Den Aufsatz kommentieren "Free Palestine, boycott Israel"Das Europäische Sozialforum in Paris war auf einem Auge blindvon Steffen SchüleinIn einem Moment, in dem der Kampf gegen den Sozialabbau europäischer Regierungen uneingeschränkte Unterstützung benötigt, sorgt die globalisierungskritische Bewegung mit ihrer Interpretation des Nahostkonflikts für Polarisierung - innerhalb und außerhalb der Bewegung. Schon im Vorfeld des Europäischen Sozialforums (ESF) war über die antisemitischen Äußerungen des Podiumsredners Tariq Ramadan diskutiert worden und es fanden einige Seminare zum Thema Antisemitismus statt. Brisant wurde das Thema jedoch nicht nur durch das Anwachsen des Antisemitismus in Europa, sondern auch dadurch, daß nur wenige Veranstaltungen beim ESF den Nahostkonflikt aus differenzierterer Perspektive beleuchteten. Die Mehrzahl war von der einseitigen Verurteilung Israels und Solidaritätsbekundungen mit den Palästinenser geprägt, wie das Seminar "Warum eine Schutztruppe für das palästinensische Volk?". Besonders bei den Infoständen des "Village des Associations" und auf der großen Abschlußdemonstration waren das Ausmaß und die Einseitigkeit der Palästina-Soli-Bewegung erschreckend. Betonmauern aus Styropor, Palästinaflaggen und "Boycott Israel"-Plakate dominierten das Erscheinungsbild. Konfrontierte man ESF-Teilnehmer mit der Frage, warum sie Pali-Tuch und "Free Palestine"-Aufkleber trugen, deuteten die Reaktionen eher auf Verwirrung denn auf Judenfeindschaft. Eine junge Aktivistin antwortete beispielsweise, daß sie eigentlich erstaunt sei über die Einseitigkeit, mit der das Thema auf der Demonstration präsentiert werde, und daß kein einziges Plakat gegen den Antisemitismus zu sehen sei. Immerhin habe es ja im Vorfeld Diskussionen über das Thema gegeben. Aber die Medien berichteten ja auch besonders über den israelischen Mauerbau und die Zerstörungen in Palästina. Besonders jüngere Teilnehmer machten den Eindruck, auf der Suche nach politischer Orientierung zu sein und in den von ihnen getragenen Symbolen vor allem den identitätsstiftenden Aspekt und weniger die politische Aussage im Auge zu haben. Dabei werden vereinfachende Welterklärungen und Feindbilder, wie das vom großen (USA) und vom kleinen Satan (Israel), billigend in Kauf genommen. Das Partygefühl in der Demo, etwa beim Absingen von "Viva, Viva, Palästina", drängt die Reflektion komplizierter Zusammenhänge in den Hintergrund. An einem Tag, an dessen Vorabend in Paris eine von Juden geführte Schule niedergebrannt worden war, läßt das zumindest auf die Ausblendung des Antisemitismus in Europa schließen. Auffällig war, daß im Vergleich zu Israel-Palästina sowohl der Irakkrieg als auch alle anderen aktuellen gewaltförmigen Konflikte wesentlich weniger thematisiert wurden. So entstand der Eindruck, ob beabsichtigt oder nicht, daß besonders die israelische Besatzungspolitik ein wesentliches Hindernis für die ‚andere Welt' darstellt. Eine Verurteilung der palästinensischen Selbstmordattentäter suchte man jedenfalls vergebens. Enttäuschend fiel auch die Abschlußerklärung des ESF aus: der Antisemitismus wird nirgends erwähnt, nicht mal in der Passage zum Kampf gegen die extreme Rechte, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Gesteigert wird dieser Eindruck durch die Erlebnisse von Mitarbeitern der Aktion 3.Welt Saar, die beim Verteilen eines Flugblatts für das Existenzrecht Israels mehrfach tätlich angegriffen wurden. Einer von ihnen erhielt daraufhin einen Platzverweis durch den ESF-Ordnungsdienst. Das Flugblatt beschreibt die Bedrohung von Juden im Nahen Osten sowie die versäumten Chancen der Zwei-Staaten-Lösung und kritisiert Arafat als Unterstützer der Selbstmordattentäter. Darüber läßt sich streiten. Aber auf dem ESF werden Tausende von Flugblättern verteilt, die alles andere als differenziert sind. Ein Flugblatt ist offenbar erst dann eine nicht hinnehmbare Provokation, wenn es sich positiv auf Israel bezieht. Die These von der Gefahr eines "Umkippens" der gesamten globalisierungskritischen Bewegung in offenen Antisemitismus, wie sie unter anderem von französischen Intellektuellen wie Alain Finkielkraut vorgetragen wurde, scheint trotz allem überzogen. Allerdings klingt auch die Gegenthese nicht plausibel, wonach die Äußerungen der Bewegung sich in bester antikolonialer Absicht nur gegen das vom israelischen Militär begangene Unrecht richteten. Das Umschlagen der Solidarität mit dem palästinensischen Volk in ein Ressentiment gegen "die Israelis" oder "die Juden" ist zumindest bei einem Teil der ESF-Teilnehmer unübersehbar. Blindheit gegenüber Antisemitismus sollte sich die "Bewegung der Bewegungen" aber nicht leisten, wenn sie sich eine Veränderung der europäischen Politik und Gesellschaft zum Besseren auf die Fahnen schreibt. Es bleibt zu hoffen, daß das bevorstehende Weltsozialforum in Mumbai nicht von ähnlichen Bildern dominiert wird. Aufgrund offen antisemitischer Positionen in Teilen der indischen und asiatischen Bewegungen ist das jedoch leider zu befürchten. Steffen Schülein ist Mitarbeiter im iz3w. Das Europäische Sozialforum Kontext:
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