Den Aufsatz kommentieren Der Abschied einer indischen FreischärlerinZum Mord an der indischen Parlamentarierin Phoolan Devivon Anant Kumar Am Mittwoch, den 25. Juli 2001, wurde die junge Politikerin Phoolan Devi von Gangstern im Tageslicht in der Nähe ihres Hauses in Neu-Delhi erschossen. Damit wurde nach der hinduistischen Karmalehre ein Mörder gemordet. Und ich bin sicher, daß nicht wenige Hindus, u.a. auch die Verwandten Phoolans, danach gesagt haben: "Ach, die Mörderin wurde letztendlich selbst gemordet." Die Frankfurter Rundschau vom 26. Juli 2001 ehrte die Politikerin mit einem freundlichen Bild. Außerdem wurde sie als "Martyrerin" bezeichnet. Als Auslandsinder war ich jedoch vor allem von dem Photo stark beeindruckt, weil ich so ein schönes Bild von Phoolan Devi nicht kannte. Andere Umstände hatten mich in den letzten Jahren von Indien und von den indischen Verhältnissen sehr weit entfernt. Gerade in diesen Jahren hatte sich die Banditenkönigin zur Befreierin und Repräsentantin der niedrigsten und eigentumslosen Kasten entwickelt. Als Schüler sah ich in der indischen Tagespresse in den achtziger Jahren stets nur ein hartes Gesicht von der uniformierten Freischärlerin. Mit der Etikettierung Phoolan Devis als "Märtyrerin", würde ich allerdings sehr vorsichtig sein. Um den Lesern einer funktionierenden, progressiven und reichen Demokratie das verständlich zu machen, finde ich es wichtig, ein paar Einblendungen aus der weniger funktionierenden und weniger progressiven armen Demokratie Indiens zu geben. Der Bundesstaat Uttar Pradesh, die Heimat Phoolan Devis, und der Nachbarbundesstaat Bihar, mein Herkunftsort, sind hinsichtlich Korruption, Kriminalität, Kastenkriege, Armut usw. sehr ähnlich. In diesem Sinne sind Phoolan und ich unfreiwillige Geschwister der Dritten Welt Indiens. Wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere, fällt mir neben Phoolan Devi vor allem eine zweite Dacoitsperson ein, die in den vergangenen Jahren eine gewisse Berühmtheit erlangt hat: Gabbar Singh. Die vielen anderen wurden geboren und dann nach einer Weile erschossen wie temporäre Mafiabosse der Unterwelt - weniger von der Polizei als viel mehr von den verfeindeten kriminellen Lagern. Gabbar Singh, der Antagonist des bisher erfolgreichsten Banditenfilms "Sholey" war in die Alltagswelt jedes Inders eingedrungen. Die Dialoge, die Cinematografie und die Schauer zogen Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene, Reiche und Arme, Rikschafahrer und Lehrer gleichermaßen in ihren Bann. Die Dialoge dieses Filmes wurden zu Sprüchen der indischen Kultur, und sie wurden von Schülern, Kleinbanditen, Möchtergerngangstern täglich rezitiert. Sogar Mütter sollen ihren nörgelnden Sprößlingen heute noch sagen: "Mein kleines Kind, schlaf ein, sonst kommt der Gabbar Singh." Gabbar, der fiktionale Antagonist des indischen Bollywoods, und Phoolan, die reale Protagonistin der untersten Kasten, operierten im Chambalghati, im Tal des Flusses Chambel. Die zahlreichen Schluchten, Hügel und immer wieder dichte Dschungel machen diese Landschaft zu einem der unzugänglichsten Gebieten Nordindiens. Das heißt nicht, daß die anderen Banditen, Gundas (z.B. Stadtganoven) und Dadas (Herrscher eines Stadtviertels) weniger beängstigend waren. Der Alltag kannte die Messerstechereien, wöchentlichen Morde, regelmäßigen Raubüberfälle und nicht selten Vergewaltigung oder Entführung. Wie auch die westliche Presse weiß, wurde all dieses mehr oder weniger von den höheren Kasten dominiert, dirigiert und inszeniert. In meiner Stadt hatten Rajputs (Kriegerkaste), Brahmanen (Priesterkaste) und Brahmanen (Subkaste der Priesterkaste) das Sagen. Die Gangs waren oft untereinander verfeindet, und die Machtverlagerung geschah durch Morde eines Dadas oder eines Gundas. Die Abläufe und Machtrituale ähnelten sich in anderen Städten Nord- und Nordostindiens. Was machte die indische Intelligentia? Die breite Mittelschicht aus Bildungsbürgern - Lehrern, Professoren, Rechtsanwälten, Beamten, Angestellten, Ärzten, Ingenieuren etc. - konzentrierte sich auf sich selbst und auf ihre Kinder. Sie wollte sich gegen diese "Anti-Social-Elements" schützen: Kinder gingen in die Schulen und lernten emsig, Frauen gingen abends nicht alleine in die Stadt, die Nächte galten als gefährlich für jeden, allein schon wegen der zahllosen Straßenüberfälle. Aber das ließ sich schlecht trennen, und es mag hier grotesk klingen, wenn ich Ihnen sage, dass die Hochschullehrer der oberen Kasten gewisse Dadas und Gundas hinter sich hatten, um ihre Macht zu demonstrieren und sie zu mißbrauchen. So wurden die Zulassungsunterlagen für Universitäten immer wieder gefälscht oder die Klausurnoten gegen Geld und Macht verbessert. Ein Politiker konnte ohne Besonderheit selber ein Mörder oder ein Dacoit oder ein Vertreter jener sein. Der Aufstieg Phoolans und ihrer Gleichgesinnten brachte zwei neue Aspekte in dieses Szenario. Die unteren Kasten organisierten sich, schufen sich ein immenses Waffenarsenal, und sie richteten ihre Raub- und Mordattacken gegen die Angehörigen der höheren Kasten. Sie waren noch gezielter, ehrgeiziger und blutiger, zumal eine Minderheit der höheren Kasten jahrhundertelang die Mehrheit der unteren Kasten brutal unterdrückt und unersättlich ausgebeutet hat. Dabei kam ihnen entgegen, daß jetzt auch jede Menge Legislatoren und Abgeordneten aus den unteren Schichten in die Landes- und Zentralregierungen eintraten. Damit war die Bühne der Gewalt und Korruption makellos ausgestattet. Die Nachrichten der Tagespresse berichteten in Hülle und Fülle von Vergewaltigungen, Morden und Raubaktionen seitens der unteren an den höheren Kasten. Und natürlich auch umgekehrt. Als Hauptschüler hatte ich eines erkannt: Als die Mitglieder der mittleren Kasten z.B. die Bania (kaufmännische Kaste) oder auch die Angehörigen der indischen Intelligentia (aller Kasten) die brutalen Morde und Raubrazzien der Unberührbaren moralisch verurteilten, sagte ich: "Die Morde geschahen doch immer schon. Die Vergewaltigungen haben auch immer schon stattgefunden. Wir hatten doch nachts immer Angst vor den Straßenüberfällen! Geändert hat sich nur, daß jetzt auch die Dalits und Harijans zur Waffe gegriffen haben." In den neunziger Jahren wurde Laloo Prasad Yadav Ministerpräsident des Bundeslandes Bihar. Der Abgeordnete ohne Hauptschulabschluß, der Dutzende und noch mehr Strafverfahren gegen sich laufen hatte, wurde von den Yadavs und anderen der unteren Kasten gewählt. In einem beispiellos rasanten Tempo hat dieser Mann das Land ausgebeutet: Es erhöhten sich Bestechungen und Korruptionen in jedem Organ der Landesregierung Bihar amöbenartig. Wegen des Drucks der Zentralregierung und der Aufsichtsbehörden wurden etliche Kommissionen gegen seine unzähligen Korruptionsskandale eingerichtet, und der Ministerpräsident landete hinter Gittern der Untersuchungshaftanstalt. Meinen Sie, daß es danach zu einem Ende der Verbrechen kam? Von wegen! Weiß Gott wie, die Ehefrau des Gefangenen wurde als Interims-Ministerpräsidentin gewählt, und der Dacoit operierte aus seinem Gefängnis heraus ungestört weiter. Schluß:Auf meiner nordamerikanischen Lesereise traf ich an jeder amerikanischen Universität einige indische Studenten. Eines Abends saß ich als Gast unter den vielbegehrten Ingenieuren der Arizona State University. Einige, die Patrioten, waren irritiert, und die weniger patriotisch Gesinnten waren erstaunt, als sie erfuhren, daß ich in Deutsch, also in einer Fremdsprache, denke und Gedichte verfasse. Noch entzückter wurden sie jedoch, als sie von mir erfuhren, daß ich aus dem Bundesstaat Bihar stamme. Sie brachen in Gelächter aus, und sie erzählten mir die neueste Anekdote des Ministerpräsidenten Laloo Prasad Yadav: Die indische Delegation aus Abgeordneten, großen Unternehmern, Staatssekretären befand sich kürzlich in Japan auf einem indisch-japanischen Wirtschaftsgipfel. Bei einer Diskussion unter den Gipfelteilnehmern wurde das Bundesland Bihar erwähnt. Dazu äußerte sich schließlich ein japanischer Unternehmer: "Ich kann nicht verstehen, warum eine so reiche Ecke Indiens weiter bettelarm bleibt. Es gibt da alles: Ein sehr fruchtbaren Boden, so viele Flüsse, die wichtigsten Rohstoffe und Mineralien, auch eine Unmenge an Arbeitskräften, ...! Wir Japaner sollten da investieren, und mit der japanischen Disziplin bringen wir dem Bundesland Bihar innerhalb zwanzig-dreißig Jahren den japanischen Wohlstand! ..." Laloo verstand aus dem japanischen Munde nur das mehrfach wiederholte Wort "Bihar", er frug seinen Dolmetscher, was der Depp eigentlich sagen würde? Der Übersetzer erklärte ihm das wohlgemeinte Vorhaben der Japaner. Laloo hörte aufmerksam zu und schmunzelte. "Sag dem Depp zurück: Die Japaner sollen mir bloß zwanzig Tage geben, und Japan wird wie Bihar aussehen." Na, dann! Der Autor stammt aus Motihari (Indien) und lebt in Kassel. Kontext:
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