Danke für diese plumpe Anti-Chavez-Hetze. Allein dieser Satz:
"Auch der Putsch im Jahr 2002 wird nicht ohne Wissen der US-Regierung geplant worden sein." entlarvt den Verfasser vollständig. Dieser Putsch fand nicht nur mit Wissen der US-Regierung statt, er wurde von ihr maßgeblich inszeniert. Dies ist belegt durch eine Reihe von Dokumenten. Hier der US-Regierung eine passive Haltung des Geschehen-lassens zu unterstellen, zeigt die Stoßrichtung dieses Artikels. Unter dem Deckmantel des Emanzipativen wird schon der ideologische Nährboden für den nächsten Putsch bereitet. Und dieser Acker wird von einer Heerschar von Meinungsmachern gepflügt, jeweils auf das Zielpublikum abgestimmt. In diesem Fall auf Linke.
In der Regel standen Militärputsche in Lateinamerika archetypisch für sozialen Rückschritt oder für politische Katastrophen, wie in Chile 1973, Argentinien 1976, Brasilien 1964 und Uruguay 1973. Venezuela war insofern untypisch, als schon beim Sturz des Diktators Pérez Jimenez am 23.1.1958 der jüngere Teil des Offizierskorps um Wolfgang Larrazábal die Hauptrolle spielte. Nach der Flucht des Diktators holten die Offiziere den moderaten Sozialisten Rómulo Betancourt, der in den darauffolgenden Wahlen zum Präsidenten gewählt wurde. Damals herrschte bereits im ärmeren Teil der Bevölkerung große Hoffnung auf wirtschaftliche Verbesserungen, die sich im Laufe der 60er und 70er Jahre nach Verstaatlichung der Ölindustrie teilweise erfüllte. Es bildete sich ein Zweiparteien-System heraus, in dem sich Christdemokraten (COPEI) und Sozialdemokraten (Acción Democrática) an der Macht abwechselten.
Ab ca. 1980 endete allmählich der Ölboom, und die grassierende Korruption, gepaart mit Kapitalflucht, stieß große Teile des Mittelstandes in die Armut. Der größte Teil dessen, was heute die "oposición" gegen Chávez ausmacht, partizipierte an der herrschenden Kleptokratie.
Ein typischer IMF riot in 1989, während dessen ca. 1000 Caraqueños umkamen, führte zum kompletten Vertrauensverlust in die Regierung und 1992 zum Putschversuch Hugo Chávez´. Chávez erschien dem größten Teil der Bevölkerung 1998 als letzte Hoffnung, keineswegs als überragende Retterfigur. Sie wählten ihn mit 56% der Stimmen zum Präsidenten, und er löste das Parlament auf und ließ eine neue Verfassung erarbeiten, eben die der "República Bolivariana".
Zu eben diesem Zeitpunkt sackte mir das Herz in die Hose. In den 70er Jahren hatte ich in Venezuela gewohnt und an der dortigen Politik Anteil genommen; jetzt war ich überzeugt, die Venezolaner hätten sich die Diktatur zurück gewählt - bis ich die Verfassung las und feststellte, dass sie mehr Rechte gewährte als die vorherige. Weiterhin las ich im "Universal" die Artikel gegen Chávez, die ihre eigenen Unterstellungen einer "censura" durch ihr unbehindertes Erscheinen Lügen straften. Schließlich formte ich mir ein Bild von Chávez, das von dem Wolf-Dieter Vogels deutlich abweicht:
- Zugegebenermassen ist der Mann schrecklich eitel. Einmal "Aló Presidente" gesehen, und man hat von seinem plump-vertraulichen Pathos die Nase voll. Nicht so die Venezolanos; viele von ihnen brauchen die Sendung wie einen Gottesdienst. Allerdings spielt Chávez darin zunehmend nur noch eine caudilleske Rolle - er weiß, dass er sich schnellstens ersetzlich machen muss, um sein Lebenswerk zu retten.
- Dem Mann ist tatsächlich an lateinamerikanischer Integration gelegen. Trotz seiner zum Teil peinlich-undiplomatischen Art beim Verhandeln mit Kirchner, Vázquez und da Silva hat er reichlich Erfolge vorzuweisen: Telesur, Petrocaribe, das Abkommen "Rindfleisch gegen Öl" mit Argentinien, das Projekt einer südamerikanischen Freihandelszone als Gegengewicht zum ALCA - es scheint, Chávez habe dem übersteigerten Nationalismus, dem bisher alle Regierungen huldigten, etwas entgegen zu setzen.
- Der bolivarianischen Bewegung oder Chávez wurden verschiedentlich Antijudaismus unterstellt, gepaart mit einer Apologetik des teils faschistoiden Peronismus. Für die Entstehungszeit des Bolivarianismo möchte ich das aus mangelnder Detailkenntnis nicht ausschliessen. Inzwischen steht der emanzipatorische Charakter der Bewegung jeder Art des Rassismus entgegen, was zumindest ein grosser Teil der venezolanischen Juden anerkennen
- Eine gefährliche Situation hat sich hinsichtlich des Nachbarlandes Colombia eingestellt: Beide Länder verdächtigen sich gegenseitig verdeckter Operationen auf dem Staatsgebiet des jeweils anderen bzw. der Unterstützung im jeweils anderen Land operierender Guerrilla-Einheiten. Die Beziehungen beider Länder waren noch nie die besten; es gibt eine Art folkloristischer Abneigung gegen einander, die zumindest zu Scharmützeln im dünn besiedelten Grenzgebiet der Sierra de Perija führen oder Putsch-Bestrebungen in den Westprovinzen Zulia, Táchira oder Apure befördern könnte.
Das Maulheldentum Chávez´ gegen die Regierung Bush beruht auf herzlicher Gegenseitigkeit, siehe die Mordaufrufe Pat Robertsons etc. Man muss nicht erwarten, dass ein "hombre de cojones" das kommentarlos schluckt, so peinlich einen Europäer auch die Wortwahl berührt.
Meine (optimistische) Prognose wäre, dass der "Bolivarianismo" in ca. 10 Jahren eine breite Personalbasis haben wird und Chávez schon vorher als Fossil der Bewegung von Jüngeren ersetzt werden wird. Sofern die Welt es zulässt, wird in Venezuela ein demokratischer Sozialismus möglich, der allerdings wegen seiner Rohstoffabhängigkeit nicht ohne weiteres auf andere Staaten übertragbar ist.