Massenproteste gegen IWF und Regierung - Im türkischen Bus
10. Jun. 2001, 11:20
Massenproteste gegen IWF und Regierung
Im türkischen Bus
Von Mustafa Korkmaz
Ein alter, klappriger Bus (die Türkei), zum Bersten voll (Bevölkerung), ein langer und gefährlicher Weg, eine scharfe Kurve nach der
anderen, der Fahrer (Ministerpräsident Ecevit) unfähig, den Bus zu steuern, seine Helfer (Koalitionspartner) kurzsichtig, der Beifahrer
(IWF) gibt Anweisungen "weiter so, Gas geben", die Fahrgäste sind aufgeregt und voller Wut. Keiner weiß was auf sie zukommt. Das
ist die Türkei heute.
Die Türkei erlebt ihre tiefste ökonomische und politische Krise seit ihrer Gründung. Mehr noch, einen Zusammenbruch. Und das
geschieht in einer Zeit, in der die Weltwirtschaft sich in einer Rezession befindet.
Seit 17 Jahren werden in der Türkei die Wirtschaftsprogramme des IWF und der Weltbank von jeder Regierung als ihre eigene
Wirtschaftsprogramme übernommen. Das letzte Programm der Regierung bzw. des IWF ist ebenso gescheitert wie die bisherigen.
Seit zwei Monaten verlor die Währung über die Hälfte ihres Wertes. Seitdem gab es keinen Tag ohne Preiserhöhungen. Die Kaufkraft
der abhängig Beschäftigten ist unter den Stand der 60er Jahre gefallen. Über 500.000 Menschen haben ihre Arbeit verloren.
Die Ursachen der Krise liegt nicht in der "Unfähigkeit" der Regierung der Türkei, sonder es ist dasselbe Programm der IWF, das auch
in Argentinien und Süd-Korea gescheitert ist. Es ist das Programm des Neoliberalismus, das gescheitert ist.
Die Krise hat nicht nur die Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten verschlechtert, sondern auch weitere gesellschaftliche
Schichten erreicht: Große Teile der Kleinhändler sind ruiniert, breite Schichten haben Angst um ihre Existenz, ihre Einkommen, ihren
Job.
Deshalb beteiligten auch sie sich an den Protesten sehr stark. Allein am 11. 4 gingen landesweit über 350.000 Arbeiter, Arbeitslose,
Kleinhändler, Taxifahrer usw. auf die Straße.
In Hauptstadt Ankara gingen 80.000 Menschen auf die Straße. Die Massen, die das Parlament stürmen wollten, wurden von der
Polizei und dem Militär abgehalten, zu Teil mit dem Einsatz von Schußwaffen. Zahlreiche Regierungsgebäude wurden beschädigt,
Stadtbusse zerstört. In Ankara wurde alle Proteste für einen Monat verboten.
Am 14. 4. gingen wiederum Hunderttausende landesweit auf die Strasse, um den Rücktritt der Regierung zu fordern und gegen das
IWF-Programm zu protestieren. Die Slogans der Arbeiter und Angestellten waren "Weg mit der Regierung", "IWF, hau ab!", "Nieder
mit dem IWF". Die IWF ist in der Türkei die meist gehaßte Institution. Auf die Frage, was ist IWF ist, antwortete ein Arbeiter: "Das
ist die Organisation, die uns zum Hungern zwingt".
Der Weltbank-Experte Dervis, der vor kurzem zum türkischen Wirtschaftsminister ernannt worden ist, hat das neue
Wirtschaftsprogramm, das als Sanierungsprogramm bezeichnet wird, veröffentlicht. Um die Unterstützung der Bevölkerung zu
gewinnen, nennt die Regierung das neue IWF-Programm "Nationales Programm". Die Botschafter der USA verglich das Programm mit
dem "nationalen Befreiungskrieg der Türkei" von 1919, und verlangte von allen Schichten Opfer.
Das neue (!) Programm versucht die Krise zu Gunsten des Kapitals lösen. IWF- und Weltbank-Vertreter diktierten es. Die nötige
"Soforthilfe", etwa zehn Milliarden Dollar, werden von IWF und der Weltbank unter der Bedingung "drastischer Einsparungen"
bewilligt. Das heißt: Im öffentlichen Dienst wird es einen Einstellungsstopp geben, Staatsunternehmen werden ihre Personalkosten
senken, Lohnerhöhungen wird es nicht einmal in Höhe der Inflationsrate geben. Neue Steuern, eine Privatisierungswelle,
Entlassungen sind die weitere Bestandteile das Programms. Im Gesundheitsbereich und Bildung wird weiter gekürzt.
Seit zwei Wochen vergeht kaum ein Tag, an dem es keine Proteste gegen die Regierung, die von der Bevölkerung als "Handlangerin
des IWF" bezeichnet wird, gibt. "IWF, hau ab", "Schluß mit Korruption und Armut" sind die Hauptforderungen der Massen.
Auf der Strasse drückte sich die Entschlossenheit der Arbeiter am Samstag klar und deutlich aus, in dem sie immer wieder "Es wurde
genug geredet, jetzt ist aber Aktion, Generalstreik an der Reihe", "wir sind bereit" etc. wiederholten.
Das ist nicht nur in Worten so, sondern seit fünf Monaten zeigen die Arbeitermassen und die andere Teile der Bevölkerung ihre Wut
auch mit Aktionen. Am 31. 11. 2000 haben hunderttausende Arbeiter und Angestellte des Öffentlichen Diensts die Arbeit
niedergelegt. Die Straßen der größten Städten wurden von den Arbeitern besetzt. Zu Newroz (Neujahrsfest der Kurden) gingen in
den kurdischen und türkischen Metropolen über 300.000 Menschen auf die Strasse. Am 8. März waren 10.000 Frauen allein in
Istanbul auf der Strasse, seit vier Wochen vergeht kaum ein Tag, wo es keine Aktionen gibt. Der Vorsitzende des
Arbeitgeber-Vereins, TUSIAD, warnte die Regierung: "Wenn es so weiter geht, kann bald die Strassen unkontrolliert werden."
Die ökonomische Krise hat dazu geführt, daß die etablierten Parteien ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Nach dem neuste
Befragung würde keine der Parteien mehr als 10 % der Stimmen für sich gewinnen, d. h. keine der Parteien könnte ins Parlament
einziehen, da das Wahlgesetz eine 10-Prozent-Hürde enthält.
Die Fahrgäste machen sich Gedanken, und einige sind auch bereit, den Bus zu übernehmen. Sie haben keinerlei Vertrauen mehr in
den Fahrer, seine Helfer und auch den Beifahrer.