Ich teile Schmidt-Salomons Darstellung von Bahros Esoterik als Anpassung an den Zeitgeist nicht. Bahro wechselte seine politische Position vom Eurokommunisten zum Ökoreaktionär. Ich zitiere Peter Kratz: "Bahros Ziel heißt Entbehrung.In seinem Hauptwerk von 1987 "Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik" schafft er eine Ideologie, die Massenarmut legitimiert und somit objektiv im Interesse der Herrschenden liegt. Er zieht dabei alle ideologischen Register des New Age und verbindet diese Vorstellungen explizit mit denen von Kurt Biedenkopf oder Günter Rohrmoser, die autoritäre Gesellschafskonzepte einer "ORDO"-der letztlich naturalistische fundierten organischen Ordnung der Welt-vertreten.(...) Ebenso ausdrücklich fordert Bahro soziale Opfer: Aus einem verqueren Verständnis von Ökologie heraus wird Armut künstlich errichtet und zementiert, angeblich um der göttlichen Natur Willen. Das freilich ist demokratisch nicht zu haben und Bahro weiß es: "Eine ökologische Wende ist ganz unmöglich ohne das Moment einer konservativen Revolution." Daß Bahro bei vielen Linken noch heute aufgrund seines phantastischen Buches "Die Alternative" als Säulenheiliger gilt, hat mit den Positionen, die er seit Mitte der 80er Jahre vertritt wenig zu tun. Hier ist es eher wichtig, genau zu untersuchen, warum Bahro ähnlich wie viele 68er, ich denke an Rabehl und Langhans, aber auch an Horst Mahler auf die ganz andere Seite gerückt ist.
Auch was Lenins Hinwendung zum Anarchismus betrifft, täuscht Schmidt-Salomon sich. Lenin, als reiner Machtpolitiker bediente sich der in der russischen Bevölkerung populären anarchistischen Agitationsform. Bereits 1917 machte er dem Anarchisten Souchy in einem persönlichen Gespräch jedoch deutlich, wie Lenin und seine Truppe nach der von ihnen instrumentalisierten Revolution mit den Anarchisten umspringen würde: Nach Lenin seien die Anarchisten für die Duchsetzung der Revolution zwar dringend notwendig, danach hätten sie sich allerdings der Partei unterzuordnen. Auf Souchys Frage, wie denn verfahren würde, wenn die Anarchisten sich weigerten, erwiderte Lenin wörtlich: "Es gibt keine Revolution, die ohne Erschiessungen vor sich geht." Dies setzten die Bolschewiki, die Liquidatoren der Revolution 1920 /21 auch genauso um, wie Lenin es Jahre vorher schon beschrieben hatte. Diese Mordspolitik, die Schmidt-Salomon zu Recht als Verzerrung des Sozialismus ansieht ist also nicht, wie von ML-Gruppen gerne beschrieben aus den Zusammenhängen des Krieges nach 1920 zu erklären, sondern war langfristig angelegtes Kalkül von Lenin.
Was die Einordnung von Marx in die abendländische Tradition der Philosophie angeht, irrt sich Schmidt-Salomon. Immerhin lautet einer der zentralen Sätze von Marx: "Die Philosophen haben die Welt nur erklärt. Es geht aber darum , sie zu verändern." In diesem Sinne ist Marx kein reiner Humanist, sondern Vertreter eines praktischen Kampfes für den Soziaismus.
als Kommentar zu Deinem Artikel in SoPo möchte ich im Folgenden aus einem Text zitieren, den Friedrich Engels geschrieben hat und wo er sich "kritisch" mit den "Antiautoritariern" auseinandersetzt; dieser Text würde sicher heute so manchem Pädagogen das Herz höher schlagen lassen, bei einem Berufszweig, wo wieder viel über "Grenzen setzen", "Rituale" und "gesunde Autorität" schwadroniert wird - sogar über "Festhaltepädagogik" als "Therapie". Aber es geht mir nicht um die Pädagogik, sondern darum, dass das mit Marx/Engels nicht so eindeutig ist, wie Du das in Deinem Artikel darstellst, dass man so glasklar zwischen Bolschewismus/Stalinismus und dem "humanistischen" Marx trennen könne. Vielleicht muss man zwischen Marx und Engels differenzieren, dem "Popularisator" Marx´scher Ideen, aber der folgende Text lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig; er heißt "Von der Autorität" und ist zitiert nach: MEW 18, S. 305-308.
Friedrich Engels: "Von der Autorität" (Auszüge)
"Einige Sozialisten haben in letzter Zeit einen regelrechten Kreuzzug gegen das eröffnet, was sie das Autoritätsprinzip nennen. Sie brauchen nur zu sagen, dieser oder jener Akt sei autoritär, um ihn zu verurteilen. Mit diesem summarischen Verfahren wird derart Mißbrauch getrieben, daß es nötig ist, die Angelegenheit ein wenig aus der Nähe zu betrachten. Autorität will in dem Sinne des Wortes, um den es sich hier handelt, soviel besagen wie: Überordnung eines fremden Willens über den unseren; Autorität setzt auf der anderen Seite Unterordnung voraus. Da nun diese zwei Worte einen üblen Klang haben und das Verhältnis, das sie zum Ausdruck bringen, für den untergeordneten Teil unangenehm ist, handelt es sich um die Frage, ob es nicht ein Mittel gibt, anders auszukommen; ob wir nicht - unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen - einen anderen sozialen Zustand ins Leben rufen können, in dem diese Autorität keinen Sinn mehr hat und folglich verschwinden muß. Wenn wir die ökonomischen - industriellen und landwirtschaftlichen - Verhältnisse untersuchen, die die Grundlage der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft bilden, so finden wir, daß sie die Tendenz haben, die isolierte Tätigkeit mehr und mehr durch die kombinierte Tätigkeit der Individuen zu ersetzen. An die Stelle der kleinen Werkstätten isolierter Produzenten ist die moderne Industrie getreten, mit großen Fabriken und Werkstätten, in denen Hunderte von Arbeitern komplizierte, mit Dampf angetriebene Maschinen überwachen; die Fuhrwerke und Karren der großen Landstraßen sind abgelöst worden durch die Züge der Eisenbahn, wie die kleinen Ruderboote und Segelfeluken durch die Dampfboote... Überall tritt die kombinierte Tätigkeit, die Komplizierung voneinander abhängender Prozesse, an die Stelle der unabhängigen Tätigkeit der Individuen. Wer aber kombinierte Tätigkeit sagt, sagt Organisation; ist nun Organisation ohne Autorität möglich?
Nehmen wir einmal an, eine soziale Revolution habe die Kapitalisten entthront, deren Autorität heutzutage die Produktion und die Zirkulation der Reichtümer lenkt. Nehmen wir, um uns ganz auf den Standpunkt der Antiautoritarier zu stellen, weiter an, der Grund und Boden und die Arbeitsinstrumente seien zum kollektiven Eigentum der Arbeiter geworden, die sich ihrer bedienen. Wird die Autorität dann verschwunden sein oder wird sie nur die Form gewechselt haben? Sehen wir zu. Nehmen wir als Beispiel eine Baumwollspinnerei. Die Baumwolle muß mindestens sechs aufeinanderfolgende Operationen durchlaufen, bevor sie die Gestalt des Fadens annimmt, Operationen, die - zum größten Teil - in verschiedenen Sälen vor sich gehen. Außerdem braucht man, um die Maschinen in Gang zu halten, einen Ingenieur, der die Dampfmaschine überwacht, Mechaniker für die laufenden Reparaturen und viele ungelernte Arbeiter, die die Produkte von einem Saal in den anderen zu schaffen haben etc. All diese Arbeiter, Männer, Frauen und Kinder, sind gezwungen, ihre Arbeit zu einer Stunde zu beginnen und zu beenden, die von der Autorität des Dampfs festgesetzt ist, der sich keinen Deut um die individuelle Autonomie kümmert. Es ist also zuerst einmal nötig, daß die Arbeiter sich über die Arbeitsstunden einigen; sind diese Stunden einmal festgelegt, so ist jedermann ohne jede Ausnahme ihnen unterworfen. Weiterhin treten in jedem Saal und in jedem Augenblick Detailfragen über die Produktionsweise, die Verteilung des Materials etc. auf, Fragen, die sofort gelöst werden müssen, wenn nicht die gesamte Produktion im selben Augenblick zum Stehen kommen soll; ob sie nun auf Entscheid eines an die Spitze jedes Arbeitszweigs gestellten Delegierten gelöst werden oder, wenn dies möglich ist, durch Majoritätsbeschluß, stets wird sich doch der Wille eines jeden unterordnen müssen; das bedeutet, daß die Fragen autoritär gelöst sein werden. Der mechanische Apparat einer großen Fabrik ist um vieles tyrannischer, als es jemals die kleinen Kapitalisten gewesen sind, die Arbeiter beschäftigen. Wenigstens was die Arbeitsstunden betrifft, kann über die Tore dieser Fabriken schreiben: Laßt alle Autonomie fahren, die Ihr eintretet! Wenn der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft und des Erfindergenies sich die Naturkräfte unterworfen hat, so rächen sich diese an ihm , indem sie ihn, in dem Maße, wie er sie in seinen Dienst stellt, einem wahren Despotismus unterwerfen, der von aller sozialen Organisation unabhängig ist. Die Autorität in der Großindustrie abschaffen wollen, bedeutet die Industrie selber abschaffen wollen...
Aber die Notwendigkeit einer Autorität, und zwar einer gebieterischen Autorität, tritt am anschaulichsten bei einem Schiff auf hoher See zutage. Hier hängt, im Augenblick der Gefahr, das Leben aller davon ab, daß alle sofort und absolut dem Willen eines einzelnen gehorchen. Jedesmal, wenn ich dergleichen Argumente den wildesten Antiautoritariern unterbreitete, wußten sich nichts zu antworten als: "Ah! Das ist wahr, aber hier handelt es sich nicht um eine Autorität, die wir den Delegierten verleihen, sondern um einen Auftrag!" Diese Herren glauben die Sache verändert zu haben, wenn sie deren Namen ändern. So machen sich diese tiefen Denker über die Welt lustig...
Andererseits haben wir gesehen, daß die materiellen Produktions- und Zirkulationsbedingungen durch die Großindustrie und die Großlandwirtschaft unweigerlich erweitert werden und die Tendenz haben, das Feld dieser Autorität mehr und mehr auszudehnen. Es ist folglich absurd, vom Prinzip der Autorität als von einem absolut schlechten und vom Prinzip der Autonomie als einem absolut guten Prinzip zu reden. Autorität und Autonomie sind relative Dinge, deren Anwendungsbereiche in den verschiedenen Phasen der sozialen Entwicklung variieren. Wenn die Autonomisten sich damit begnügten, zu sagen, daß die soziale Organisation der Zukunft die Autorität einzig und allein auf jene Grenzen beschränken wird, in denen die Produktionsbedingungen sie unvermeidlich machen, so könnte man sich verständigen... Warum begnügen sich die Antiautoritarier nicht damit, gegen die politische Autorität, den Staat, zu wettern? Alle Sozialisten sind einer Meinung darüber, daß der politische Staat und mit ihm die politische Autorität im Gefolge der nächsten sozialen Revolution verschwinden werden, und das bedeutet, daß die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln werden, die die wahren sozialen Interessen hüten. Aber die Antiautoritarier fordern, daß der autoritäre politische Staat auf einen Schlage abgeschafft werde, bevor noch die sozialen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben entstehen lassen. Sie fordern, daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sei. Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partei muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen. Hätte die Pariser Kommune nur einen einzigen Tag Bestand gehabt, wenn sie sich gegenüber den Beourgeois nicht dieser Autorität des bewaffneten Volkes bedient hätte? Kann man sie nicht, im Gegenteil, dafür tadeln, daß sie sich ihrer nicht umfassend genug bedient hat?
Also von zwei Dingen eins: Entweder wissen die Antiautoritarier nicht, was sie sagen, und in diesem Fall säen sie nur Konfusion; oder sie wissen es, und in diesem Fall üben sie Verrat an der Bewegung des Proletariats. In dem einen wie in dem anderen Fall dienen sie der Reaktion."
Für mein Dafürhalten ein seltsam ambivalenter Text: einerseits der "gesunde Menschenverstand", der in einer Art "matter of fact"-Ideologie Offensichtlichkeiten beschwört; andererseits Sätze wie die: "Wenigstens was die Arbeitsstunden betrifft, kann über die Tore dieser Fabriken schreiben: Laßt alle Autonomie fahren, die Ihr eintretet!" Warum soll man da überhaupt noch eine Revolution veranstalten, wenn "(d)er mechanische Apparat einer großen Fabrik um vieles tyrannischer(ist), als es jemals die kleinen Kapitalisten gewesen sind, die Arbeiter beschäftigen."