Den Aufsatz kommentieren Keine Frage, es ist der Helm des MambrinZu einer fragmentarischen Utopie der Erkenntnisvon Marcus Hawel (sopos)Für Anosch. "Das Riesenei, aus dem jeden Augenblick das Monstrum eines jüngsten Tages ausschlüpfen kann, ist so groß, weil wir damals so klein waren, als wir zum ersten Mal vorm Ei erschauerten." "Ja, ich habe gegen Windmühlen gekämpft, denn es ist zu tiefst gleichgültig, ob man gegen Windmühlen kämpft oder gegen Riesen, so gleichgültig, daß es leicht ist, sie zu verwechseln. Ich besitze die Metaphysik der Kurzsichtigen." 1. Gleichgültig ist es nicht. Aber angesichts einer stetig sich weiter hermetisch entfaltenden Totalität der abstrakten Gesellschaft, die sich einen liberalen Anschein gibt, mag es schwierig geworden sein, der Ideologie der Riesen und ihrer Eier sich angemessen zu entziehen. Wie kann man überhaupt noch den Riesen von der Windmühle unterscheiden und nicht vor dem Monstrum eines jüngsten Tages erschauern, auch wenn man längst kein Kind mehr ist? Man kann es nicht – das macht einen menschlich und verrückt – aber gleichgültig? Die Gleichgültigkeit gegenüber den Wünschen und Ängsten ist bereits ein erster Anflug von Zynismus im Handeln. Für die Kurzsichtigen hat die Zivilisation die Brille erfunden. Wenn überhaupt, dann sollte man der Metaphysik der Blinden das Wort reden, die sich vom Schein nicht in die Irre führen lassen können. Der Weltgeist hätte es heute angesichts stahlharter Gehäuse und stummer Zwänge gesellschaftlicher Verhältnisse wirklich schwer, sich historischer Individuen zu bedienen, um sich zu verwirklichen. Machen die Menschen noch ihre Geschichte selbst? 2. Kein Traum, der nicht bräche an der Realität. Kein Träumen, das sich hinüberretten ließe ins Reale. Die Logik des Traumes ist ihre eigene und hält dem stumpfen Sinn, nach dem wir leben, nicht stand. Wenn wir träumen, außer im Schlaf, zerbrechen wir an uns. Manchmal ist die Realität gestrickt nach der Logik eines Traumes. – Das aber ist noch einmal ganz verschieden vom Traum selbst. Es ist ein Unterschied ums Ganze. Traum und Realität gehören nicht zusammen. Entweder wir zerbrechen an der stumpfen Realität oder wir machen sie uns nach der Logik eines Traumes. Um so schlimmer für die Realität. Niemals läßt sich verstehen, was wir träumen, ohne daß wir dabei träumen. Der Traum ist auf ewig verbunden mit dem ganz Anderen, hinter der die Realität herhinkt. Darum sprechen so viele davon, daß Träumer weltfremd seien. Dabei ist die Realität fremd. 2 ½ »Der Pfarrer forderte der Nichte die Schlüssel des Gemaches ab, wo die Bücher, die Anstifter des Unheils, sich befanden, und sie gab sie ihm mit gar vielem Vergnügen. Sie traten alle hinein, und die Haushälterin mit ihnen, und fanden mehr als hundert Bände großer, gutgebundener Bücher nebst andern, kleinern. Und wie die Haushälterin sie sah, ging sie in großer Eile wieder zum Zimmer hinaus, kehrte bald mit einem Näpfchen Weihwasser und einem Weihwedel zurück und sagte: ›Nehmt, Euer Würden, Herr Lizentiat, besprengt dieses Zimmer, damit kein Zauberer von den vielen, die diese Bücher enthalten, hier bleibe und uns verzaubere, um uns zu strafen für die Strafe, mit der wir sie belegen wollen, indem wir sie aus der Welt schaffen.‹« (Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote, Erster Teil, Deutsch von Ludwig Braunfels, Leipzig 1953, 6. Kap.) 3. Begriffloses Beobachten. – Hegel schreibt in der Phänomenologie, es habe keine Klarheit des Bewußtseins. »Das Bewußtsein sowie das Selbstbewußtsein ist an sich eigentlich Vernunft; aber nur von dem Bewußtsein, dem der Gegenstand als die Kategorie sich bestimmt hat, kann gesagt werden, daß es Vernunft habe; – hiervon aber ist noch das Wissen, was Vernunft ist, unterschieden.« (G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/Main 1970, S. 206) Seit Descartes ist die Vernunft damit beschäftigt, eine ganze Batterie von Gründen im Kampf gegen die Unvernunft zu schaffen. Die Ratio ist in ihrem Siegeszug gegen die Unvernunft bereits so weit fortgeschritten, daß sie mit Arroganz behaupten kann, das Andere der Vernunft sei der Wahnsinn; der Wahnsinnige jemand, der den ethischen Vertrag der Rationalität gebrochen habe und nunmehr dummes Zeug stammle oder mache. Die Reaktion der Vernünftigen gegen ihr Außen ist, wenngleich sie mit der Abschaffung der Martern und Foltern humaner geworden ist, in ihrer Striktheit und Konsequenz ähnlich brutal geblieben: der vermeintliche Wahnsinn wird ausgegrenzt, eingesperrt, isoliert. 4. Von trauriger Gestalt. Das Trotzdem lebt in dieser Welt in der Gestalt des Don Quijote. Auch wenn Tatendrang an realer Gegebenheit scheitert und einst komisch heutzutage aber tragisch anmutet: wir müssen uns diesen Ritter als einen ausgeglichenen Menschen vorstellen und ihm mit absurder Heiterkeit begegnen. Keiner ist ihm ein größerer Feind als der, welcher ihm seine Flausen aus dem Kopf kehren und den Zauber liquidieren möchte. Dem Geistlichen sei mit Heine geantwortet, daß dort wo man Bücher verbrenne – sind es auch nur Ritterbücher – am Ende auch Menschen verbrenne. Tragisch ist diese Figur geworden in dem Augenblick, in dem die Vernunft triumphierend über das Andere richtete: dieser Mann sei verrückt. Zugestanden: ver-rückt. Wahnsinn ist es, Menschen zu exkommunizieren, die noch Utopien besitzen trotz sinnstiftender Unvernunft an allen Orten. »Die Evidenz des Unheils kommt dessen Apologie zugute: weil alle es wissen, soll niemand es sagen dürfen, und gedeckt vom Schweigen mag es denn unangefochten weitergehen. Gehorcht wird dem, was die Philosophie aller Nuancen den Menschen in die Köpfe getrommelt hat: daß, was die beharrliche Schwerkraft des Daseins auf seiner Seite hat, eben damit sein Recht bewies. Man braucht nur unzufrieden zu sein und ist bereits als Weltenverbesserer verdächtig.« (Th. W. Adorno: Minima Moralia, Aph. 149) 5. Bewußtseinsströme. Der bürgerliche Roman hatte stets nur Illusion produziert. Selbst die nebensächlichsten Randfiguren waren mit deutlicherer Subjektivität ausgestattet als der wahrhafteste und selbstbewußteste Mensch in der Wirklichkeit. Und selbst das stream of conscious gebärdete sich noch intelligenter als die wirkliche Form der Gedankenströme selbst eines der Sprache mächtigen Intellektuellen. Was das Gehirn an Kauderwelsch tatsächlich von sich gibt, wurde seither von keinem Romanschreiber adäquat erfaßt. Solche Romane, die keine wären, würden auch nicht gelesen werden. Wenn wir uns ständig bewußt machten, wie selten wir in Worten, geschweige denn in vollständigen Sätzen denken und wie viel Schwachsinn wir in Gedanken produzieren, verlören wir den Glauben an unsere Vernunft nur zu Recht. Hegel hat richtig erkannt, wie sehr das Vergegenständlichte bereits vom Subjekt entfremdet ist. Es ist schwer in der Entäußerung sich zu erkennen. Das Geschriebene ist Amalgam subjektiver Empfindung sowie Denkleistung und der Gewalt objektiver Sprache. Letztere stellt zwecks Kommunikabilität prinzipielle Forderungen an die Realität, aber die Realität zwingt auch zur sekundären Verarbeitung von innerster Subjektivität. Resultat ist zugerichtetes Subjekt, das im Geäußerten aufgrund struktureller Gewalt Konzessionen mit dem Allgemeinen der Außenwelt eingegangen ist. Subjektivität als Idealvorstellung bleibt so mit Herrschaft verstrickt; wahre Subjektfähigkeit als tätige Schöpferkraft aus sich heraus unvorstellbar; das Genie eine gemeine Illusion. 6. Man sagt von jemandem mit schwachem Ausdruck, dieser sei der Sprache nicht mächtig. Aber sein Ausdrucksvermögen ist doch deshalb nicht schwach, nur weil dieser sich den allgemeinen Regeln der Sprache nicht unterworfen hat. Man muß eher davon sprechen, daß umgekehrt: die Objektivität der Sprache sich des Bewußtseins der Menschen bemächtigt. Die Sprache beherrscht den Menschen, nicht vice versa. Es ist Gewalt, vermöge derer die Sprache das Bewußtsein zurichtet zur allgemeinen Objektivität, die einen Gedanken in der Sprache verständlich macht für andere. Aber die Authentizität des Gedankens geht in der Sprache verloren; geht sie aber annähernd nicht verloren, spricht man von der »Schwäche« des Sprachvermögens. Sprache ist Gewalt gegen den Gedanken, der in das starre Korsett und in spanische Stiefel der allgemeinen richtigen Syntax, Grammatik und Semantik, in Logik und Orthographie eingeschnürt und stranguliert wird. Es ist wie mit der lebendigen Arbeit, deren phantasiegeladene Schöpferkraft durch das Joch der Kapitalinteressen geschleift wird und dabei sämtliche Facetten, die für den kapitalistischen Betrieb unproduktiv, weil nicht verwertbar sind, abgestreift werden; bis vollends nur noch das Gerippe der instrumentellen Vernunft als wissenschaftliche Produktivkraft übrigbleibt: Zweck-Mittel-Denken. Auch die Sprache hat diese objektiven, gewalttätigen Züge der kapitalen Disziplinierung an sich. Noch der wahre Gedanke, den zu retten es doch gilt, wird von der Objektivierung erfaßt in dem Maße, wie das Subjekt selbst objektiviert wird: Kulturindustrie macht uns in manipulierten Bildern denken, erzeugt falsche Gefühle und falsche Bedürfnisse. Repression statt Phantasie ist die Devise der kulturindustriellen Reaktion. 7. Zynisch ist es zu sagen, die Bilder seien die Begriffe der Sprachlosen, wenn es gesagt wird in dem Sinne, der sowohl die Bilder als auch die Sprachlosen zu etwas Minderwertigem machen soll. Vielmehr zeigt sich in den Bildern ein Potential dialektischer Begrifflichkeit. Sprache ist linear und deshalb recht starr. Nur über den Inhalt läßt sie sich dialektisch gestalten, aber der Form nach ist sie undialektisch und arbeitet gegen den Inhalt an. Wenn Hegel behauptet, das Ganze sei das Wahre, so ergibt dies für Sprache allgemein den Hinweis: nur aus der Zusammenschau der linear artikulierten Sätze, im Zusammendenken, im Zugleich, läßt sich die starre Linerarität aufbrechen und Dialektik bewahren. Denken vollzieht sich allerdings auch in Bildern und Gefühlen: die Allegorie ist das gedachte Bild als Begriff. Solch mit Symbolen und Metaphern aufgeladenes Denken und Empfinden berstet fast ob lebendiger Dialektik. Aber bereits in der Entäußerung verliert sich ihr Wahrheitsgehalt. Auch deshalb ist kein Gedanke immun gegen seine Kommunikation. (Adorno) Allenthalben sind freilich die Bilder, die wir durch Kulturindustrie präsentiert bekommen, beschädigt: sie besitzen keine Begrifflichkeit mehr. In ihrer immer schneller werdenden Abfolge bewirken sie eine permanente Reizüberflutung. – Sie verhindern Denken; sei es sprachlich oder nicht-sprachlich. Deshalb sind die beschädigten Bilder weder Begriffe noch Sprache überhaupt. Sie sind das Mittel der Repression. 8. Sprachlose Utopie. Manchmal stellt sich angesichts dessen ein Gefühl der Hilflosigkeit ein. Es ist ein Gefühl, das nicht begreifbar ist mit den Mitteln der Sprache. Die Sprache, so objektiv sie ist, vermag dieses halb durchdachte Gefühl nicht zu erfassen, ohne es als Ganzes zu verfälschen; es allenthalben als Nicht-Identisches im verfremdeten und künstlich konstruierten, ja willkürlichen Identischen zu berühren: Als Identifiziertes ist es lediglich Nicht-Identisches im Identifizierten. Aber als Nicht-Begriffliches ist es begreifbar. Darum nenne ich es als Begriff: das Gefühl des Yronalen. – Kein bisher bestehendes Wort darf dieses Nicht-Begriffliche Gefühl als Begriff bezeichnen. Weil es eigentlich nicht zu bezeichnen ist. Vermöge bestehender Sprache rutschte das yronale Gefühl in den Sog der Objektivität, in gängige Praxis der Vermittlung hinein. Das Gefühl sähe sich plötzlich konfrontiert mit identifizierender Logik und verlöre seine Authentizität. Das Gefühl des Yronalen ist mit allem außer mit sich selbst inkommensurabel. – Wird es mit etwas vereinbar gemacht, gelangt es zur Nicht-Identität mit sich selbst. Und doch muß es als Nicht-Begriffliches zu bezeichnen sein. Hier ergibt sich eine Konzession an die Wirklichkeit, die dieses Gefühl auch für sich selbst beansprucht: y-r-o-n-a-l – eine Konzession an das System der Zeichen. Es sind Buchstaben, und diese gehorchen dem Prinzip der Aussprechbarkeit. Das Gefühl des Yronalen überfordert aber ansonsten die Sprache, weil diese nicht auf die Hingabe zur fast vollständigen Subjektivität sich einlassen darf, ohne ihr Wesen zu opfern. Das yronale Gefühl ist fast reine Subjektivität, jedenfalls etwas, das bisher den Greifarmen der Objektivierung entgangen ist oder sich jedes Mal auf Neue einstellt. Gleichwohl ist dieses Gefühl als abstraktes, vom Ganzen Isoliertes ebenso als Allgemeines erfaßbar. Dies wäre die erste Stufe der Objektivierung. Yronales Gefühl ist, von der Äußerlichkeit betrachtet, selbst recht abstrakt, weil es der Sprache sich nicht bedienen kann; – jedenfalls nicht konkreter als es hier versucht wird. Nach innen ist dieses Gefühl allerdings das konkreteste. Es ist unbestimmt bestimmtes Gefühl, Bild, Geruch, Geräusch, Geschmack, aber nicht auf der Haut, nicht in den Augen, nicht in der Nase, nicht in den Ohren und nicht auf der Zunge. Das yronale Gefühl ist Abkömmling der Emphase. Als solches ist es unmittelbare Wahrheit im Subjekt, die in sich auf Einverständnis, auf Identität, auf Versöhnung stößt, aber nicht vermittelbar ist, ohne an Wahrheit zu verlieren. Jeder Versuch der Vermittlung würde aus der absoluten Identität eine absolute Nicht-Identität machen. Darum ist es besser, man schweigt in solchen Augenblicken. Das Gefühl des Yronalen ist das sichtbarste Zeichen der Vereinsamung. Es gilt aber, solche Wahrheit auszuhalten. Geboren wird ein Don Quijote. 8 ½ »Bald darauf bekam Don Quijote einen Reiter zu Gesicht, der auf dem Kopfe ein Ding trug, das wie Gold glänzte, und kaum hatte er ihn erblickt, da wandte er sich zu Sancho und sprach: ›Es will mich bedünken, Sancho, es gibt kein Sprichwort, das nicht die Wahrheit sagt; denn alle sind sie Sprüche, die aus der Erfahrung selbst, der Mutter aller Wissenschaften, entnommen sind, namentlich jenes, das da lautet: Wo eine Tür sich schließt, tut sich eine andere auf. Ich sage dies deshalb: wenn das Glück diese Nacht uns seine Türe zuschloß, als wir es suchten und es mit den Mühlstämpfeln täuschte, so schießt es uns jetzto eine andre weit auf zu einem andern, bessern einem zweifellosern Abenteuer, und wenn es mir nicht gelingt, durch diese Türe einzugehen, so wird die Schuld die meine sein, ohne daß ich sie auf meine geringe Kenntnis von Mühlstämpfeln oder auf die Dunkelheit der Nacht schieben darf. Und dies sag´ ich, weil, wenn ich mich nicht täusche, jemand auf uns zukommt, der den Helm des Mambrin auf dem Kopfe trägt, ob dessen ich den Schwur getan, den du weißt.‹« (Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote, a.a.O., 21. Kap.) 9. Emphasis. Ein Denken, das für sich in Anspruch nimmt, eine wertneutrales zu sein, sieht nicht die Affinität zur bewußtseinverfälschenden Triebdynamik: Emotion, Motiv und Bedürfnis sind Kategorien, die vom Subjekt nicht zu trennen sind. Vernunft, die auf das Moment der Objektivität im Subjekt besteht, nimmt implicite Partei für den status quo bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse; sie wird zur Apologie des Positiven. Kritik des Positiven bedeutet hingegen Apologie des Negativen. Das Postulat der Werturteilsfreiheit ist Ausdruck der Verschleierung bürgerlicher Ideologie, wodurch sie sich petrifizieren wollte. Die Zähmung kritischen Denkens hat als Schreckgespenst die Verwitterung des Steins, den Untergang des Bürgertums, überlebt und vermag als Postmoderne das Neue als Ganzes nicht zu fassen. 10. Einfühlung. Die Annäherung an den Begriff des Empathischen ist ein schwieriges Unterfangen. Es scheint, als erblicke man kein Land bei dieser Unternehmung. Denn zunächst reproduziert man nichts anderes als das Falsche, das bereits in der Frage enthalten ist, was das Empathische denn sei: die gewordenen Trennungen von Denken und Sein, Subjekt und Objekt, Kultur und Natur, innere und äußere Natur, Vernunft und Sinnlichkeit sind bereits falsch; die dialektische Vernunft versucht diese Trennungen wieder aufzuheben, doch nicht ohne auch in diesen Trennungen zu denken. Und die Synthese der dialektischen Bewegung ist zwar Identität, aber dennoch die Identität von Identischem und Nicht-Identischem. Es wird Trennung aufgehoben: zugleich aufbewahrt und negiert. Was einmal getrennt, scheint nicht mehr zum Ursprünglichen zurückkehren zu können. Nicht Regression, sondern synthetischer Fortschritt im Falschen, macht Dialektik aus, wodurch die Betrachtung auf den Gegenstand nicht richtig, sondern weniger falsch wird. Empathie verging mit ihrem Begriff. Einfühlung lebte von der Unbegriffenheit. Es gilt das Nicht-Identische in der Begriffswerdung festzuhalten, worin ihre Zurichtung sich erkennen läßt. Wo Empathie mit Vernunft identisch wird, hört sie auf Einfühlung zu sein und beginnt, bloße Eindringung zu werden. Solche Eindringung verliert zuletzt im Positivismus selbst ihre Wirklichkeit, dessen Evidenz-Postulat das Verweilen in den Dingen verhindert und Ein-Sicht von außen an seine Stelle setzt. Empathie läßt sich in der heutigen Welt nunmehr noch im Bewußtsein der Zugerichtetheit formulieren, ganz im Sinne Adornos, der in Minima Moralia schreibt: »Was überhaupt im bürgerlichen Verblendungszusammenhang Natur heißt, ist bloß das Wundmal gesellschaftlicher Verstümmelung.« (Aph. 59) Empathie verging mit ihrem Begriff; sie ist das Nicht-Identische der Vernunft. Mit ihrem Begriff wird sie von der Vernunft aufgehoben oder, was dasselbe heißt: Empathie wird im Begriff identisch mit Vernunft und hört deshalb auf, Empathie zu sein. Freud hat in der Psychoanalyse nicht wirklich Rationalität und Gefühl wiedervereinigt, sondern ein zugerichtetes Gefühl der Rationalität subsumiert. Er hat das Außen des bürgerlichen Individuums, die bürgerliche Gesellschaft, nach innen reproduziert und damit bürgerliche Kälte verdoppelt; er hat ganz klassisch damit die Marxsche These bewiesen, wenn auch ungewollt, daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimme. Den Begriffen, mit denen Freud die Psyche beschreibt, haftet die bürgerliche Ratio an: das Triebhafte und Unbewußte wird nicht wirklich empathisch genommen, sondern verweist in seiner verdinglichten und naturwissenschaftlichen sowie technologischen Sprache auf den Triumph der Vernunft, die mit einem vernünftigen Empathie-Begriff arbeitet und deshalb Psyche nicht wirklich erklären kann, indem sie Begriffe schafft, statt nicht-begrifflich sich zu verhalten. Es sind »verfremdende Rätselbilder des Gedankens«, wie Adorno sagt, und er spricht deshalb von der Nötigung und Notwendigkeit, »dialektisch zugleich und undialektisch zu denken.« (Aph. 98) Bis in das vierte Jahrhundert hinein gab es den Kult der Ophiten. Die Menschen dieses Kultes haben die Schlange verehrt (Ophis = Schlange). Die Schlange galt ihnen als äquivokes Symbol: für Weisheit und Sinnlichkeit. Hier stand vermutlich Vernunft noch in keinem Gegensatz zur Empathie. Doch dorthin können wir nicht zurück. – Das hieße, zu verkennen, warum es überhaupt zur Trennung kam. Wir sind an das falsche Leben mit Gedeih und Verderb gebunden; in ihm kann es kein richtiges geben, aber ein weniger falsches: es besteht darin, dialektisch zu denken; heißt: dialektisch und zugleich undialektisch zu denken. 11. Sprache als Utopie. In ihrer letzten Frankfurter Vorlesung »Literatur als Utopie« aus dem Jahre 1960 geht Ingeborg Bachmann auf eine Anweisung Goethes ein, bei der Suche nach dem Musterhaften stets zu den alten Griechen zurückzugehen, alles historisch zu betrachten und das Gute daraus sich anzueignen. Solche Anweisung sei, so Bachmann, zu Recht arg in Mitleidenschaft gezogen worden. »In dem Wunsch, etwas Musterhaftes an einen Ursprung zurückzuverlegen, versteckt sich jedoch der Wunsch, etwas nach vorn aufzurichten, ein Unangemessenes mehr als ein Maß, das bei aller Annäherung nicht zu erreichen sein wird.« (Ingeborg Bachmann: Werke, Bd. 4, München 1993, S. 264f.) Goethes Griechen müsse man deshalb als eine Chiffre begreifen: als das »Vollendete in der Kunst«, welches immer wieder von neuem das »Unvollendete in Gang« setze. (Ebd., S. 268) Die vorgefundene Sprache, sagt Bachmann, ist schlecht; die eine und vollkommene habe noch nie regiert – mit Ausnahme unsere nachahmende Ahnung. Als Fragment besitzen wir die Sprache der Utopie. »Es gilt weiterzuschreiben.« (Ebd., S. 271) Und Ernst Bloch schreibt weiter: »Als umwälzende, als Sprache eines Heraufkommenden kann Philosophie vielmehr, ohne abstrakt zu werden, ante rem stehen, nämlich so, als stünde sie, wie Hannibal, ante portas. Spricht eine große Philosophie den Gedanken ihrer Zeit aus, so spricht sie ebenso aus, was dieser Zeit fehlt und was in der kommenden fällig ist. So erst wühlt und leuchtet sie dem latent Neuen entgegen, nämlich der besseren Gesellschaft, wahreren Welt.« (Ernst Bloch: Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt/Main 1971, S. 376) 11 ½ »›Was ich sehe und erspähe‹, entgegnete Sancho, ›ist nichts anderes als ein Mann auf einem Esel, dunkelgrau wie der meinige, der auf dem Kopfe etwas Glänzendes trägt.‹ ›Das ist eben der Helm des Mambrin‹, sagte Don Quijote. ›Mach dich auf die Seite und laß mich allein mit ihm, da wirst du sehn, wie ich, ohne ein Wort zu reden, um Zeit zu ersparen, mit diesem Abenteuer zu Ende komme und der Helm mein wird, den ich so sehr ersehnt habe.‹« (Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote, a.a.O., 21. Kap.) 12. Kryptik. Erkennen ist Arbeit des Begriffs im Geflecht von Undurchsichtigkeiten. Vorgekaute Erkenntnis macht wie leichte Kost nicht satt. Zudem ergeht es ihr wie dem Bekannten, das, wie Hegel in der Phänomenologie sagt, nicht erkannt sei: »mit allem Hin- und Herreden kommt solches Wissen, ohne zu wissen wie ihm geschieht, nicht von der Stelle.« (Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 35) Die geistige Anstrengung des Erkennens ist auf die subjektive Bestimmtheit des Gegenstands verwiesen; sie ist eine ganz individuelle Auseinandersetzung von Subjekt und Objekt, die kein anderer für einen leisten kann. Das Zuerkennende muß in den geistigen Besitz des Erkennenden übergehen oder, was dasselbe meint: das Vermittelte muß im Subjekt unmittelbar werden; dann erst ist es wirklich erkannt. Je evidenter ein vermittelnder Gedanke, desto unwirklicher das Erkennen. Hegel schreibt über das Selbstbewußtsein, es bestimme und bewähre sich in dem Kampf auf Leben und Tod mit einem anderen Selbstbewußtsein. »Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins als einem selbständigen Selbstbewußtseins nicht erreicht.« (Hegel, a.a.O., S. 149) Im Erkenntnisprozeß kämpfen Subjekt und Objekt miteinander. Das Resultat des Erkennens, die Erkenntnis, ist auch Selbstbewußtsein. Kryptik muß keine Bosheit, sondern kann dem Gegenstand verpflichtet sein. Vermittlung ergibt sich durch die Anreizung des Willens zum Wissen. »Der Geist arbeitet sich nur solange in den Gegenständen herum, so lange noch ein Geheimnis, Nichtoffenbares darin ist.« (Hegel: Werke X II, S. 231) 13. Hegel sagt, daß das Wesen erscheinen müsse. Hätte er doch gesagt, daß wir das Wesen erscheinen machen. Die Differenz von Wesen und Erscheinung interessiert uns nur deshalb, weil wir das Ding unterschiedlich scheinen machen. Gleichgeschaltete Bewußtseine machen gleichen Schein; dann wäre Wesen und Erscheinung absolut identisch und uns interessierte die Differenz nicht mehr, weil es sie nicht mehr gäbe. Darin unterscheiden sich Faschismus und Positivismus kaum. Die doppelte Identität, die das Ding durch die Differenz von Wesen und Erscheinung erhält, ist einerseits durch Angst vor dem Ding zu erklären. Andererseits heißt das nicht, daß Wesen und Erscheinung absolut identisch werden, wenn keine Angst mehr vor dem Ding existiert. Gerade das Wissen von dem Ding soll die Angst abbauen, aber auch mythisches Wissen hält Angst in seinem Bann und ist zugleich das sichtbarste Zeichen der Differenz von Wesen und Erscheinung. Wesen ist seit der Moderne Struktur. Die Struktur ist abstrakt. Erscheinung ist seit der Moderne das sinnliche, stoffliche Ganze: Konkretes. Nicht die Struktur erscheint, sie ist aber aufgehoben im Ganzen, das erscheint. Zugleich machen wir das Ganze erscheinen. Das Ganze hat also einen richtigen und einen falschen Schein? 13 ½ »In dieser Gegend befanden sich zwei Ortschaften, die eine so klein, daß sie weder Apotheke noch Barbier hatte, die andre, dicht dabei liegende, hingegen hatte beides; und so bediente der Barbier der größern auch die kleinere. In der letzteren sollte ein Kranker zur Ader gelassen und einem andern der Bart geschoren werden, und deshalb kam der Barbier und hatte eine Bartschüssel von Messing bei sich. Das Schicksal wollte, daß es zur Zeit, wo er unterwegs war, zu regnen anfing, und damit sein Hut, der wohl neu sein mochte, keine Wasserflecken bekomme, stülpte er die Bartschüssel auf den Kopf, welche weil sie sauber abgerieben war, eine halbe Meile weit glitzerte.« (Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote, a.a.O., 21. Kap.) 14. Arbeit ist Verformung des Gegenstands. Wahrheit ist Produkt der Arbeit. Es stimmt, daß wir nur das adäquat erkennen können, was wir selbst produziert haben. Um auch andere Gegenstände erkennen zu können, benutzen wir einen Trick: wir entwerfen abstrakte Baupläne, die wir auf die gesamte empirische und außerempirische Wirklichkeit anwenden. So etwa suchen wir, wie Nietzsche sagt, nach dem Säugetier, nachdem wir das Prinzip des Säugetiers entworfen haben. Der Elefant ist deshalb ein Säugetier, weil wir ihn als solchen konstruiert haben. Heißt das: es gäbe den Elefanten nicht, wenn wir nicht den Bauplan des Säugetiers zuvorderst entworfen hätten? Das Objekt existiert auch ohne das Subjekt, welches das Objekt erst zum Objekt macht. Aber es hätte keine Relevanz für uns. Es gibt vieles, das ungesehen ist, als wäre es nicht da. Sein ist wahrgenommen werden (Berkeley). Das ungesehene existiert, sonst wäre es nicht un-gesehen. Aber es existiert nicht für uns und ist somit nicht Gegenstand von Wahrheit. Das Subjekt existiert auch ohne Objekt, aber nur solange es die Luft anhalten kann? Selbst die Luft ist Objekt, und diese braucht das Subjekt zum Atmen. 15. Selbstbewußte Entfremdung. Die Arbeit der Entäußerung ist Gewalt am verformenden und werdenden Objekt. Bei Hegel ist Entäußerung bereits Entfremdung; bei Marx die Chance, sich selbst zu erkennen. Je mehr die Arbeit aber geteilt wird und zudem unter dem Primat des Lohnes steht, desto weniger vermag das Subjekt in der Arbeit sich zu erkennen. Das kapitalistische Produktionsverhältnis produziert Entfremdung per se. Das Selbstbewußtsein im Kapitalismus ist gleichzeitig entfremdet von seiner Entäußerung. Aus diesem Grund versuchen die Subjekte die entäußerten Objekte wieder einzuverleiben. Das bürgerliche Verständnis von Besitz und Eigentum trägt der Angst Rechnung, die Entfremdung durch Entäußerung zu perpetuieren. Der Geldfetisch verschleiert jene Angst gänzlich: Geld beruhigt. – Die Psychoanalyse hat mit der analen Phase aufgedeckt, daß selbst das Zurückhalten des eigenen Unrats eine Lust verschafft, die wohl die Angst vor dem Verlust kompensiert. Auch der Wille zum Wissen ist der Wunsch nach Aufhebung der Entäußerung durch Zurücknahme ins Subjekt. Die Analyse als Mittel der Verinnerlichung ist nichts anderes aber als Gewaltausübung gegenüber den Objekten. Die Objekte werden zerstückelt und in ihren Einzelteilen erinnert und zum Ganzen wieder zusammengefügt. Solche Gewalt meint sich an der Entfremdung rächen zu können. Selbst die Anstreichungen in einem Buch, vermöge derer einzelne Gedanken dekontextualisiert, d.h. aus dem Zusammenhang gerissen werden, sind gewalttätiges Verhalten dem Objekt gegenüber und dienen als Hilfe zur Verinnerlichung. – Euphemistisch wird es Lernen genannt. De facto ist Wissenschaft aggressiv. Humboldts Gewalt der Klassifizierung, Definition, Eingrenzung, Ausgrenzung steht hierfür exemplarisch am Anfang von Wissenschaft: die vielen Schmetterlinge, die aufgespießt wurden, lediglich des Begriffs wegen, können schon nicht mehr gezählt werden. 16. Das Subjekt ist selbst Objekt. Eine starre Trennung von Subjekt und Objekt ist unsinnig. Der Schein, den das Subjekt macht, ist verwiesen auf das Wesen des Objekts. Das Wesen ist objektiv; wenn es für uns ist, dann nur vermöge subjektiver Affinität. Der Schein ist subjektiv; nur wenn das Objekt für uns ist; also nur vermöge objektiver Affinität. Oder, was dasselbe heißt: Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist dialektisch: Die Betrachtung des Objektes ist die Subjektivierung des Objektes. Die Verinnerlichung des Objektes in das Subjekt, Resultat der Vermittlung, ist die Objektivierung des Subjektes. 16 ½ »›Was haltet Euer Gnaden, meine Herren‹, sagte der Barbier, ›von der Behauptung dieser edlen Herren, da sie beharrlich dabei bleiben, es sei dies keine Bartschüssel, sondern ein Helm?‹ 17. Der Verzicht auf objektive Wahrheit bedeutet nicht, daß Wahrheit nicht objektiv ist; nur ist sie es nicht mehr einzig. Wenn Wahrheit nicht objektiv, d.h.: allgemein, unmittelbar nachvollziehbar wäre, woran könnten wir dann unsere persönlichen Absichten messen? Ein Maßstab muß her, und dieser ist das Objektive, das allen gemeinsame. Ich will es Wahrheit nennen, ohne damit den Konsens zu meinen. Früher haben die Menschen solche Wahrheit naturrechtlich begründet. Das aber, was als unmittelbar einsichtig erscheint, ist selbst ein Vermitteltes: vermittelte Unmittelbarkeit. Es hat schon eine längere Zeit gebraucht, ethische Grundsätze als selbstverständlich hinzunehmen. Es war ein Prozeß des Einsehens in die Notwendigkeit, die für uns heute sich als Freiheit vorstellt. Freiheit bedingt Wahrheit. 18. Gott ist tot. Es war ein vernünftiger Gott, dessen Existenz die Menschen über Jahrhunderte ontologisch zu beweisen versuchten. Unter dieses Unterfangen hat Nietzsche einen Schlußstrich gezogen. Es scheint, als kommen die Menschen ohne Gott viel besser aus. Die Vernunft aber war von dem Augenblick an göttlich in diesem Sinne, wie auch das Geld göttlich ist, an dem Denken, Dialektik gar, sich formte. Die Wahrheit des Denkens hat einen Preis und ist zugleich wie das Geld inflationär. Denn nicht den Dingen haftet der Wert an sich an, sondern Wert ist ein gesellschaftliches Verhältnis. Die Wahrheit ist nicht an sich, nicht objektiv in diesem Sinne, nicht göttlich absolut; sie ist ein gesellschaftliches Verhältnis und deshalb inflationär. 19. Aber auch davor hat es Wahrheit gegeben. Wahrheit ist ein Prozeß. Das Objekt determiniert das Subjekt, das das Objekt wiederum am Laufen hält. Oder anders gesagt: das Subjekt macht das Objekt bewegen und umgekehrt. Damit ist alles im Werden. Begriff und Sache stehen im Widerstreit: sie jagen sich gegenseitig. Mal schießt der Begriff über sein Ziel hinaus; dann greift er ins Mögliche, aber noch nicht wirkliche, oder ins Prophetische oder ins Leere. Das Objekt eilt indes hinterher. Trifft der Begriff seinen Gegenstand, so spricht man von Identität, die aber, solange das Ding noch im Werden ist, nicht absolut und deshalb bloße Verdopplung ist, die nicht mehr zu sagen imstande ist, als bloß: es ist. Wahrheit besitzt einen Zeitkern. Solange die Zeit die Wahrheit trifft, spricht man von der adäquatio von Gegenstand und Begriff. Die ganze Welt entwickelt sich nicht ganzheitlich. In den unterschiedlichen Räumen treten Ungleichzeitigkeiten auf, die aufgrund ihrer entwickelten Verschiedenheit unterschiedene Wahrheiten produzieren, die miteinander in Widerspruch geraten und sich gegenseitig beeinflussen können. Wahrheit besitzt neben der zeitlichen Komponente also auch noch eine räumliche. Damit wird die zeitliche aber zu einer zeitlich-räumlichen und die räumliche zu einer raum-zeitlichen. Oder anders gesagt: das Verhältnis von Raum und Zeit ist dialektisch. 19 ½ »Für diejenigen, welche schon Kunde von Don Quijotes Sparren hatten, war das alles ein Stoff zu unendlichem Lachen; aber denen, die nichts davon wußten, schien es der größte Unsinn der Welt, besonders den vier Dienern des Don Luis, und dem letzteren nicht mehr noch minder, und so auch drei Reisenden, die soeben zufällig in die Schenke gekommen waren und wie Landreiter aussahen, was sie auch wirklich waren. Wer aber am meisten außer sich geriet, das war der Barbier, dessen Bartschüssel sich ihm vor seinen Augen in den Helm des Mambrins verwandelt hatte und der gar nicht daran zweifelte, daß auch sein Eselssattel sich ihm in ein reiches Pferdegeschirr verwandeln würde. 20. Übertreibung. Wenn der Begriff über seinen zu erfassenden Gegenstand hinausgeschossen ist, so kann damit auf ein telos hingewiesen werden. Dieses telos mag positiv oder negativ sein, als Seinsollendes oder Nicht-Seinsollendes vorgestellt werden. Damit begibt sich die Wahrheit in emphatisches Gewässer. Der kühlen ratio ist die Emphase nicht geheuer. Die Idiosynkrasie der instrumentellen Vernunft gegenüber Leidenschaft, Pathos und Liebe entspringt dem Selbst, das sich haßt und projiziert, weil es dieser drei verlustig ging. Emphatisch ist die Wahrheit, weil Wahrheit nur für den Menschen ist. Der Mensch aber ist kein Mensch, wenn er nicht emphatisch ist. Der instrumentellen Vernunft fehlt mithin etwas wesentliches, um Wahrheit zu sein. 21. Hebamme. Marx wußte, daß die herrschenden Gesetze immer die Gesetze der Herrschenden sind. In diesem dialektischen Gedanken findet sich ein Impetus zur Aufhebung des Rechts oder, was dasselbe bedeutet: zur Aufhebung von Herrschaft an und für sich. Eine herrschaftsfreie Gesellschaft benötigt keine Gesetze. Nicht Chaos und der Hobbes’sche Naturzustand wären zu befürchten, weil mit Aufhebung blanke Negation von Herrschaft keineswegs gemeint ist. – Sondern die Verwirklichung der sittlichen Idee Hegels: die Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem ohne die geringste Spur von Erpressung. Dort, wo der Einzelne im Allgemeinen sich wiedererkennt, ohne daß ihm Totalität frontal wäre, bedarf es der Gesetze wie der Herrschaft nicht mehr. Jedweder Wille zur Unterdrückung und Inhumanität wird schließlich undenkbar. Dorthin jedoch muß die Menschheit erst gelangen, und es scheint noch ein unvorstellbar langer Weg zu sein. Gewalt ist, wie Marx im Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation schreibt, »Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht«. (MEW 23, S. 779) Damit kann aber Gewalt nicht generell, wie Dühring glaubte, das »absolut Böse« (MEW 20, S. 171) sein. Mit Marcuses Worten läßt sich Gewalt in revolutionäre und reaktionäre unterteilen. »Hinsichtlich der geschichtlichen Funktion«, schreibt er, »gibt es einen Unterschied zwischen revolutionärer und reaktionärer Gewalt, zwischen der von Unterdrückten und der von Unterdrückern geübten Gewalt.« (Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt/Main 1967, S. 114) Die revolutionäre Gewalt fungiert als Werkzeug »womit sich die gesellschaftliche Bewegung durchsetzt und«, so Engels im Anti-Dühring, »erstarrte, abgestorbene politische Formen zerbricht« (MEW 20, S. 171). Unbenommen ist das Urteil, jede Form von Gewalt sei, ethisch betrachtet, unmenschlich, – als absolut Böses ließe sie sich auch bestimmen. Gewalt produziert nichts im eigentlichen Sinn. Aber das telos der Gewalt, ob vorwärts oder rückwärts gerichtet, relativiert das pauschale Urteil der ethischen Betrachtung. Darum antwortet Marcuse auch: »– aber seit wann wird Geschichte nach ethischen Maßstäben gemacht?« (Marcuse, a.a.O., S. 114) 21 ½ »›Es könnte der Sattel einer Eselin sein‹, sagte der Pfarrer. 22. Apologetischer Charakter der Kritik der Vernunft. Kritik der Vernunft besagte einst, das Denken habe sich frei zu machen von unwirklicher Spekulation und Metaphysik, die aus religiösem Bedürfnis sich nährten und der Täuschung irdischer Mächte anheim fielen, wo der Blick ins Überirdische gerichtet war. Evidenz und ausgebildete Logik bereiteten das Feld von Wissenschaft und das Reich des Positiven. Insofern ist diese Kritik progressiv gewesen und in ihrem eigentlichen Sinne erst Kritik. Kritik der Vernunft besagt auch, das Denken habe das Positive auseinanderzusetzen, mit dem telos des Vernünftigen sich zu identifizieren, sich freizumachen von Instrumentalisierung durch Herrschaft. Hierfür stehen das Prinzip der bestimmten Negation und das der Aufhebung durch ein selbstbewußtes Subjekt. Utopie und Theorie bereiten das ganz Andere, das Reich der Freiheit, vor. Insofern ist diese Kritik negativ und darum erst im eigentlichen Sinne Kritik; sie könnte zugleich auch progressiv sein. Beide Seiten der Kritik der Vernunft sind heute aber apologetischen Charakters durch den, der sie äußert mit der Absicht, die Vernunft als Mittel sowie als Zweck dem Bestehenden entgegenzuhalten. – Nicht, weil das Vernünftige tatsächlich wirklich geworden sei, sondern weil Vernunft wirklich oder unwirklich wird mit der Frage des Subjekts: steht das Subjekt, so ist die Kritik prädikativ; Kritik des Subjekts im äquivoken Sinne. Ist das Subjekt aber bereits gefallen (oder war es stets nur eine bürgerliche Illusion), so steht Kritik nur für sich, als isoliertes Subjekt ohne Prädikat und ist deshalb nicht wirklich. – In einer solchen Situation aber trotzdem geäußert, kann die Kritik nur noch zur Festigung des Bestehenden beitragen, indem sie überhaupt nicht mehr Freiheit und Vernunft zu verwirklichen vermag, aber die Menschen in diesem Glauben, sie könnte es, beläßt. Herrschaft bräuchte nicht einmal mehr Vernunft für sich zu instrumentalisieren, sondern könnte mit der Arroganz des Siegers solche Vernunft machen lassen, ohne eigenen Machtverlust befürchten zu müssen. 22 ½ »Don Quijote lachte laut auf (...) und sprach mit vollster Gelassenheit: ›Kommt mal her, schmutziges Volk! Also den Gefesselten die Freiheit wiedergeben, die Gefangenen von den Banden lösen, den bedrängten Beistand leisten, die Gefallenen aufrichten, die Hilfeflehenden aus der Not erretten, das heißt ihr Straßenraub? Ha, nichtswürdiges Gesindel! Um eures niedrigen, pöbelhaften Sinnes willen verdient ihr, daß der Himmel euch niemals offenbare, welch hohe Bedeutung die fahrende Ritterschaft in sich trägt, und euch niemals erkennen lasse, in welcher Sündhaftigkeit und Verstocktheit ihr wandelt, wenn ihr nicht den bloßen Schatten, wieviel mehr die wirkliche Anwesenheit eines jeglichen fahrenden Ritters in hohen Ehren haltet. Kommt mal her, ihr Landräuber und nicht Landreiter, ihr Wegelagerer unter dem Freibrief der heiligen Verbrüderung, sagt mir: Wer war der Verblendete, der einen Haftbefehl gegen einen Ritter, wie ich bin, unterzeichnet hat? Wer war´s, der nicht wußte, daß die fahrenden Ritter von aller gerichtlichen Obergewalt befreit und ausgenommen sind, daß ihr Schwert ihr Recht, ihr Mut ihre Regel, ihr Wille ihr Gesetz ist? Wer war der Tollhäusler, sag´ ich wieder und wieder, der nicht weiß, daß es keinen Adelsbrief mit so viel Vorrechten und so viel Ausnahmsvergünstigungen gibt, als wie ihn ein fahrender Ritter an dem Tage erwirbt, wo er den Ritterschlag empfängt und sich dem harten Beruf des Rittertums hingibt?‹« (Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote, a.a.O., 45. Kap.) Kontext:
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