Lieber Sven, liebe Sopos,
als ich gestern (Freitag) Nacht aus dem Izarro nach Hause kam, habe ich noch mal auf die Sopos-Seite geschaut um Deine Big-Brother Glosse zu lesen. Da mich der Text inspiriert hat, will ich meine Leseeindrücke und Anmerkungen nicht für mich behalten. Das ist ja sicher auch in Deinem Interesse. Mir gefällt der Titel und auch der Stil ist einfallsreich, oft auch schön, auch wenn er mir mitunter etwas arg stilverliebt vorkommt. So als hättest Du Dich weniger von der Folge der Gedanken und mehr von der Assoziationskraft bestimmter Formulierungen leiten lassen. Das muß nicht unbedingt, kann aber ein Fehler sein. Im Grunde erscheint mir schon gleich der erste Satz hierfür typisch: "Die alte Welt geht unter, ein letztes und endgültiges Mal." Das ist doch wirklich bombastisch, mit großer Geste formuliert, für meinen Geschmack etwas zu großartig, aber egal. Bemerkenswerter, auch für den weiteren Verlauf deines Textes, finde ich die inhaltliche Seite dieser Diagnose sowie zu Deiner Kritik an Big Brother, zu der ich ein paar Dinge sagen möchte.
Die alte Welt ist ja schon seit geraumer Zeit beständig damit beschäftigt, unterzugehen und es wird ihr auch in regelmäßigen Abständen diagnostiziert. Das kommt wohl, weil die kapitalistisch produzierende Welt durch die "fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung" gekennzeichnet ist. (MEW, 4, 465) Insofern ist der gegenwärtige Untergang wohl nichts anderes als das ´Alte aus der Nähe´. Sollte dieser Untergang der letzte und endgültige sein, was ich übrigens bestreite, denn dann befänden wir uns am Ende des Kapitalismus und das ist nicht der Fall, so wäre es zumindest noch nicht möglich, ihn zu diagnostizieren, denn er findet gerade noch statt. Und Hegels verpennte Eule beginnt ja bekanntlich nicht deshalb erst in der Dämmerung ihren Flug, weil sie nicht auf Zack ist, sondern weil die wesentlichen Prinzipien einer Epoche erst an ihrem Ende reflektiert werden können.
Bezogen auf Big Brother scheint es mir zudem überhaupt keinen qualitativen Unterschied zu früheren Formen eines "austarierten (nicht austangierten, übrigens) Systems von Exhibitionismus und Voyeurismus" (Absatz II, 5) zu geben. Höchstens ein anderes Fernsehformat und bessere Vermarktung, weshalb ich darin auch eher einen weiteren Ausdruck des Immergleichen sehe. Aber darin scheinen wir auch übereinzustimmen.
Du spickst Deine Auseinandersetzung mit dem Medienereignis Big Brother mit Bezügen zur ökonomischen Realität, versuchst es also als ideologisches Phänomen zu dechriffrieren. Das ist oft sehr schwer. Wie vermittelt sich denn der "totale neue Markt" in den Wohncontainer von RTL? Welches Interesse hat dieser Markt daran, die Zuschauer zum Big Brother zu machen? Und vor allem, welches Interesse haben die menschlichen Individuen, die sie als vereinzelte Einzelne doch auch noch sind; an solchen Sendungen teilzunehmen. Dabei spielt sicher die Siegerprämie eine Rolle, aber ebenso auch das "Diktum der Selbstverwirklichung" (II,5). Hier hätte ich mir von der Kritik mehr sozialpsychologisches Einfühlungsvermögen gewünscht. Den ideologischen Angeboten entsprechen ja immer auch Bedürfnisse der Menschen, die der Ideologie ihr Wahrheitsmoment geben. Es ist ja zunächst nichts dagegen zu sagen, wenn jemand nach der "Zeit der Dolce Vita" (II,5) verlangt, gerne mit einem "Gummiseil vom Kran" springen will (I,3) oder sich selbst in einem Wohncontainer verwirklichen zu können glaubt. Hier hinkt eben auch Dein Vergleich mit einem Gefängnis (II,1), denn die Bewohner haben sich eher wie freie Lohnarbeiter vertraglich auf dies Containerburg eingelassen.
Ebenso, wie Deine Analyse meiner Meinung nach auf der Seite der ideologisch Deformierten zu wenig feinfühlig ist, fehlt mir eine Beantwortung der Frage nach dem Subjekt dieser Geschichte. Wer ist denn derjenige, nach dessem Willen sich die kleinen Leute anschicken sollen, zum Großen Bruder zu werden (II,2) die Kinder herrschaftstreu gemacht werden sollen (II,4), die Selbstregulation der Beherrschten durch die Öffentlichkeit selbst geschaffen werden soll (II,5), usw. Vom Sollen ist in Deinem Text beständig die Rede, aber wer setzt dieses Sollen? Tanzen die Verhältnisse gegenwärtig nach "einem subjektlosen Machtsystem" (III,4) oder "wacht Kulturindustrie" (III,4) und "die wahrhaft Mächtigen hinter den Kullissen" (III,3) doch darüber, daß alles wie geschmiert läuft? Oder beides? Daß der gegenwärtige kulturelle und ökonomische Prozeß von den "dunklen Absichten der Generaldirektoren" (Dialektik der Aufklärung, S. 130) gesteuert wird, scheint mir völlig unplausibel. Natürlich wird die Durchmonetarisierung aller Gesellschaftsbereiche von interessierten gesellschaftlichen Gruppen betrieben, aber ich glaube nicht an eine Rosenkreuzerschaft derer, die diese Welt als inkarnierter Weltgeist nach ihrem Willen lenken. Statt dessen wäre es für eine gelingende Ideologiekritik von Phänomenen wie Big Brother meines Erachtens wichtig, die konkreten gesellschaftlichen Interessen sowohl der beteiligten Kulturindustriellen wie auch des Publikums zu analysieren. Ansonsten kann der Eindruck entstehen, als wollte man lediglich in kulturkritischer Manier, meinetwegen auch aufgemischt mit einigen ökonomiekritischen Platitüden auf Razz-Niveau, auf den ´Untergang des Abendlandes´ aufmerksam machen. Durch eine unzureichende Vermittlung zwischen der gesellschaftlichen Realität und dem ideologischen Phänomen Big Brother setzt sich die Kritik jedoch dem Vorworf aus, lediglich Räsonnement im ´Grand Hotel Abgrund´ (Lukacs) zu sein. Da wird dann die Mittelmäßigkeit der Medienprodukte bemängelt und die Verdummung zur Absicht der Bösen erklärt. Dieses Geschäft kann man m.E. beruhigt den Kollegen von der FAZ überlassen.
Ich habe Deinen Text daher eher als sympathische Positionsbestimmung verstanden. Ich weiß jetzt, welche Meinung Sven zu Big Brother und der gegenwärtigen Expansion des Kapitalismus mit entfesselter Beißhemmung hat. Weil ich dich kenne, habe ich das freilich auch schon vorher gewußt. Eine ausgeführte "immanente Kritik" (Aufforderung zum Tanz, Abs. III,1), die die undurchsichtigen Herrschaftsverhältnisse aufspürt "indem sie das konkrete geschichtliche Moment aufs gesellschaftliche Ganze transzendiert" (Ebd., III,3) habe ich nicht gefunden. Das hat mich ein bisschen enttäuscht, obwohl es ja nicht immer um trockene theoretische Analyse gehen muß. Ich hoffe, Du verstehst meine, zum Teil ja recht kritischen Anmerkungen nicht als Affront, aber schließlich ist "gerade die Vielfalt, ohne die Beliebigkeit die Stärke einer lebendigen Linken". (Ebd., II,3)
Mit einem lieben Gruß, Helmut
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