzelten Individuen nur noch religiös gefaßt werden kann. Zu denken gibt, wenn man klassische Sekten wie Scientology, Krishna oder Mun, alle rechtsextrem, aber auch alle religiös, mit Firmenprofilen des Neoliberalismus vergleicht, sich erstaunliche Ähnlichkeiten ergeben. Dahinter steckt meines Erachtens nicht nur reine Ideologieproduktion, das heißt, der Markt selbst wird bereits als göttliches Prinzip wahrgenommen und nicht mehr als ökonomische und veränderbare materielle Realität. Demzufolge kann eine soziale Regression stattfinden, in der Individuen, die in neoliberalen Stereotypen verdinglicht worden sind, zum Beispiel Berber nicht mehr als materiell veramte gesellschaftliche Randgruppen wahrnehmen, sondern als andere Rasse, gar als andere Spezies, als: Dämonen. Gleichzeitig werden Manager in überraschender Übereinstimmung mit religiösen Heroen oder Archonten als Gottmenschen angesehen. Worauf ich hinauswill ist, daß eine Zerstörung von sozialen Strukturen, daß, was als Deregulierung und Flexibilität bekannt ist, real zu einer religiös bestimmten Veränderung der Wahrnehmung führen kann. Der Ausnahmezustand, den die von Dir beschriebene Selbstausbeutung mit sich bringt, kann dann nur noch durch Gebete, Meditationstechniken, Ritualisierungen verarbeitet werden. Die Identitätskonstruktionen der New Economy weisen viele Merkmale religiöser Sekten auf. Tekkno zum Beispiel, durchaus eine Kompensation neoliberaler Arbeitsverhältnisse, enthält extreme Spititualisierungen bis hin zu Shiva-Moon-Parties. Die Individuen lösen sich auf und werden Teil eines großen (Firmen-)Ganzen. Da haben wir die religiöse Verschmelzung. Ich möchte das jetzt garnicht weiter ausführen, aber ich denke, daß in der Religionswissenschaft und Kulturanthropologie Methoden entwickelt worden sind, die geeignet wären, die religiösen Bezugssysteme des Neoliberalismus auf den Punkt zu bringen. Ich halte den Neoliberalismus für eine Religion, mit allen strukturellen Merkmalen, die eine Religion auszeichnen. Umgekehrt, atmosphärisch wird die Gesellschaft im Neoliberalismus tatsächlich zu dem, was religiös geprägte Gesellschaften auszeichnet. An die Stelle konkreter sozialer Bezugssysteme treten religiöse Symbole, über die allein die Individuen sich erkennen können. An die Stelle von Gewerkschaftlern oder Sozialpädagogen treten theologische Berater. In der Erosion gesellschaftspolitischer Inhalte tritt ein :"Daran glaube ich!" an die Stelle des "Das denke ich!" Die ebenfalls religiöse Vorstellung, die bis in die Arbeitsämter verbreitet ist: "Das regelt der Markt!" erteilt einer abstrakten Wirtschaftsform Gottes- beziehungsweise Götzencharakter. Der Markt tritt selbst an die Stelle Gottes. Durch die Abkapselung der Individuen voneinander werden unterschiedliche Realitätsebenen geschaffen. Die konservativ-revolutionäre Vorstellung der Transformation von Realitätsschichten wird atmosphärische Wirklichkeit. Ein New Economy Manager erklärte in der Zeitschrift esotera den "Wahrheitsgehalt" der altgriechischen und altrömischen Mythologie damit, daß all die in den Mythologien beschriebenen Figuren ihm in der Firmenrealität begegnet seien. Diese Topoi aus polytheistischen und archaischen Religionen werden in den gesellschaftlichen Auflösungsprozessen des Neoliberalismus real. In einer bürgerlich-demokratischen oder gar sozialistischen Gesellschaft würden sie aufgrund der Gleichberechtigung der Individuen religiöse Vorstellungen beschreiben. Ich denke hier muß eine kritische Analyse ansetzen. Wenige Länder sind so strikt kapitalistisch wie die USA. In keinem Land der Welt gibt es auch nur annähernd so viele Sekten. Die Schöpfungsreligion der USA war der Protestantismus, genauer gesagt, der Calvinismus und Puritanismus. Die Schöpfungsreligion der Erschaffung und Vernichtung Amerikas war der Katholizismus. Die Schöpfungsreligion des Nationalsozialismus (ohne die er niemals an die Macht gekommen wäre), war das völkische Neuheidentum.Der Neoliberalismus verfügt noch nicht über ein geschlossenes religiöses Weltbild. Da er aber religiöse Muster bedingt wie die Verleugnung der dinglichen Wirklichkeit, die Verleugnung individueller Rechte, die Verleugnung von Geschichte vor allem (neoliberale Professoren orientieren sich offen am Darwinismus, der sich als mystischer Rassismus im Umbruch zum 20. Jahrhundert durchsetzte, nachdem er wissenschaftlich gescheitert war), die Verleugnung von Gesellschaft, führt er zu Gesellschaftskonstruktionen, die nicht in aufklärerischer Tradition demokratisch sind, sondern auf einem religiösen Synkretismus basieren. Die alten Götter werden zur Realität, da ihre materiellen Bedingungen wieder Realität werden.
Viele liebe Grüße, das Thema dürfte uns noch länger beschäftigen