Den Aufsatz kommentieren Scheitern als ChanceDie Ablehnung der Verfassungsreform in Venezuela könnte eine notwendige Debatte in Gang setzenvon Robin Stock und Tobias Lambert Erstmals seit seinem Amtsantritt 1999 hat Venezuelas Präsident Hugo Chávez keine Mehrheit für seine Ideen hinter sich bringen können. Mit einer äußerst knappen Mehrheit stimmte die venezolanische Bevölkerung am 2. Dezember gegen die Reform der Verfassung. Seinen schärfsten Kritikern erteilte Chávez dennoch eine Lektion. Trotz des knappen Ausgangs und noch nicht endgültig ausgezählter Stimmzettel erkannte Chávez das Ergebnis der Wahl an und gratulierte der Opposition zum Sieg. All die Verlautbarungen der Opposition und internationaler Medien, die den venezolanischen Präsidenten auf dem Weg zum totalitären Herrscher und Venezuela auf dem Weg in eine Diktatur sahen, wurden somit von ihm widerlegt. In der Tat hätte wohl nichts der Demokratie in Venezuela mehr geschadet, als ein knapper Vorsprung des Regierungslagers. Außer den Chávistas hätte niemand das Wahlergebnis anerkannt. Die Initiative zur Reform der Verfassung war im August von Chávez ausgegangen und wurde erst anschließend von der Nationalversammlung und nach Konsultationen der Basis ausgeweitet. Die Reform hatte zum Ziel, eine verfassungsmäßige Grundlage für die Gestaltung eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" zu legen und vor allem die Basismacht (Poder Popular) zu stärken. Doch der Reformvorschlag sah auch eine deutliche Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten, die Abschaffung der Autonomie der Zentralbank und weitere umstrittene Änderungen vor. Kritik an der Reform kam von den Oppositionsparteien, der Kirche und Unternehmerverbänden, die ihre Privilegien gefährdet sahen. Schließlich war vorgesehen, Latifundien und Monopole zu verbieten, die Möglichkeiten zur staatlichen Enteignung zu stärken und die explizite Förderung der Privatwirtschaft aus der Verfassung zu streichen. Auf der Straße war vor allem die oppositionelle Studierendenbewegung präsent. Sie sah nicht nur die universitäre Autonomie bedroht, sondern auch die Meinungsfreiheit und den politischen Pluralismus. Die venezolanische Opposition feiert nun ihren vermeintlichen Sieg über den verhassten Präsidenten. Doch das Wahlergebnis ist eher ein Ausdruck der mangelnden Unterstützung für das Projekt innerhalb des chávistischen Lagers. Noch im Dezember 2006 hatte Hugo Chávez bei den Präsidentschaftswahlen über sieben Millionen Stimmen für sich gewonnen, diesmal stimmten nur 4.300.000 für den Vorschlag der Regierung. Die Opposition konnte im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen ihre Anhängerschaft nur geringfügig ausweiten. Was Chávez den Wahlsieg gekostet hat, war also die Enthaltung des eigenen Lagers. Dafür gibt es verschiedene Gründe. In den Monaten vor dem Referendum äußersten sich zahlreiche Stimmen innerhalb des Regierungslagers kritisch über den Reformvorschlag, denen jedoch offensichtlich zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Kritik wurde dabei nicht nur am Inhalt der Reform geäußert, sondern auch an der Art und Weise, wie sie durchgesetzt werden sollte. Im Gegensatz zur Verfassung von 1999 wurden nur wenige Artikel direkt von der chávistischen Basis vorgeschlagen, die meisten gingen von Chávez und der Nationalversammlung aus. Chávez hatte die Abstimmung zur Vertrauensfrage gemacht. Wer gegen die Reform stimme, tue das "gegen die Fortsetzung der Revolution, was zu einer Stagnation führen würde, und wer mit Ja stimmt, der tut das für Chávez". Diese Hochstilisierung zu einem erneuten Votum über die Präsidentschaft sollte wohl diejenigen überzeugen, die der Reform skeptisch gegenüberstanden. Doch der kurze Zeitraum, in dem die Vorschläge ausgearbeitet wurden, hat offensichtlich nicht ausgereicht, um die Basis zu überzeugen. Kritische Stimmen innerhalb des Chávismus wie Edgardo Lander hatten die Ablehnung der Verfassungsreform daher als das "kleinere Übel" bezeichnet. Der Soziologie-Professor an der Zentraluniversität UCV in Caracas bezweifelte, dass durch die Reform eine weitere Vertiefung der Demokratie im Land hätte erreicht werden können. "Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts muss entweder radikal demokratischer sein als die kapitalistische Gesellschaft oder er hat keine Chance, sich als Alternative zu präsentieren", so Lander. Der Chávismus brauche eine Diskussion darüber, was dieser Sozialismus eigentlich bedeuten solle. "Nur weil in der Verfassung immer wieder der Begriff ‚sozialistisch' vorkommt, lösen wir absolut nichts. Denn in Wahrheit weiß man nicht, worum es sich dabei handelt." Dass die Reform nicht angenommen wurde, gibt nun die Gelegenheit, diese Debatte zu intensivieren. Denn das Tempo, mit dem Chávez in diesem Jahr die Transformation des Landes vorantrieb, war auch vielen seiner Anhänger zu schnell. Der Wahlausgang ist daher nicht als Niederlage, sondern als Chance für das bolivarianische Projekt zu verstehen - vorausgesetzt, das Ergebnis stärkt die linke Basis und nicht das auf mehr Hierarchisierung hinwirkende rechte Lager innerhalb des Chávismus. Viele der positiven Veränderungen, die mit der Reform vorgesehen waren und die mit Mehrheiten innerhalb der Gesellschaft rechnen können, lassen sich auch ohne eine Modifikation der Verfassung realisieren. Darunter etwa die Einführung eines Sozialversicherungsschutzes für informell Beschäftigte. Und auch die Stärkung der Basismacht in Form der Kommunalen Räte wird ohne die Reform weitergehen. Eine weitere Chance liegt in der Entpersonalisierung des bolivarianischen Prozesses. Trotz aller Rhetorik von protagonistischer Demokratie ist der Chávismus ohne die Führungsperson Chávez nach wie vor undenkbar. In den Augen vieler Basisaktivisten garantiert der Comandante den notwendigen Zusammenhalt, um das bolivarianische Projekt gegen eine reaktionäre Opposition zu verteidigen. Es bleibt nun Zeit bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2012, um zu zeigen, ob sich die Basismacht so weit zu entwickeln vermag, dass sie auch ohne Chávez überleben kann. Denn als emanzipatorisches Projekt hat der Bolivarianismus nur dann eine Zukunft, wenn er auf basisdemokratische Strukturen baut, die eine Führungsperson wie Chávez langfristig überflüssig machen. Robin Stock und Tobias Lambert studieren Politikwissenschaften in Berlin und forschen derzeit in Venezuela über partizipative Demokratie und Kooperativen. Während des Referendums arbeiteten sie bei Radio Venezuela en Vivo mit. Dieser Beitrag erschienen zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 304
sopos 3/2008 | |||
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